Nach Blockade der A100: Berliner Gericht verurteilt Klima-Aktivisten

Nils R. klebte sich auf der Autobahn fest. Weil es Stau gab, sprach das Amtsgericht ihn der Nötigung schuldig. Es ist das erste Urteil in einem solchen Fall. 

Eine von vielen Aktionen dieser Art: Demonstranten blockieren eine Ausfahrt der A100 in Berlin.
Eine von vielen Aktionen dieser Art: Demonstranten blockieren eine Ausfahrt der A100 in Berlin.dpa/Paul Zinken

Sie nennen sich „Aufstand der letzten Generation“. Mit Straßenblockaden und anderen Aktionen dieser Art demonstrieren junge Menschen gegen die Bundesregierung, die ihrer Auffassung nach nicht genug gegen die Erderhitzung unternimmt. Jetzt stand erstmals einer der Klimaaktivisten vor Gericht. Nils R. hatte sich Ende Juni an einer Auffahrt zur Autobahn A100 auf der Fahrbahn festgeklebt.

Das Amtsgericht Tiergarten sprach den 20 Jahre alten Philosophie-Studenten aus Leipzig der Nötigung schuldig und verurteilte ihn nach dem Jugendstrafrecht zu 60 Stunden Freizeitarbeit. Der Termin ist der Auftakt zu weiteren Gerichtsverhandlungen dieser Art. Die nächste folgt am Donnerstag.

„Es tut mir leid, dass wir stören müssen“, sagt Nils R. im Saal B219 bedauernd. „Aber wir müssen stören.“ Der menschengemachte Klimawandel führe zu Dürren, Hungersnöten, Flutkatastrophen, klagt er. „Doch die Bundesregierung handelt nicht.“ Nicht einmal ein Tempolimit auf den Autobahnen sei möglich. Er habe lange in „angenehmer Ignoranz“ gelebt, sagt der junge Mann in der braunen Cargohose. „Doch ich wollte nicht weitermachen wie bisher.“

Für den Notfall eine Rettungsgasse

Und so schritt Nils R. mit sechs anderen Mitgliedern der Letzten Generation am Morgen des 29. Juni zur Tat. Dort, wo in Charlottenburg Nord die Seestraße in die Autobahn A100 übergeht, stellten sich die jungen Leute dem Berufsverkehr in den Weg. Fünf Demonstranten, unter ihnen Nils R., klebten sich auf der Fahrbahn fest. Zwei Demonstrantinnen setzten sich neben ihnen auf die Straße. Diese beiden Frauen nutzten den Sekundenkleber, den die Gruppe mitgebracht hatte, allerdings nicht. Weil sie die Fahrbahn rasch für eine Rettungsgasse freimachen wollten, wenn sich ein Rettungswagen oder ein anderes Einsatzfahrzeug nähern sollte.

Die Verbindung der am stärksten befahrenen Autobahn Deutschlands mit dem übrigen innerstädtischen Straßennetz von Berlin war unterbrochen – ab 8.00 Uhr, wie die Polizei protokollierte. Nach ein paar Minuten wurden die Frauen, die sich nicht festgeklebt hatten, von der Fahrbahn geräumt. Dadurch war zumindest einer der drei Fahrstreifen wieder frei, und der Kraftfahrzeugverkehr kam wieder in Gang. Trotzdem gab es Stau.

„Er macht einen ruhigen Eindruck“

Die Blockade war eine von rund 200 Aktionen dieser Art, mit denen die Letzte Generation bislang auf sich aufmerksam gemacht hat. „150 fanden in Berlin statt. Weil hier die Bundesregierung sitzt“, sagt Carla Hinrichs, die Sprecherin des Zusammenschlusses. Auch sie ist am Dienstag in das größte deutsche Amtsgericht gekommen, einen düsteren Bau in der Wilsnacker Straße in Moabit.

