Nach dem Beben: Etliche Menschen bringen Spenden – vor allem für die Türkei

Viele Berliner aus türkischen oder syrischen Familien bangen um ihre Angehörigen. Doch die Lage in den beiden Ländern unterscheidet sich.

Im Konservatorium für türkische Musik in Kreuzberg: Helferinnen und Helfer packen Notpakete. 
Im Konservatorium für türkische Musik in Kreuzberg: Helferinnen und Helfer packen Notpakete. Markus Waechter/Berliner Zeitung

Ilaya Sarigül schleppt drei Säcke mit warmer Kleidung und Babynahrung von der U-Bahn-Station Gneisenaustraße durch den Bergmannkiez. Die 17-Jährige hat auf Instagram gelesen, dass im Konservatorium für türkische Musik an der Bergmannstraße Sachspenden für die Opfer der Erdbebenkatastrophe im Süden der Türkei abgegeben werden können. 

Den eigenen Verwandten gehe es gut, sagt sie. In den Augen der 17-Jährigen blitzt nach den erleichterten Worten dennoch Entsetzen auf, sie ergänzt: „Mir ging es richtig schlecht, nachdem ich die ersten Bilder gesehen habe.“

Ihre Familie durchsuchte Schränke nach warmer Kleidung, kaufte Milchpulver für Babys und verstaute die Spendengüter in drei riesigen Säcken. Sarigül schleppt sie nun in ihrer Mittagspause zwischen Berufsschule und Arbeit zum Konservatorium. Das Konservatorium hat sich innerhalb eines Tages von einer Lehreinrichtung in ein Spendenlager verwandelt. Helfer in Warnwesten stehen am Eingangstor. Sie fragen die Spender nach dem Inhalt der Kartons, Tüten und Taschen.

Freiwillige bilden im Gebäude des Konservatoriums eine Kette. Sie reichen die Kartons weiter. Die Unterrichtsräume sind bis an die Decke mit Säcken gefüllt. Kisten stapeln sich in den Fluren. Es scheint, als wären Katastrophenhelfer mitten in Berlin im Einsatz. Doch die Frauen und Männer in Warnwesten sind alles Freiwillige. Sie waren mit ihrem Alltag beschäftigt, bis am Montagmorgen die neue Woche mit den Schreckensbildern aus der Türkei und Syrien begann.

Halime Karademirli, die Leiterin des Konservatoriums, die jetzt die Hilfe koordiniert
Halime Karademirli, die Leiterin des Konservatoriums, die jetzt die Hilfe koordiniertMarkus Waechter/Berliner Zeitung

Sesamkringel und Wasserflaschen stehen für die Helfer im Büro der Konservatoriumsleiterin Halime Karademirli bereit. Sie hat eine Nacht mit wenig Schlaf hinter sich. „Wir haben gestern bis 20 Uhr Spenden angenommen und dann habe ich bis kurz vor 23 Uhr mit sortiert und eingepackt“, sagt sie. Andere Freiwillige hätten noch bis in die frühen Morgenstunden weitergemacht. „Sie haben sich dann in der Schule ein oder zwei Stunden aufs Ohr gelegt.“

Spendenaufruf verbreitete sich sehr schnell

Karademirli erzählt, dass sie sich mit einem Spendenaufruf zunächst an die Eltern ihrer Schüler gewandt habe. Doch der Aufruf habe sich über die sozialen Medien lawinenartig verbreitet. Es seien nicht nur Menschen türkischer Herkunft unter den Helfern und Spendern. Viele Menschen spürten jetzt den Impuls, mit eigenen Händen etwas zu tun. „Die Welt spielt verrückt. Es gibt es Krieg und jetzt auch noch das Erdbeben“, sagt sie.

Die Geschäftsführerin stammt aus der Provinz Uşak unweit der Ägäis. Die Region ist einige Hundert Kilometer entfernt von der Katastrophenregion an der Grenze der Türkei zu Syrien. Sie habe aber keinen Kontakt mehr zu einem ehemaligen Schüler, der in Grenzprovinz Hatay lebt, meint sie. 

Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass 23 Millionen Menschen in der Türkei und in Syrien von der Katastrophe betroffen sind. Hinzu kommen Menschen wie Halime Karademirli in Berlin. Sie bangen um Menschen, die sie kennen, und wissen nicht, ob Verwandte oder Freunde noch leben.

Der Transporter auf dem Hof des Konservatoriums beweist zumindest, dass die Menschen im türkischen Erdbebengebiet mit Hilfe rechnen können. Halime Karademirli hat ihren Spendenaufruf anhand der Liste der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad gestaltet. Sie wurde nach dem verheerenden Erdbeben 1999 mit rund 18.000 Toten im Westen der Türkei ins Leben gerufen und gilt als professionell.

Die Spendengüter aus der Bergmannstraße und anderen Sammelpunkten in Berlin wie an der Turmstraße in Moabit oder an der Quickborner Straße in Reinickendorf werden mit Maschinen von Turkish Airlines in die Türkei gebracht und dort weiter verteilt. Die Türkei ist in der Lage, auf die Katastrophe zu antworten, und sie erhält Unterstützung aus der ganzen Welt. Anders ist die Lage in Syrien. 

Mohamed Nour Aldghim arbeitet für die humanitäre Organisation International Rescue Comitee (IRC) mit Sitz in Berlin und Bonn. Der Syrer floh 2015 aus dem Bürgerkriegsland nach Deutschland. Jetzt versucht er, mit dem Handy herauszufinden, wie es seiner Familie in der nordwestlichen Provinz Idlib geht. Der nördliche Teil der syrischen Provinz ist das letzte Gebiet, in dem von der Türkei unterstützte Rebellengruppen das Sagen haben. 

Die Internetverbindung bricht immer wieder zusammen

Die Menschen in Idlib nutzten das türkische Internet und Mobilfunknetz. Das sei nach dem Erdbeben zum Teil ausgefallen, wie Nour Aldghim berichtet: „Ich versuche zehn Verwandte oder Bekannte zu erreichen und habe vielleicht bei dreien Erfolg.“ Dennoch ergibt sich aus den vom Rauschen der miserablen Verbindung untermalten Gesprächen ein Bild des Grauens. 

Einige seiner Verwandten seien in dem Dorf Bsenia unweit der Kleinstadt Harim ums Leben gekommen, erzählt der Syrer. Es herrsche Mangel an schwerem Gerät, um Trümmer anzuheben, und Schnee liege über dem Schutt. „Es ist bitterkalt in Idlib“, sagt Nour Aldghim.

Die freiwilligen Helfer der Weißhelme haben während des Bürgerkriegs Verschüttete nach Raketeneinschlägen ausgegraben. Doch ihre Ausrüstung reiche angesichts der vielen bei dem Erdbeben eingestürzten Gebäude nicht aus. „In Bsenia soll es einen Bagger geben für 500 Verschüttete. Mir hat ein Helfer am Telefon gesagt, dass sie einen Monat brauchen, um alle auszugraben“, so Nour Aldghim weiter. Helfer sehen Überlebenschancen für Eingeschlossene in der Regel nur in den ersten 72 Stunden.

Der Syrer appelliert an die internationale Gemeinschaft, neben schwerem Gerät nun vor allem Zelte nach Idlib zu bringen. Hunderttausende Kriegsvertriebene leben bereits unter Zeltplanen. Den Opfern des Bebens bliebe aber derzeit nur das Ausharren unter freiem Himmel. Die Krankenhäuser seien jetzt schon überlastet, obwohl die meisten Opfer noch verschüttet sind. „Es bräuchte mobile Operationssäle. In der Türkei sind die Kliniken ja auch voll“, sagt Nour Aldghim.

Der Zugang in die Region ist nur über einen Grenzübergang zur Türkei möglich. Humanitäre Helfer aus dem Ausland begeben sich auf von Islamisten der HTS-Miliz kontrolliertes Territorium. Nour Aldghim appelliert dennoch an die Staatengemeinschaft, Lösungen zu finden. In den kommenden Stunden und Tagen entscheide sich, ob Tausende unter den Trümmern in Syrien sterben. „Wir haben nicht viel Zeit“, sagt der Syrer.