Nach Böllerwürfen auf ein Polizeiauto in Neukölln stehen zwei Männer vor Gericht

Die Taten ereigneten sich 2021 in der Sonnenallee. Vor Gericht zeigt sich, welchen Wert die Berliner Justiz diesem Fall beimisst.

Die Angeklagten Ibrahim und Omar M. vor dem Beginn der Verhandlung vor dem Amtsgericht Tiergarten.
Die Angeklagten Ibrahim und Omar M. vor dem Beginn der Verhandlung vor dem Amtsgericht Tiergarten.BLZ

Franziska Giffey, die Regierende SPD-Bürgermeisterin von Berlin, forderte nach den Silvesterkrawallen schnelle Strafen. Unmittelbar. Auf dem Fuße folgend. Wie das in Berlin aussieht, kann man aktuell am Amtsgericht Tiergarten sehen.

Der 26-jährige Ibrahim M. und sein 22-jähriger Bruder Omar sollen am 29. Dezember in der Sonnenallee zwei illegale Böller auf ein Polizeiauto geworfen haben. Allerdings geschah dies nicht im vorigen Monat, sondern am 29. Dezember 2021.

Am Donnerstag begann gegen die beiden Neuköllner der Prozess vor dem Amtsgericht. Ihnen wird tätlicher Angriff auf einen Amtsträger, gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr und Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz vorgeworfen.

Gehüllt in Daunen-Anoraks und in Jogginghosen sitzen sie auf ihren Stühlen und schauen ausdruckslos geradeaus. Die Staatsanwältin ist nicht selbst erschienen, sondern hat eine Referendarin geschickt, die die Anklage verliest und später die Angeklagten vernimmt. Das zeigt, welchen Stellenwert die Berliner Justiz diesem Fall beimisst.

Man erfährt, dass Ibrahim M., geboren in Stralsund, Staatsbürgerschaft deutsch, eine Freundin und zwei kleine Kinder hat. Einen Beruf hat er nicht erlernt. Zu den staatlichen Leistungen, die er bezieht, verdient er 450 Euro bei einem Sicherheitsdienst hinzu. Omar, geboren in Berlin, Staatsbürgerschaft deutsch, ist kinderlos, ohne erlernten Beruf, lebt von Hartz IV. Beide sind vorbestraft.

Aus einem Fenster im 2. Stock an der Neuköllner Sonnenallee hätten sie drei angezündete pyrotechnische Gegenstände auf den mit Polizeibeamten besetzten vorbeifahrenden Einsatzwagen geworfen, liest die Anklagevertreterin vor. Diese hätten das Auto nur knapp verfehlt und seien mit lautem Knall und starker Rauchentwicklung explodiert. Die Angeschuldigten hätten billigend in Kauf genommen, dass es dadurch „zu schreckbedingten Fehlreaktionen“ des Fahrers mit Sach- und Personenschäden kommen könnte.

„Nach einem Jahr weiß ich das nicht mehr genau“

Osama A. hat alles gesehen. Der 42-Jährige kam 2016 als Flüchtling aus Syrien und spricht noch kein Deutsch. Deshalb sitzt neben ihm eine Dolmetscherin, die aus dem Arabischen und zurück übersetzt. „Ich grüße das Gericht“, sagt er. Und erzählt, wie er vor einem Laden geparkt habe, um einzukaufen. Der Knall sei unglaublich laut gewesen. Die Kinder auf der Straße hätten geweint, auch seine ganz kleine Tochter. „Dann landete noch ein Böller vor dem Auto. Ich sah zwei Personen am Fenster. Sie warfen diese Sachen. Was mich am meisten störte, war, dass sie gelacht haben.“

Zeuge, Anklage und Verteidigung stehen nun am Richtertisch und schauen sich ein Google-Maps-Foto an. Ein altes Bild, das Geschäft für Herrenhemden existiert nicht mehr. Kamen die Böller aus dem Fenster in der Mitte? Vielleicht doch aus dem 1. Stock? „Sie hatten der Polizei erklärt, dass es der 2. Stock war“, sagt der Richter. „Das kann sein“, sagt der Zeuge. „Nach einem Jahr weiß ich das nicht mehr genau.“

Einer der beiden habe die Böller mit seiner Zigarette angezündet, hatte er vor einem Jahr der Polizei gesagt. Jetzt weiß er das nicht mehr. Der Polizei hatte er auch gesagt, dass ein Böller vor und einer hinter das Polizeiauto geworfen wurde. „Ich kann es nicht so bestätigen, weil es über ein Jahr her ist“, sagt er.

Das Polizeiauto sei etwa hundert Meter weitergefahren und habe dann gehalten, sagt Osama A. Er lief hin. Zeigte den Polizisten, von wo die Böller kamen, wobei seine größere Tochter ins Deutsche übersetzte. Sie hat für ihn auch in der polizeilichen Vernehmung gedolmetscht. Was sie übersetzte, hat er auch unterschrieben. Das soll auch erklären, dass Osama A. heute andere Angaben macht.