„Vor einigen Monaten hätte ich mir nicht vorstellen können, vor Gericht zu stehen.“ So beginnt die Erklärung, die Nils R. zu Beginn der Gerichtsverhandlung verliest. Etwas später wird die Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe einen Eindruck davon geben, um wen es sich bei ihm handelt. R. wuchs mit zwei Geschwistern in der Nähe von Essen auf, seine Eltern sind Juristen.

Seit dem vergangenen Herbst studiert der junge Mann Philosophie in Leipzig, wo er in einer Wohngemeinschaft lebt. Sein Wahlfach ist Kulturwissenschaften. R. könne sich vorstellen, eine Karriere an der Universität zu beginnen oder journalistisch zu arbeiten, hieß es. Der Angeklagte hat als Kassierer im Supermarkt gearbeitet und bei einer Tafel, die Menschen mit Lebensmitteln versorgt. R. wird von seinen Eltern mit 850 Euro im Monat unterstützt. „Er macht einen ruhigen Eindruck“, sagt die Frau von der Jugendgerichtshilfe. Und seit einiger Zeit beschäftigt er sich mit dem Klimawandel.

Im Saal B219 des Amtsgerichts Tiergarten: Strafverteidiger Lukas Theune (2. v. r.) berät sich mit seinem Mandanten, dem 20 Jahre alten Klimaaktivisten Nils R.
Im Saal B219 des Amtsgerichts Tiergarten: Strafverteidiger Lukas Theune (2. v. r.) berät sich mit seinem Mandanten, dem 20 Jahre alten Klimaaktivisten Nils R.dpa/Bernd von Jutrcenka

Gut möglich, dass Nils R. am Dienstag auch in Sachen Rechtsphilosophie etwas gelernt hat. Denn der Vorsitzende Richter Günter Räcke und Strafverteidiger Lukas Theune aus Berlin verwandeln die für eine Jugendstrafsache ungewöhnlich lange Verhandlung in eine Grundsatzdiskussion, die trotz mancher Längen und unnötiger Spitzen interessant ist. Wo beginnt Gewalt? Darf man Autofahrer aufhalten, wenn es darum geht, das Klima, die Natur, die Menschen zu retten? Darf ein Gericht das Ziel einer Aktion bewerten?

Der verursachte Stau an jenem Mittwochmorgen habe dazu geführt, dass Autofahrer 20 bis 30 Minuten „gefangen waren“, sagt der Vorsitzende Richter, als er rund drei Stunden nach Verhandlungsbeginn sein Urteil begründet. Zwar war ein Fahrstreifen bald wieder frei, nachdem Polizisten die beiden Frauen weggetragen hatten. „Doch morgens auf der Stadtautobahn hilft das nicht viel.“ Ein Stau entstand, bei dem viele Kraftfahrer lange Zeit weder vor- noch zurückfahren konnten. Sie hatten es mit Gewalt im Sinne des Nötigungsparagrafen im Strafgesetzbuch zu tun.

Auch der Richter findet den Klimawandel beängstigend

„Niemand darf andere zu Werkzeugen der Druckerzeugung machen, um politische Forderungen durchzusetzen“, sagt der Richter. Artikel 8 des Grundgesetzes, in dem es um die Versammlungsfreiheit geht, gebe keinem das Recht, andere Grundrechtsträger zu beeinträchtigen – zum Beispiel indem man sie an der Fortbewegung hindert. „Fernziele“ wie der Kampf gegen die Klimakatastrophe dürften bei der gerichtlichen Bewertung keine Rolle spielen, stellt der Jurist fest. „Das Gericht darf diese Ziele nicht bewerten, es hat auch keinen Maßstab dafür.“ Auch er finde den Klimawandel „beängstigend“, aber es müsse andere Wege geben, um Veränderungen zu erreichen.

Das sieht Strafverteidiger Lukas Theune anders. Er plädiert auf Freispruch. Die Bundesregierung weigere sich, notwendige Beiträge zum Klimaschutz zu leisten, sagt er. „Es ist wichtig, darauf entschlossen zu reagieren.“ Mehr als eine halbe Stunde braucht der Jurist, um seinen später zurückgewiesenen Antrag auf ein Sachverständigengutachten umfangreich zu begründen. Johan Rockström vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung soll die Expertise erstatten.

