Nach London, Oslo, Madrid: So könnte das Berliner Nachtzugnetz wachsen
Eine Studie für den Senat lotet aus, welche Strecken und Ziele dazukommen könnten. Doch bis mehr Züge fahren, sind große Herausforderungen zu bewältigen.

Berlin - Von Berlin nach Venedig und Mailand, Oslo und Vilnius, Lyon und Athen. Bequem mit der Bahn über Nacht, im Liege- oder noch besser im Schlafwagen. Es sind Routen, die Lust aufs Reisen machen. Vor allem aber sind sie Bestandteile eines denkbaren Nachtzugnetzes, zu dessen Zentren die deutsche Hauptstadt gehört. „Berlin als europäischer Nachtzughub?“: Diesen Titel trägt eine Studie, die das Beratungsunternehmen Ramboll für die Senatsverwaltung für Mobilität erarbeitet hat. Während der internationalen Videokonferenz über das „Nachtzugnetz 2030+“, zu der die Verwaltung für diesen Mittwoch eingeladen hatte, wurde sie vorgestellt. Klar wurde aber auch: Damit sich das Nachtzugangebot verbessert, sind hohe Hürden zu nehmen.
Das waren noch Zeiten. „1995 gab es 23 Nachtzüge von und nach Berlin“, sagte Jürgen Murach, der in der Verwaltung von Senatorin Bettina Jarasch (Grüne) für den Fernverkehr zuständig ist. Damals konnte man im Liege- oder Schlafwagen nach Paris, Amsterdam, München, Kopenhagen und Malmö reisen. „Auch Langläufer wie nach Narbonne in Süd-Frankreich, Verona in Italien, Sankt Petersburg und Saratov in Russland gehörten zu dem Angebot“, so Murach. Kiew, Odessa, Kaliningrad und Krakau standen ebenfalls auf dem Fahrplan. Auf fünf Verbindungen wurden Autos und Motorräder befördert. Das Terminal in Wannsee sollte noch 20 Jahre in Betrieb sein.
Hohe Trassenpreise und Steuernachteile
Doch der Schrumpfungsprozess hatte bereits begonnen. Politische Entwicklungen wie der Jugoslawienkonflikt trugen dazu bei. Die Bahnreform beschleunigte den Abwärtstrend. Sie hat dazu geführt, dass Zugbetreiber für die Nutzung von Schienenstrecken und Stationen Entgelte zahlen müssen. „Hohe Trassenpreise in Deutschland und anderswo sind ein Grund dafür, dass immer mehr Nachtzüge eingestellt wurden“, analysierte Murach. Steigende Kosten, zunehmende Konkurrenz durch den Flugverkehr, der steuerlich begünstigt wird, und Fernbusse, für die keine Autobahnmaut fällig wird – all das trug dazu bei. „2017 war dann der Tiefpunkt erreicht“, sagte Murach. Nach dem Rückzug der Deutschen Bahn aus dem Geschäft waren in Berlin zwei Nachtzugverbindungen übrig geblieben – nach Zürich und Moskau.
Zwar ist die Zahl seitdem wieder gestiegen. Nicht nur Berlin und Zürich sind per Nightjet der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) miteinander verbunden. Eine weitere Strecke führt über Wrocław (Breslau) nach Wien, sie wird im Juni bis Graz verlängert, wie die Österreicher am Mittwoch bestätigten. Zu diesem Nachtzug gehören auch Wagen nach Budapest. Snälltåget nimmt die im vergangenen Sommer eröffnete Verbindung in den Großraum Kopenhagen, nach Malmö und Stockholm im April 2022 wieder auf.
DB will Autozug-Terminal in Wannsee nicht wieder eröffnen
Train4you war in dieser Saison erstmals mit Nachtzügen zu Wintersportorten in Österreich in Berlin zu Gast. Der Kölner Zugbetreiber würde auch gern im Sommer nach Berlin fahren, mit Autoreisezügen. Doch das 2015 stillgelegte Terminal in Wannsee ist nicht funktionsfähig, so die Deutsche Bahn. „Nur durch einen sehr hohen, derzeit nicht bezifferten Investitionsaufwand wäre es möglich, die Autoverladung wieder aufzunehmen“, sagte ein Sprecher. Der Vollständigkeit halber sollte man noch die Nachtzüge der russischen Staatsbahn RŽD nach Paris und Moskau erwähnen – allerdings ruht der Betrieb seit 2020 unter anderem wegen der Corona-Pandemie.
