„Mutterns Hände“: Ein Loblied auf die Berliner Mütter
Einst lobten sogar Dichter die Berliner Mütter mit ihrem praktischen Sinn und ihrer Güte. Heute erfolgt ein letzter Gruß des Autors an seine eigene Mutter.

Als Schüler beeindruckte mich einst das Berliner Gedicht „Mutterns Hände“, das wir lernten. Es stammt von Kurt Tucholsky. Darin heißt es: „Hast uns Stulln jeschnitten/ un Kaffe jekocht/ un de Töppe rübajeschohm –/ un jewischt und jenäht/ un jemacht und jedreht .../ alles mit deine Hände.“
Auch wenn es hier um ganz Praktisches geht, steckt doch sehr viel Liebe in diesem Gedicht, das Tucholsky Millionen von Müttern widmete. Das war 1929, in einer absoluten Notzeit, in der Mütter buchstäblich dafür sorgen mussten, ihre Familien „durchzubringen“.
Bei diesem Gedicht muss ich an meine eigene Mutter denken. Sie war eine zugewanderte Berlinerin. 1945 hatte sie ihren Geburtsort Drossen östlich der Oder – im heutigen Polen – plötzlich verlassen müssen. Sie war gerade sieben Jahre alt. Mit ihren drei Geschwistern und ihrer schwer kranken Mutter kam sie nach langem Irrweg nach Berlin-Köpenick. Dort starb die Mutter – und die Kinder waren Waisen. Der Vater war im Krieg vermisst.
Die Kinder hatten riesiges Glück im Unglück. Eine fremde Frau nahm alle vier in Pflege und zog sie groß. Ihr praktischer Sinn, ihre Güte und Großherzigkeit haben meine Mutter sehr geprägt. Zugleich war der Alltag hart. Sie wohnten auf einem großen Grundstück an den Püttbergen in Rahnsdorf. Und sie versorgten sich großenteils selbst. Alles war knapp, Kleidung, Nahrung und Pflegegeld.
Tausend Dinge waren zu tun. Ziegen waren zu hüten, Bäume zu pflanzen, Beete zu pflegen, Gemüse und Obst zu ernten, Schuppen und Stall zu bauen, Saatgut zu holen, das Windrad des Brunnens zu reparieren, Kleidung zu nähen, Geschwister zu trösten. Später war die kranke Pflegemutter zu betreuen neben Ausbildung und Beruf. Was meine Mutter lernte und was ihr widerfahren war, beeinflusste alles, was folgte.
Es prägte ihr Leben in der eigenen Familie mit Mann, Kind, Enkelinnen und Urenkelin. Und es prägte auch ihren Beruf als Lehrerin. Noch Jahre später besuchten sie ehemalige Schülerinnen und Schüler oder sprachen gern mit ihr, wenn sie sie trafen. In ihrem praktischen Tun ähnelte meine Mutter jener aus Tucholskys Gedicht. Aber sie drückte dabei immer auch offen aus, was sie fühlte, wie sie einen mochte.
Sie war ein „absoluter Engel“, sagte der aus Indien stammende Partner ihrer Enkelin, „sehr zugewandt“. Eine ihrer engen Freundinnen sagte: „Sie hat immer das Allerbeste gegeben und getan, das ihr möglich war.“ Auch ich, ihr Kind, kann das sagen. Wir hatten eine sehr innige Beziehung.
Meine Mutter ist vor einigen Tagen verstorben. Ganz plötzlich. Wie es einem damit geht, weiß jeder, der jemanden sehr Nahestehenden verloren hat. Auch deshalb habe ich es geschrieben, stellvertretend für alle, die dieses Jahr eine solche Erfahrung machen mussten.
Meine Mutter liebte die Dichterin Mascha Kaléko, die einst auch in Berlin lebte. Sie zitierte immer wieder deren Gedicht, an dessen Ende es heißt: „Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur,/ Doch mit dem Tod der andern muss man leben.“