Zu schlechte Gesetze, um ein neues Krawall-Silvester zu verhindern

Inzwischen ist die Tochter 16 und spricht Arabisch immer noch besser als Deutsch, weshalb auch sie die Dienste der Dolmetscherin in Anspruch nimmt. Sie sagt, dass sie im Auto saß und auf das Handy schaute. Sie könne sich nicht richtig erinnern, weil es schon ein Jahr her sei. Im Gegensatz zu ihrem Vater, der geparkt haben will, erinnert sie sich, man habe nicht geparkt, sondern im Stau gestanden.

Verhandlungspause. Auf dem Flur knipsen Ibrahim und Omar ein Grinsen an, das ihre bis eben noch ausdruckslosen Gesichter belebt. Sie scherzen, machen sich über die Zeugen lustig. Nein, reden wollen sie nicht über sich. Man solle sie in Ruhe lassen. Aber sie wirken entspannt. Es ist nicht ihr erstes Mal bei Gericht.

Und sie haben wohl auch nicht viel zu befürchten. „Es dürfte ausgeschlossen sein, dass die Detonation eines Böllers, selbst wenn dieser unmittelbar auf dem Auto landet, dazu geeignet ist, Insassen zu verletzen“, sagt Ibrahims Verteidiger Ehssan Khazaeli zum Vorwurf des tätlichen Angriffs auf Amtsträger. Außerdem setze ein tätlicher Angriff eine unmittelbar auf den Körper zielende Einwirkung voraus. „An dieser Unmittelbarkeit fehlt es, wenn sich der Polizist im Auto befindet.“ Für den Verteidiger zeigt der Fall, dass nicht alles, was zu Silvester passiert ist, mit dem aktuellen Strafrecht greifbar sei, „dass wir sehr schlechte und schwache Gesetze haben“. Es brauche möglichst starke Gesetze, damit das, was vor einem Monat zu Silvester passierte, sich nicht wiederhole.

Explodierten die Böller links oder rechts? Nah dran oder weit weg?

Die Zeugen, die nun folgen, sagen Dinge, die die Staatsanwaltschaft nicht gerne hören wird. Für die Durchsuchung der Wohnung, aus der die Böller geflogen sein sollen, habe man auf zusätzliche Kräfte gewartet, sagt einer der drei Insassen des Polizeiautos. „Welches Ergebnis hatte die Durchsuchung?“, fragt der Richter. „Daran kann ich mich nicht erinnern.“ – „Nach was wurde gesucht?“ – „Nach Böllern.“ – „Wurde was gefunden?“ – „Das ist schon lange her.“

Der Polizist erzählt, dass der Verkehr auf der Sonnenallee stockte und man Schrittgeschwindigkeit fuhr. Selbst wenn der Fahrer vor Schreck das Steuer verrissen hätte, wäre es wohl zu keinem schweren Unfall gekommen, wie die Anklageschrift insinuiert.

„Bitte nicht anlehnen, ich versuche auch gerade zu sitzen!“, ermahnt der Richter den Angeklagten Ibrahim M., der sich auf dem Stuhl lang gemacht hat.

Immer wieder wird die Frage erörtert, wie zielgerichtet die Böllerwürfe waren, ob die Knaller am Boden oder in der Luft explodierten, wie nah oder fern vom Auto, ob links oder rechts davon, wie laut es knallte. Wie weit war der Böller weg, als er neben dem Auto explodierte? Der Polizist überlegt. Hinten links. Drei bis fünf Meter. Der Zeuge darf gehen.

Auch mit den Entfernungen ist das beim Erinnern so eine Sache

Jetzt ist der Teamführer dran, der die Durchsuchung leitete. Von den Böllerwürfen bis zur Durchsuchung habe es etwa eine halbe Stunde gedauert, sagt er. Der Staatsanwalt musste erst sein Okay geben. Außerdem waren nicht genügend Einsatzkräfte da. Im regenfeuchten Hof fanden die Beamten viele nicht gezündete illegale Böller. Sie waren trocken, einige noch in Verpackungen. Jemand hatte sie weggeworfen – vielleicht als alle auf die Durchsuchung warteten.

Der dritte Polizist war Beifahrer und kann auch nicht mehr sagen, ob der oder die Böller hinter oder vor dem Polizeiauto detonierten. Vor Schreck das Lenkrad zu verreißen war nach seiner Schilderung nicht möglich. In der polizeilichen Vernehmung hatte er geschrieben: „Da wir im Stau standen, wurde der Fahrzeugführer nicht in seinem Fahrverhalten beeinträchtigt.“

Auch mit den Entfernungen ist das beim Erinnern so eine Sache. Osama A. berichtet, das Auto sei hundert Meter weitergefahren. Der Beifahrer spricht von fünf bis zehn Metern.

Die Verhandlung sollte eigentlich einen Tag dauern. Doch der Fahrer des Streifenwagens ist verhindert. Er soll nun im Februar gehört werden.