„Die völlige Isolation“: Ex-Zeuge Jehovas berichtet nach Hamburg-Amoktat von seinem Ausstieg
Der Amokläufer von Hamburg war wohl ein Ex-Mitglied der Zeugen Jehovas. Ein Aussteiger in Berlin erklärt, wie schwer ein Austritt gelingt.

Ein Ausstieg bei den Zeugen Jehovas, dieser sektenähnlichen, ultrareligiösen Gruppe, sei wie ein Absturz in die vollständige Isolation. So beschreibt es Thomas B. aus Berlin, ein ehemaliges Mitglied. „Man hat niemanden mehr“, sagt er, der mit 25 Jahren den Ausstieg schaffte. „Man wird aus WhatsApp-Gruppen oder bei Facebook gelöscht. Kein Kontakt zur Mutter, zum Vater, zum Bruder und auch keine Freunde mehr.“
Als sich am vergangenen Abend des 9. März die Meldungen von der Amoktat im Hamburger Stadtteil Alsterdorf verbreiteten, da dauerte es nicht lange, dass auch bei ihm auf seinem Handy die ersten Nachrichten eingingen. Ein Mann war gegen 21 Uhr in die Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas eingedrungen und hatte mit einer halbautomatischen Pistole acht Menschen erschossen, darunter sich selbst und eine schwangere Frau, acht weitere hatte er verletzt. Und bei Thomas B. meldeten sich nun ehemalige Mitglieder der Glaubensgemeinschaft.
Wut auf religiöse Anhänger
„Die meisten haben geschrieben, wie furchtbar das ist und dass sie an die Familien der Opfer denken“, sagt B. am nächsten Tag. Seine Stimme zittert leicht am Telefon, während er davon erzählt. Ein solch schreckliches Ereignis rüttelt vieles wieder auf.

Nach allem, was man bisher weiß, handelte es sich bei dem Täter von Hamburg um ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas. Wie die Polizei am Freitagmittag bekannt gab, hatte es zuvor bereits Warnungen gegeben. Der Täter war ein Sportschütze und daher im legalen Besitz einer Pistole. Bereits im Januar hatte es einen anonymen Hinweis an die Waffenbehörde gegeben, in dem auf eine möglicherweise nicht diagnostizierte psychische Erkrankung des Täters hingewiesen wurde. Und auf seine besondere Wut auf religiöse Anhänger, die er gehegt habe, besonders auf die Zeugen Jehovas, bei denen er vor anderthalb Jahren ausgestiegen sei.
Völlige Kontaktsperre
Thomas B. ist heute 42 Jahre alt und arbeitet in Berlin in der Immobilienbranche. Offiziell ist er noch heute ein Zeuge Jehovas. Er ist nie formell ausgetreten. „Ich bin geflüchtet“, sagt er.
Nach einem berufsbedingten Umzug aus seiner Heimat Bielefeld hatte er einfach niemandem aus der Gemeinde mehr seine neue Anschrift gesagt. Zu lange hatte er seine Homosexualität verheimlichen müssen, zu lange auch nur so getan, als würde er wirklich an all die Dogmen dieser Gemeinschaft glauben, in die ihn seine Eltern hineingeboren hatten. Er wechselte seine Telefonnummer und verschwand. Seit 18 Jahren hat er keinen Kontakt mehr mit seiner Familie. „Ich weiß nicht mal, ob mein Bruder inzwischen Kinder hat“, sagt er.
Für die Zeugen Jehovas steht das „Harmagedon“ kurz bevor
Nach dem Austritt war er völlig allein – und wütend. Wütend auf die Leere, in die er flüchten musste, wütend auf die Lieblosigkeit der Zeugen Jehovas, die es ihren Mitgliedern verbieten, mit sogenannten „Abtrünnigen“ zu kommunizieren. „Ich war sozial tot“, sagt er. Alle Kontakte, die er jemals gehabt hatte, waren innerhalb der Gruppe gewesen. „Alle anderen waren die Söhne und Töchter Satans, mit denen durfte man nur Kontakt haben, um sie als Jünger zu gewinnen“, sagt er. Bis heute hat Thomas B. Schwierigkeiten, neue Freundschaften zu schließen. Immer ist da auch ein Misstrauen allem Fremden gegenüber.
Die Zeugen Jehovas, von deren rund acht Millionen weltweiten Mitgliedern rund 176.000 in Deutschland leben, glauben daran, dass der Weltuntergang, das „Harmagedon“, kurz bevorsteht. In diesem, so glauben sie, werden alle Menschen sterben, die nicht an Jehova, den „allmächtigen Gott und Schöpfer“ glauben. Innerhalb ihrer Gemeinschaft unterscheiden die Mitglieder zwei Klassen: 144.000 „wahre Zeugen Jehovas“ sollen demnach nach ihrem Tod im Himmel leben und mit Jesus das Königreich Gottes regieren dürfen. Alle anderen leben für immer als Untertanen in einem Tausendjährigen Friedensreich auf Erden. Dieses wird verstanden als Rückkehr des Paradieses.
Selbsthilfegruppen und Vereine für ehemalige Zeugen Jehovas
„Die Aufgabe eines jeden Zeugen Jehovas ist es daher, so viele Menschen wie möglich zu retten“, sagt Thomas B. Deswegen stünden die Mitglieder an Bahnhöfen oder klingelten an Haustüren. Gerade Menschen, die psychisch labil seien, seien häufig zu gewinnen. „Am Anfang ist das eine regelrecht Love-Bomb, die ihnen da entgegenschlägt“, sagt er, „alle sind wahnsinnig freundlich zu ihnen und interessiert. Sie werden zum Essen eingeladen, man ist sehr schnell Teil der Gemeinschaft.“ Doch sehr schnell gehe es dann nur noch um die Einhaltung von strengen Regeln.

Bereits im Kindesalter werden die Söhne und Töchter der Mitglieder mit Zeichentrickfilmen indoktriniert. Es wird ihnen erklärt, welche Freunde sie sich suchen und mit wem sie lieber nicht sprechen sollten. „Das ist völlig irre“, sagt Thomas B.
Für ihn ist gänzlich unerklärlich, dass die Zeugen Jehovas offiziell eine eingetragene Körperschaft des öffentlichen Rechts sind und damit den Status einer vom Staat anerkannten Religionsgemeinschaft haben. Und das trotz ihrer Ablehung allen Nicht-Gläubigen gegenüber, trotz ihrer strengen Regeln, die auch besagen, dass Kinder nicht an den Weihnachtsfeiern ihrer Schule teilnehmen und Völljährige nicht wählen gehen dürfen. Trotz des Fakts, dass Mitglieder nicht austreten dürfen, wenn sie nicht die Ächtung ihrer Liebsten in Kauf nehmen wollen. „Ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit, die es mir auch erlaubt, die Religion zu wechseln oder zu verlassen“, sagt Thomas B.
Wer sich dennoch zu diesem Schritt entscheidet, ist in Deutschland längst nicht alleine. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Selbsthilfegruppen und Vereinen, die ehemalige Mitstreiter bei ihrem Ausstieg begleiten. Vereine wie JZ Help, iuvenes oder Sektenberatungsstellen. Hilfe ist also da. Und trotzdem, so findet Thomas B., muss noch mehr über die Gefahren der Gruppe gesprochen werden.
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