Bäume statt Autos: So könnte die nächste Berliner Klimastraße aussehen
In der Hagenauer Straße in Prenzlauer Berg findet man viele Autostellplätze, aber kein Grün. Anwohner fordern, dass sich das ändert. Aber es gibt auch Kritik.

Hundert Autostellplätze, schmale Gehwege und fast kein Grün: Das ist die Hagenauer Straße in Prenzlauer Berg heute. Im Sommer kann sich hier die Hitze stauen. Aber das könnte sich ändern, denn hier soll eine Klimastraße entstehen. Was das ist und wie die Hagenauer Straße gestaltet werden könnte, haben Planer an diesem Sonntag mit Anwohnern diskutiert. Eine Initiative begrüßt das Vorhaben, das zum Vorbild für Berlin werden soll. Doch klar wurde, dass einigen Anliegern die vorgestellten Entwürfe offenbar zu weit gehen. „Alle gehen von der Prämisse aus: Weg mit den Autos“, hieß es.
Wenige Stunden zuvor, am Sonntagvormittag: Julia Gerometta schaut bei den Rotdornbäumchen nach dem Rechten. Die Kübelpflanzen liegen ihr und anderen Anwohnern am Herzen. „Unsere Straße ist die einzige im Kollwitzkiez, die keine Bäume hat“, sagt die Anwohnerin, die seit dem Jahr 2000 hier lebt. Dafür stehen Autos dicht an dicht auf dem Pflaster der knapp 190 Meter langen Straße unweit der Kulturbrauerei.
Die meisten Anwohner wollen Bäume in der Hagenauer Straße
„Im Sommer erleben wir, wie sich die Straße aufheizt. Dann ist es in den Wohnungen nicht zum Aushalten“, so Gerometta. Die parkenden Autos speichern die Wärme. Weil Schatten spendendes Grün fehlt, gibt es kaum eine Chance, der Hitze zu entfliehen.

Die Anwohnerinitiative, zu deren Sprecherinnen Gerometta gehört, möchte das ändern. Seit dreieinhalb Jahren setzt sich die Gruppe dafür ein, dass die nach einer elsässischen Stadt benannten Straße in der nordöstlichen Berliner Innenstadt eine Klimastraße wird. Für die Bürger hat diese Bezeichnung mehrere Bedeutungen. An erster Stelle steht natürlich, dass die Straße mit Bäumen begrünt und ein Teil der Fläche entsiegelt wird, damit Regen im Boden versickern kann und nicht mehr in der Kanalisation verschwindet. „Begrünung und Entsiegelung sind wichtige Ziele für uns“, so Gerometta. „Bei einer Umfrage sprachen sich 85 Prozent dafür aus, dass Bäume gepflanzt werden.“
Aber das Klima ist für die Anwohnerinitiative Klimastraße Hagenauer auch in anderer Hinsicht von Bedeutung. „Uns geht es auch um das zwischenmenschliche Klima“, sagt die Sprecherin. Bislang stünden den Fußgängern nur die Gehwege zur Verfügung. Dagegen dienen 37 Prozent des Straßenraums derzeit dem Abstellen von Autos, die Fahrbahn nimmt 23 Prozent ein. Künftig soll es mehr Platz geben, sich mit Nachbarn auf der Straße zu treffen, sagt Gerometta. Spiel- und Sitzgelegenheiten sollen das fördern.
„Straßen werden heute anders geplant als vor 120 Jahren“
Nicht zuletzt sei auch der Wechsel zu klimafreundlichen Fahrzeugantrieben ein Thema. Heute werden die Autos, die in der Hagenauer Straße stehen, mit fossilen Kraftstoffen betrieben. Ladesäulen für Elektrofahrzeuge fehlen. Auch das soll sich ändern.
Die Bürgergruppe, deren aktiver Kern aus knapp einem Dutzend Menschen besteht, ist eine von vielen Initiativen in Berlin, die in Zusammenarbeit mit dem Bündnis Changing Cities ihre Wohnstraßen angenehmer und zukunftsfähig gestalten wollen. 2021 errang die Initiative einen ersten großen Erfolg, denn die Senatsverwaltung für Mobilität nahm das Pankower Vorhaben in ein Förderprogramm auf. Für zwölf Modellprojekte für den Fußverkehr, wie sie das Mobilitätsgesetz vorsieht, stehen berlinweit insgesamt 29 Millionen Euro zur Verfügung. Die Bezirksverordnetenversammlung Pankow hat das Projekt Hagenauer Straße abgesegnet, nur die AfD stimmte dagegen.
Inzwischen hat das Bezirksamt das Büro bgmr Landschaftsarchitekten und die Ingenieurgesellschaft Prof. Dr. Sieker mit einer Machbarkeitsstudie beauftragt. Am Sonntag stellten Planer nun während eines Workshops im Aedes-Campus am Pfefferberg drei Probeentwürfe vor. „Straßen werden heute anders geplant als vor 120 Jahren“, sagte Carlo Wolfgang Becker von bgmr. Was viele vor allem als Verkehrsweg sähen, müsse unter anderen klimatischen Bedingungen weitere Aufgaben übernehmen. Becker: „Es geht um die Frage: Wie grün soll die Hagenauer Straße werden?“

