Mode-Hauptstadt Berlin: Die Geschichte der Modemesse „Berliner Durchreise“
Das Lexikon der Berliner populären Irrtümer hat 240 Seiten, darunter eine zum Thema „Berlin ist keine Mode-Hauptstadt“. Für einen ernstzunehmenden Angriff auf Zentren wie Paris und Mailand gebe die Berliner Mode-Geschichte einfach nicht genug her, heißt es da.
Tatsächlich soll man sich vor Überschwang hüten, wenn es um den Modestandort Berlin geht. Kaum hatte die Senatsverwaltung für Wirtschaft kürzlich unter anderem die Messe Bread & Butter als Beginn der erfolgreichen Geschichte des Modestandorts Berlin gefeiert, da war sie weg. Schon 2015 war sie in die Insolvenz gegangen, im vergangenen Oktober teilte Zalando, neuer Inhaber des Markennamens, mit, man werde die Fachmesse für Alltagskleidung nicht mehr ausrichten. Immerhin stehen wieder Premium (15. bis 17. Januar) und Fashion Week (16. bis 19. Januar) bevor.
Kunstseide für alle
Sie greifen eine aufregende Modegeschichte auf, allerdings mit reduziertem Putz. Der legendäre Berliner Chic, den die Konfektionäre vom Hausvogteiplatz Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts weltberühmt machten, hielt viel von Eleganz, und machte diese vielen zugänglich – statt teurer Seide durfte es gern Kunstseide sein. Heute nennt man das hier Kreierte Berlin Style. Auf diesen passt die Beschreibung „chic“ eher nicht, treffender klingen Adjektive wie unprätentiös, urban, farbdefensiv. Brot und Butter eben. Bloß nicht zu viel stylen. Glamour wird ironisch gebrochen, das Durcheinander regiert – etwas Trash, etwas Glitter, gerne schwarz und unverhohlen Vintage. Berlin Style steht für das Hybride, das Mode-Experten als die wichtigste Daseinsform unserer Zeit beschreiben.
Die Mutter der hiesigen Modemessen entstand schon vor fast 200 Jahren: die „Berliner Durchreise“. Das Name erinnert an den Ursprung der Stadt als Fernhändlersiedlung. Die lebte von der Durchreise. Das Privileg der Niederlage – durchreisende Händler hatten am Spreeufer ihre Waren niederzulegen und für eine bestimmte Zeit anzubieten – begründete den frühen Reichtum der Stadt, die folgerichtig im 14. Jahrhundert zur Hansestadt aufstieg (Ausschluss 1518).
Die ersten regulären „Berliner Modewochen“
Im 19. Jahrhundert schauten dann Tuch- und zunehmend Kleiderhändler regelmäßig in Berlin vorbei und kauften ein: in den Tuchfabriken, die vorwiegend im Berliner Süden lagen, in den Schneidereien oder bei den ersten Konfektionären. Diese Durchreisenden waren zum Beispiel Hamburger, die von der Leipziger Messe oder ihren Geschäftstouren zu den Tuchmachern in Süddeutschland, Thüringen oder Schlesien heimkehrten.
Zu den Transitgästen gehörten auch russische Aristokraten samt Frauen und Töchtern auf dem Weg in die Sommerfrische in den französischen Seebädern. Sie entdeckten, dass man sich in Berlin neu einkleiden konnte – und zwar weit günstiger als in Paris. Das setzte ein gewisses Niveau von Chic voraus. Feste Termine gab es für die Messe der Durchreisenden nicht. Auch besichtigte man keine Musterstücke und bestellte für die spätere Lieferung, sondern nahm, was es gab und gefiel. Das änderte sich 1918, als zum ersten Mal im Februar und August reguläre „Berliner Modewochen“ stattfanden. Dabei umwarben die hiesigen Konfektionäre die Einkäufer nach allen Regeln des Gewerbes: Das Fachjournal „Der Confectionair“ veröffentlichte „Fremdenlisten“ mit den Namen der Händler; die Konfektionsfirmen konnten die Datensätze abonnieren und so erfahren, wer in welchem Hotel logierte und diesem Agenten Angebote schicken.
Abgeschnitten von der Pariser Inspiration
Melanie Mengay hat in ihrem Beitrag zu dem Buch „Brennender Stoff“ beschrieben, welchen Aufwand Berlin betrieb, um den Schritt von der Stadt der Hersteller zur Messestadt zu schaffen. Schon früher hatten die Konfektionäre, jeder für sich, Kontakte nach England, Frankreich und – immer wichtiger – Amerika geknüpft.
Als sie sich zusammentaten und Vertreter verwandter Branchen hinzukamen, wurden sie stark: 1914 entstand der Verband zur Förderung der deutschen Hutmode, im folgenden Jahr der Verein deutsches Mode-Museum e.V., beide gingen 1916 im Verband der deutschen Modeindustrie auf. Als neuer, umtriebiger Typ Modeförderer trat exemplarisch der Kunsthistoriker Peter Jessen auf: Er war Direktor des Berliner Kunstgewerbemuseums, brachte die tonangebende Modezeitschrift Styl heraus, betrieb die Gründung des Vereins Mode-Museum, gehörte dem Deutschen Werkbund an, dem landesweiten Kreativlabor zur „Veredelung der gewerblichen Arbeit“.
Obendrein motivierte der Nationalismus in jenen Jahren die Modeförderer. Zwar stand das Verhältnis zwischen Paris und Berlin immer unter Spannung – hier der Quell neuer Trends und Modelle, da die kreativen Kopierer, die das in Paris Gesehene „anpassten“. Nun war Krieg, und der Ehrgeiz wuchs, unabhängiger von Frankreich zu werden. Faktisch war Berlin von den Pariser Inspirationen abgeschnitten.
Show in der Schweiz
Den großen internationalen Auftritt brachte der Deutsche Werkbund 1917 zuwege. Während auf den Schlachtfeldern die Soldaten an erstarrten Fronten starben, zeigten im schweizerischen Bern Mannequins der Welt Berliner Chic aus 25 deutschen Modehäusern. Bälle und Vorträge begleiteten die Modenschauen. Die Organisatoren fanden die Vorführungen „gewissermaßen im Vorzimmer Frankreichs“ sehr „verführerisch“. Ein Riesenerfolg, mit dem die Berliner Modeindustrie in ihre rauschenden Jahre startete.
Dem Berliner Chic entzog die nationalsozialistische Regierung nach 1933 mit der Auslöschung der jüdischen Konfektionshäuser die Frischluftzufuhr. Der Versuch, nach 1945 in West-Berlin die Konfektionstraditionen neu zu etablieren, führte zum Beispiel zu den mit 700 Nähmaschinen ausgestatteten Werkstätten im DOB- Hochhaus (DOB, Damenoberbekleidung) am Hardenbergplatz. Diese Phase endete abrupt mit dem Mauerbau: Die billigen Näherinnen aus dem Ostteil kamen nicht mehr.
Doch die Berliner Durchreise lebt weiter, es kennt sie bloß kaum jemand außerhalb der Fachkreise: Die Messe versuchte 1950 den ersten Neustart, 1982 unter dem Namen „interchic“ den nächsten. Seit 1987 heißt sie wieder „Durchreise“.