Mobilitätsgesetz: Das neue Gesetz soll den Berliner Verkehr radikal verändern
Berlin - Es sind 51 Paragrafen, die es in sich haben. Das künftige Mobilitätsgesetz soll den Verkehr in Berlin verändern. Es ergreift Partei für den Radverkehr – so etwas hat es noch nicht gegeben. Doch das Prestigeprojekt der rot-rot-grünen Koalition ruft bei Juristen unterschiedliche Reaktionen hervor. „Der Entwurf verspricht mehr, als er zu halten vermag“, so Klaus Meßerschmidt von der Universität Erlangen-Nürnberg. „Das Gesetz ist im wesentlichen ein Plan und als solcher Vorgabe für weitere Pläne“, schätzt Christian Pestalozza von der Freien Universität (FU) Berlin ein. „Doch der Entwurf geht in die richtige Richtung.“
Der Gesetzesentwurf, den Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne) vorgelegt hat, mutet ziemlich trocken an. Doch wer ihn liest, entdeckt Bestimmungen, die noch für Diskussionen sorgen werden. So soll jede Hauptverkehrsstraße eine Radverkehrsanlage bekommen, breit genug zum Überholen und mit sicherem Abstand zu parkenden Autos. Im Herbst soll die parlamentarische Debatte starten. Ende 2017 könnte das Gesetz verabschiedet werden.
Es sind Situationen wie diese, mit denen sich die Deutsche Gesellschaft für Gesetzgebung befasst. „Gesetze regeln unser Leben“, stellt sie fest. Schlechte Gesetze verfehlen „ihre Absichten, führen zu überflüssigen Kosten und erschweren es dem Bürger, sein Recht zu finden“.
Ein ehrgeiziges Unterfangen
Klaus Meßerschmidt gehört diesem Verband an. Für den 64-Jährigen ist die Gesetzgebungslehre ein wichtiges Thema. Im Staats- und Verwaltungsrecht ist auch Christian Pestalozza zu Hause. „Öffentlich-rechtliche Tagesthemen“ waren eine beliebte Lehrveranstaltung des Berliners, der 1980 an die FU wechselte und 2006 emeritierte. Der 79-jährige Rechtswissenschaftler äußert sich gern zu aktuellen Fragen.
Beide Juristen sind sich darin einig, dass sich der Verkehr ändern muss. Er nutze den Nahverkehr und stehe auch dem Radfahren mit Sympathie gegenüber, schickt Meßerschmidt voraus. „Ich unterstütze auch das Ziel der Zurückdrängung des Autoverkehrs“ – wenn zugleich das Bahnnetz ausgebaut wird.
„Die Zurückdrängung und Entprivilegierung des motorisierten Individualverkehrs sind unausweichlich“, meint Pestalozza. „Öffentliche Verkehrsmittel und Menschen, die nicht-motorisiert unterwegs sind, gehören bevorzugt.“ Allerdings: „Sichere, gemeinverträgliche und effektive Bewegung im öffentlichen Straßenraum in ein Gesetz zu gießen, ist ein ehrgeiziges Unterfangen.“ Zum Mobilitätsgesetz stellt er fest: „Auffällig sind der große Anteil des Entwurfs an Programmen und Zielen – auch an solchen, die sich von selbst verstehen und deswegen allenfalls im Vorspruch eines Gesetzes etwas zu suchen haben.“ Sofort und unmittelbar greifende Regelungen hätten nur einen kleinen Anteil.
Mobilität für alle, Straßen als Orte der Erholung und vieles andere mehr: Der Zielkatalog des geplanten Gesetzes sei „ungewöhnlich lang“, bemängelt Meßerschmidt. Damit ähnele es „dem vor allem in der Rechtsetzung der Europäischen Union verbreiteten Typus des Aktionsgesetzes, welches ein politisches Handlungsprogramm in Gesetzesform fasst“. Es trage auch Züge eines „Symbolgesetzes“. Viele Ziele ließen sich umsetzen, ohne dass dazu ein neues Gesetz nötig wäre.
„Gesetzgebungskultur der DDR“
Manche Bekenntnisse zu Selbstverständlichkeiten, etwa zum Umweltschutz, erinnerten ihn an die Gesetzgebungskultur der DDR. Es gebe Vorschriften, die „extrem vage“ seien – wie die, dass gegenseitige Rücksichtnahme zu fördern sei. Andere seien zu rigide – zum Beispiel die Vorgabe, dass ausnahmslos jede Hauptstraße eine Radverkehrsanlage bekommen soll. Für problematisch hält es Meßerschmidt auch, dass vorgegeben wird, wie groß der Anteil des Radverkehrs künftig sein soll. Dem Entwurf schwebe offenbar eine „Kiez-Radfahreridylle“ vor.
„Das Problem, wie eine umweltverträgliche Mobilität in einer großflächigen Stadt wie Berlin mit ihrem Umland und wie die zunehmenden Pendlerströme bewältigt werden können, wird lediglich pauschal adressiert“, so der Jurist. Ihm fiel auch auf, dass Autos keinen eigenen Abschnitt im Gesetz erhalten sollen.
Mehrwert für alle
„Der Autoverkehr ist bereits umfassend geregelt, zum Beispiel in der Straßenverkehrsordnung, in anderen bundesweit geltenden Regelwerken und im Berliner Straßengesetz“, entgegnet Günthers Sprecherin Dorothee Winden. Auch der lange Zielkatalog sei sinnvoll: „Das hat einen Mehrwert für alle, die sich mit dem Gesetz befassen. Unsere Ziele sind die Basis für alle Planwerke, die auf dem Mobilitätsgesetz aufbauen. Daher ist es wichtig, dass sie gesetzlich verankert sind.“
Von einem Symbolgesetz will man in der Verwaltung nicht sprechen. Enthalten seien „ernstzunehmende Verpflichtungen“. Als Beispiel nennt Winden die Regelung, dass es langfristig keine Unfälle mit schwer Verletzten und Toten mehr geben soll: „Aus der Verankerung der ,Vision Zero’ folgt ein klarer Auftrag an die Planer: Haben wir wirklich alles dafür getan, dass eine Straße, ein Knotenpunkt sicherer wird?“ Mit dem Mobilitätsgesetz reagiere der Senat auf einen weltweiten Trend: die Zunahme des Radverkehrs. „Dem tragen wir Rechnung.“