So viel steht fest: Vor kurzem noch ein Kellerkind der verkehrspolitischen Diskussion, ist das Thema inzwischen schick geworden. Als klimafreundliches Verkehrsmittel ist der Nachtzug als Alternative zum innereuropäischen Flugverkehr wieder en vogue. Trotzdem ist er unverändert ein Nischenverkehrsmittel. Dabei gebe es große Potenziale für den Urlaubs- und Geschäftsreiseverkehr, für Gruppenreisen und Klassenfahrten, so Murach. Wie kann dieser Geschäftsbereich wachsen? Darum ging es während der Nachtzugkonferenz des Senats – und in der Studie von Ramboll für das Land Berlin.
Erste Reaktionen aus Polen, Frankreich und Skandinavien
„Ziel war eine Machbarkeitsuntersuchung zur Ausgestaltung und Umsetzung eines europäischen Nachtzugnetzes, in dem Berlin die Funktion eines Drehkreuzes übernehmen könnte“, sagte Ralf Jugelt von Ramboll. Weitere Verbindungen sind geplant. So soll im Sommer 2022 im Auftrag des niederländischen Unternehmens European Sleeper ein Nachtzug Prag, Berlin, Amsterdam und Brüssel verbinden. Der tschechische Zugbetreiber RegioJet plant auch eine Route über Prag nach Zagreb/Ljubljana. Ein ÖBB-Nightjet soll zum Fahrplan 2024 die Nachtzugroute Berlin–Paris wieder herstellen. Nachtzugreisen von Berlin nach Brüssel werden ab Ende 2023 ebenfalls wieder möglich sein. Potenziale gäbe es auch über München nach Mailand und Venedig, so Jugelt. „Die Möglichkeiten zur Einführung eines Italien-Verkehrs ab Berlin sollten geprüft werden.“
„Wir sehen ein sehr deutliches Potenzial für weitere Nachtzugverbindungen“, sagte Ralf Jugelt, der unter anderem die Zahl der Fluggäste von Berlin zu europäischen Destinationen betrachtet hat, am Mittwoch. „Es lohnt sich, den von einigen Anbietern eingeschlagenen Weg weiterzuverfolgen.“ In einem zweiten Schritt könnten fernere Ziele hinzukommen. Vorausgesetzt, die Fehmarnbelt-Querung, die Rail Baltica sowie andere neue Schienenwege werden fertig, und der derzeit noch bestehende Fahrzeugmangel ist gelindert, wie der Ramboll-Consultant gleich einschränkte. Ab 2030 sehen die Ramboll-Experten Potenziale für neun neue Nachtzugverbindungen. Dann könnten Ziele wie Oslo, London, Rom, Belgrad, Krakau, Lwiw (Lemberg) und Vilnius auf Berliner Abfahrtstafeln stehen. Ein Musterfahrplan zeigt eine Verbindung, die von Berlin (Abfahrt 20.26 Uhr) über Lyon (Ankunft 7.03 Uhr) nach Barcelona (13.18 Uhr) führt.

In einem dritten Schritt könnten von 2045 an weitere Langstreckenverkehre hinzukommen, so Ramboll weiter. Für acht Nachtzugverbindungen sieht die Studie „erhebliches Potenzial“ für zusätzliche Märkte. Dazu gehören Relationen von Berlin nach Belgrad, Madrid, Edinburgh/Glasgow, Riga, Tallinn, Helsinki, Kiew, Odessa und über Sofia nach Athen und Istanbul.
Um die Auslastung zu erhöhen, empfehlen die Autoren, die Nachfrage mit benachbarten Städten wie Prag oder Hamburg zu bündeln. Auch Durchbindungen nach Szczecin (Stettin), etwa der Route aus Wien, bieten sich an, sagte Jürgen Murach. Der Zugbetreiber PKP Intercity habe sich im Vorfeld der Konferenz dafür aufgeschlossen gezeigt. Auch in Lyon ist man auf die Vorschläge aufmerksam geworden, von dort kam eine Einladung. In Skandinavien sei man ebenfalls an guten Verbindungen nach Berlin interessiert. „Oslo ist ein potenzielles Ziel, das immer wieder genannt wird“, so der Senatsexperte.