Das vorgestellte Konzept mit der Nummer 1 sieht weiterhin eine gerade Fahrbahn vor. Doch die Seitenbereiche könnten nur noch vereinzelt zum Abstellen von Autos genutzt werden. Stattdessen säumen neben den Gehwegen Grün- und Versickerungsflächen, die insgesamt 22 Prozent des 3400 Quadratmeter großen Straßenraums einnehmen, mit 26 Bäumen die 3,50 Meter breite Fahrbahn. Ist die Hagenauer Straße derzeit noch zu fast 100 Prozent versiegelt, wäre sie es nach diesem Entwurf nur noch zu 47 Prozent.

Der zweite Probeentwurf sieht dann schon deutlich anders aus. „Wie bei allen Planungen gilt, dass Feuerwehrautos, Möbel- und Müllfahrzeuge weiterhin durchkommen“, erklärte Becker. Auch hier wurden Hofeinfahrten berücksichtigt, auch hier gäbe es genug Platz, damit sich Leiterfahrzeuge der Feuerwehr normgerecht aufstellen können. Doch die Fahrbahn ist gewunden. Die „grünen und blauen Bereiche“ befinden sich versetzt links und rechts davon. Mit ebenfalls 26 Bäumen, Grün- und Versickerungsflächen würden sie 17 Prozent der Straßenfläche einnehmen. Versiegelt blieben 51 Prozent.