Plötzlich stehen Themen wie Jahrhunderthochwasser und hitzebedingte Sterbefälle im Raum, auch Waldbrände und das Schicksal küstennaher Gebiete angesichts einer Anhebung des Wasserstands um 15 Zentimeter. Im abgeschotteten Ambiente des Gerichtssaals geht es darum, dass Deutschland fünf Prozent zum weltweiten Kohlendioxidausstoß beiträgt, aber nur 1,1 Prozent der Weltbevölkerung repräsentiert. „Deutschland ist der sechstgrößte Emittent“, sagt Theune. Anhand des beantragten Gutachtens werde das Gericht zu dem Schluss kommen, dass Aktionen wie die Blockade der A100 am 29. Juni ein wichtiger Beitrag seien, um Deutschland zur Einhaltung völkerrechtlicher Verträge zum Klimathema zu bewegen, so der Strafverteidiger.

„Stop-and-go ist morgens auf der Stadtautobahn normal“

Von Gewalt könne keine Rede sein, stellt Theune fest. Die „wenigen Minuten“ Störung hätten die Schwelle nicht überschritten. „Es gab eine Verzögerung. Aber Stop-and-go ist morgens auf der Stadtautobahn normal.“ Die Autos hätten sich langsam bewegen können, eine Rettungsgasse stand zur Verfügung. Die Blockade sei keine Nötigung gewesen, so das Resümee des Strafverteidigers.

Der Staatsanwalt beantragt, Erwachsenenstrafrecht anzuwenden. Er beantragt, den  Strafbefehl, gegen den Nils R. Einspruch eingelegt hatte, von 30 auf 50 Tagessätze à 30 Euro aufzustocken. Doch der Vorsitzende Richter wendet das Jugendstrafrecht an. Der Angeklagte habe in „jugendlicher Aufgeregtheit“ gehandelt, erklärt Räcke. Es sei zu hoffen, dass er die Rechtswidrigkeit seines Tuns verstanden habe.

Die Mitglieder der Letzten Generation, die ins Amtsgericht Tiergarten gekommen sind, machen allerdings nicht den Eindruck, als ob es keine Aktionen mehr geben wird. „Wir werden weiterhin Widerstand leisten, weil wir keine andere Wahl haben“, hat Carla Hinrichs, die Sprecherin der Letzten Generation, vor der Verhandlung gesagt. Die Zahl der Mitglieder sei seit Jahresbeginn von rund 30 auf 500 gestiegen. Die Verurteilung werde sie nicht von neuen Aktionen abhalten. Nils R. habe vor Gericht gestanden, weil er „sein Recht auf Leben wahrnehmen wollte“, ist Carla Hinrichs überzeugt.

Berliner Staatsanwalt hat mehr als 110 Strafbefehle beantragt

Bis Donnerstag hat die Berliner Staatsanwaltschaft 116 Strafbefehle gegen Teilnehmer an Blockaden beantragt, sagte Justizsprecherin Lisa Jani. Davon hätten Richter in 66 Fällen tatsächlich bereits Strafbefehle erlassen. Gegen 24 wurde bereits Einspruch eingelegt, bei anderen laufe die Frist noch. „Wir werden in jedem Fall Einspruch einlegen“, so Carla Hinrichs. Sie rechnet mit vielen weiteren Gerichtsverhandlungen. Die nächste sollte  bereits am 1. September folgen. Ab 10 Uhr sollte sich der 59-Jährige Martin W., der an drei Straßenblockaden in Berlin teilgenommen hat, vor dem Amtsgericht Tiergarten verantworten. Für ihn gilt das Erwachsenenstrafrecht. Doch weil ein Beteiligter erkrankt ist, wurde der Termin aufgehoben. Ein neuer Zeitpunkt ist noch nicht in Sicht.