Elmer van Buuren von European Sleeper sieht ebenfalls Potenzial für neue Verbindungen ab Berlin. Norditalien mit Mailand, Bologna, Venedig und der Toskana sei ein prominentes Beispiel, sagte der Niederländer während der Konferenz. Süd-Frankreich, London, Zagreb in Kroatien und die baltischen Staaten würden sich ebenfalls anbieten. Wenn die Rail Baltica fertig ist, könnten Züge von Berlin in zwölf Stunden nach Vilnius in Litauen und in 14,5 Stunden nach Tallinn in Estland fahren, rechnete Ralf Jugelt vor.
„Berlin ist in der schlechtesten Lage“
Doch die Teilnehmer der Konferenz waren sich darin einig, dass der Renaissance des Nachtverkehrs hohe Hindernisse entgegenstehen. Ein Thema seien Fahrzeuge. Schlaf- und Liegewagen seien schwer zu bekommen, noch schwieriger sei die Finanzierung, so van Buuren. „Das Hauptproblem ist, dass die bisherigen Betreiber lange Zeit nicht in Rollmaterial investiert haben“, sagte Jon Worth von Trains for Europe. „Große Investitionen sind erforderlich.“ Doch große Player wie die Deutsche Bahn, die Zugang zu Kapital hätten, wollen nicht mehr ins Geschäft einsteigen. Schweden, Belgien und andere Staaten hätten das Problem erkannt. „Doch Berlin ist in der schlechtesten Lage: Weder die DB noch der deutsche Staat wollen das Problem lösen“, klagte Worth.
Die ÖBB hat bei Siemens 33 Nachtzüge bestellt, die von 2023 bis 2025 geliefert werden sollen. „Doch so lange nur wir investieren, wird es keine Renaissance in ganz Europa geben“, sagte Fernverkehrschef Kurt Bauer. Österreich könne das Problem nicht allein lösen. „Wir brauchen endlich ein einheitliches Spielfeld und eine stabile politische Umgebung“, sagte Bauer am Mittwoch. Das Thema Nachtzüge zeigt wie in einem Brennglas, wie kompliziert der Bahnverkehr in Europa geworden ist. Nationale Regularien erschweren den Einsatz von ausländischen Zügen, etwa nach Großbritannien, Frankreich und Spanien. Ein anderes Land falle für die meisten Anbieter bald ganz aus, warnte Bauer: „Ab 2024 gelten in Italien neue Bestimmungen für den Brandschutz. Dann können de facto nur noch wir mit unseren neuen Nachtzügen dorthin fahren.“
Einige Staaten zahlen für Nachtzüge
Noch immer sei der Luftverkehr im Vergleich zum Bahnverkehr steuerlich begünstigt. „Flixbus muss keine Straßennutzungsgebühr zahlen, für Züge werden Trassen- und Stationsgebühren fällig“, so der ÖBB-Manager. Anders als in der internationalen Luftfahrt werde im Bahnverkehr auf internationale Tickets Mehrwertsteuer erhoben. Für Diesel und Strom werden substanzielle Energiesteuern fällig, für Kerosin nicht. In einigen Ländern seien die Kosten besonders hoch, so Jon Worth. „Für einen Halt in Paris Austerlitz werden 920 Euro berechnet, im Wiener Hauptbahnhof sind es zehn Euro.“
Unter den jetzigen Bedingungen könnten Nachtzüge nicht eigenwirtschaftlich sein, pflichtete Jürgen Murach sein. Es gebe nur wenige Ausnahmen wie der Nightjet Berlin–Zürich, in dem zahlungskräftige Schweizer für gute Einnahmen sorgen. Österreich, Polen und die Niederlande unterstützen den Nachtzugverkehr auf ihrem Gebiet mit Geld. Ohne diese Zahlungen ließe sich der Betrieb nicht aufrechterhalten, sagte Kurt Bauer. „Es wird wichtig sein, die Trassenpreise zu senken“, sagte Murach. Anders formuliert: Ohne staatliche Zahlungen oder finanzielle Erleichterungen könnte der massive Ausbau des Nachtzugnetzes, den sich immer mehr Menschen wünschen, eine Illusion bleiben.