Probeentwurf Nummer drei würde die Hagenauer Straße zu einem langgezogenen Platz machen. Viele grüne Inseln, die auch in diesem Fall 26 großen Bäumen Platz schaffen würden, bestimmen auch hier das Bild. Mit insgesamt 24 Prozent wären die grün-blauen Bereiche bei dieser Variante aber am größten, so Becker. 53 Prozent des Straßenraums wären versiegelt, der Rest ließe sich als befestigt einstufen – die dritte Kategorie.
Mehr als 70 Prozent gehen zu Fuß oder fahren Rad
„In allen Fällen haben wir relativ konsequent Stellplätze herausgenommen“, sagte Carlo Wolfgang Becker. Das stimmt: So sind im ersten Entwurf gerade mal Plätze für sechs Autos übrig geblieben. Während des Informations- und Aktionstags im Oktober seien weitere Varianten präsentiert worden, die mehr Stellflächen vorsehen, merkte ein Anwohner während einer ersten Diskussion an. „Wo sind sie geblieben?“ In allen drei Probeentwürfen fielen so gut wie alle Autostellplätze weg, bekräftigte eine Anwohnerin. Dabei besäßen all ihre Nachbarn private Autos. Wo sollen die Fahrzeuge künftig hin?
Der größte Teil der Mobilität in der Hagenauer Straße wird bereits jetzt ohne Motor abgewickelt, entgegnete Carlo Wolfgang Becker. Eine Zählung im Zeitraum von 7 bis 19 Uhr habe ergeben, dass 54 Prozent zu Fuß unterwegs waren, rechnete der Planer vor. Zwölf Prozent fuhren mit dem Fahrrad auf dem Gehweg, sechs Prozent auf dem Kopfsteinpflaster der Fahrbahn. Der Pkw-Verkehr hatte einen Anteil von 23 Prozent.
Die Anwohnerinitiative weiß, dass ihre Ideen in der Nachbarschaft auch auf Skepsis und Kritik stoßen. Natürlich gebe es Autobesitzer, die etwas dagegen haben, wenn viele oder alle Stellplätze wegfielen, sagte Julia Gerometta. „Nach den vorliegenden Daten verfügt aber nur rund die Hälfte der Haushalte über ein Auto“, so die Anliegerin. Täglich benötigt würden die Fahrzeuge in vielen Fällen offenbar nicht. Denn die Zahlen zeigten auch, dass die Hälfte der Autobesitzer ihren Wagen seltener als einmal die Woche nutzen.
Auch Julia Gerometta ist nicht täglich mit ihrem Pkw unterwegs. „Meist braucht unsere Familie das Auto nur am Wochenende“, sagte sie. Für die Gewerbetreibenden könnten Lieferzonen eingerichtet werden. Der Verlust an Autostellplätzen hielte sich im Rahmen. „Im gesamten Kiez wurden rund dreitausend Parkplätze gezählt. Unterm Strich würden rund drei Prozent wegfallen“, rechnete die Sprecherin der Anwohnerinitiative vor.
Die erste Berliner Klimastraße entstand in Friedrichshain
Wolf Sasse vom Straßen- und Grünflächenamt Pankow erinnerte am Sonntag daran, dass es noch ein weiter Weg sei, bis verbindliche Planungen vorlägen. Anders formuliert: Noch stehe nichts fest. „Wir wissen noch nicht, wie es weitergeht“, sagte er. Ein Förderantrag sei zwar gestellt, aber einen Bescheid gebe es bislang nicht. Die jetzige Phase, zu der auch eine Online-Befragung und ein weiterer Diskussionstermin mit den Anwohnern gehört, werde noch bis Sommer dauern, sagte Matthias Pallasch vom Büro Sieker. Er rechnete frühestens für 2024 mit Bauarbeiten. Auch wenn die Hagenauer Straße gerade mal 189 Meter und 70 Zentimeter lang ist: „Es ist ein komplexes Projekt.“
Die erste Klimastraße in Berlin wäre sie übrigens nicht. Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg war auch hier Vorreiter, indem er im Juli 2020 einen Teil der Danneckerstraße im Rudolfkiez für Kraftfahrzeuge sperrte und für Fußgänger öffnete. Fahrräder durften weiterhin fahren. Wo zuvor bis zu 26 Autos standen, ließ das Bezirksamt 20 Kübel mit Bäumen und Sträuchern aufstellen. Anlieger sagten zu, dass sie das Gießen übernehmen.
„Populistischer Aktionismus. Sonst nichts“
Doch der temporäre Pop-up-Fußgängerbereich in der östlichen Innenstadt, der im Wege einer Teileinziehung des Straßenlandes inzwischen dauerhaft geworden ist, stieß damals auch auf Kritik. „Schwachsinn“, rief ein Bürger, der zufällig in die Eröffnungszeremonie geriet. „100 Prozent Bodenversiegelung. Populistischer Aktionismus. Sonst nichts“, hieß es in einem Eintrag bei Twitter. „Diese Klimastraße soll also eine ‚grüne Oase zur Naherholung‘ werden. Sieht für mich eher nach fadenscheinigem Vorwand zur Vergrämung des Autoverkehr aus“, so ein anderer Tweet. Bemängelt wurde auch, dass die Verwaltung anderswo im Bezirk Grünanlagen vernachlässige. „Klimastraße“ hätte gute Chancen, Unwort des Jahres zu werden.
Inzwischen hat der Bund 1,57 Millionen Euro bewilligt, damit im Friedrichshainer Rudolfkiez zwei Klimastraßen eingerichtet werden können. Das Geld steht für die Umgestaltung der Danneckerstraße und der Rudolfstraße im Bereich des Rudolfplatzes bereit. Von den 3200 Quadratmetern im Planungsbereich soll rund 800 Quadratmeter entsiegelt werden. Bänke, Pflanzen und Fahrradbügel werden aufgestellt. Die beiden Projekte sind auf dem Weg, im Bezirk Pankow könnte die nächste Klimastraße folgen.