Neue Loveparade in Berlin: Das Comeback der Horror-Styles

Schnullerketten, Flokati-Stulpen und pinkelnde Tiergarten-Touris: Nicht alles, was zur Berliner Loveparade dazugehört, wollen wir wiedersehen.

Taucherbrillen im Tiergarten? Braucht man eigentlich nicht, es sei denn, die Raver zücken die Wasserpistole. Hier bei der Loveparade im Jahr 1998.
Taucherbrillen im Tiergarten? Braucht man eigentlich nicht, es sei denn, die Raver zücken die Wasserpistole. Hier bei der Loveparade im Jahr 1998.imago

Die Neunziger sind lange her und auch die Erinnerungen an die Loveparade in Berlin sind längst so verschwommen wie eine Nacht im Pillenrausch. Doch nun ist sie zurück, die Techno-Sause der Berliner Party-Boomer. Unter dem Motto „Rave The Planet“ zieht die Parade an diesem Sonnabend ab 14 Uhr über den Kudamm hinweg durch die halbe Stadt bis zum Großen Stern.

Und schon hat man fiese Bilder im Kopf, schon belegen „Hardcore Vibes“ das Innenohr und es kehren Dinge zurück, die wir längst in der Mottenkiste wähnten – und die dort getrost hätten bleiben können. Doch wie wir das hiesige Feiervolk kennen, bleibt am Wochenende stylemäßig kein Auge trocken. Seien Sie also lieber vorbereitet – mit unserer Top Ten der schlimmsten Berliner Loveparade-Begleiterscheinungen.


1. Trinken und spritzen

Auf der Loveparade ging es immer auch ums Flüssige. Wo kriege ich einen Energydrink her, wo bringe ich ihn später wieder weg – ein ständiges Hin- und Herpendeln zwischen Späti-Theke und Tiergarten-Gebüsch. Das Wildpinkeln ist und bleibt die gängige Lösung für letzteres Problem; für ersteres wurden immer wieder komisch-kreative Provisorien gefunden.

Da meint es jemand verdammt ernst: unterwegs auf der Loveparade mit schwerem Geschoss.
Da meint es jemand verdammt ernst: unterwegs auf der Loveparade mit schwerem Geschoss.imago

Der Eistee-Tetra-Pak zum Umhängen – mit einem Gaffa-Tape-Trageriemen ausgestattet und mit einer halben Flasche Wodka aufgegossen – oder Rucksäcke mit kamelartigem Flüssigkeitsspeicher gehörten zur Grundausstattung des immer durstigen Loveparade-Ravers. Auch überaus beliebt: die hochprozentig gefüllte Wasserpistole, mit der Umhertanzenden und/oder sich selbst neckisch in den Mund gespritzt wurde. Aber vorsichtig – immer mal wieder sollen den Wasserpistolen-Drinks auch ein paar Tropfen LSD beigemischt worden sein. Lustig ging das nicht immer aus.


2. Der arme Tiergarten!

Auch das gehörte zur Bilanz jeder Loveparade: platt getrampelte Grünflächen, abgebrochene Äste und tonnenweise Müll. Der schöne Berliner Tiergarten war nach dem Durchzug der Raver gar nicht mehr schön, und die Stadtreinigung hatte alle Hände voll zu tun, ihn wieder herzurichten. „Berlin hat diese Veranstaltung nicht mehr im Griff“, schimpften gewisse Baustadträte schon zur Jahrtausendwende, und empörte Politiker forderten, die Loveparade müsse raus aus dem Großen Tiergarten.

Was vom Tage übrig blieb: großes Reinemachen nach der Loveparade 2003 im Tiergarten.
Was vom Tage übrig blieb: großes Reinemachen nach der Loveparade 2003 im Tiergarten.imago/Olaf Wagner

Der Streit um die Streckenführung und die Übernahme der Müllbeseitigungskosten gehörte irgendwann zur Partyfolkore wie der Urin pinkelnder Techno-Touristen. Und doch konnte man sich auch zu Zeiten, als die Klimakrise noch nicht ganz oben auf der Agenda stand, nie so recht gewöhnen an den Anblick von sich auftürmenden Bierdosen und Plastikflaschen in einem der wichtigsten Parks der Stadt. Bleibt zu hoffen, dass die Neuauflage des Raves solche Bilder nicht mehr produziert – andernfalls wäre sie wirklich hoffnungslos aus der Zeit gefallen.


3. Fell und Flokati

Seltsam eigentlich, dass zu den Hochzeiten der Loveparade der künstliche Pelzbesatz überaus beliebt war. Schließlich reden wir hier über eine Zeit, in der die echte Körperbehaarung von ihm und ihr rigoros und überall abgeschert wurde. Fast ist es, als habe das blank rasierte Partyvolk seine babyglatten Brust-und-Bein-Partien durch Plastik-Ersatzteile ausgleichen wollen. Pinkfarbene Flokati-Stulpen, Westen aus Polyester-Kuhfell, haarige Mützen, Mäntel, Miniröcke.

Tweedledee und Tweedledum auf Ecstasy: im haarigen Partnerlook um die Goldelse herumtanzen.
Tweedledee und Tweedledum auf Ecstasy: im haarigen Partnerlook um die Goldelse herumtanzen.imago

Gut ließ sich an den Fell-Imitaten jedes und jeder Einzelnen ablesen, wie lange schon gefeiert und getanzt wurde: Was zu Beginn des Abends noch fein und flauschig aussah, klebte spätestens nach Stunde 8 schweißgetränkt an Stirn und Schenkel. Regelrecht zerrupft sah manches Kunstfell-Kostüm zum Ende des Raves hin aus; beim Tanzen flogen die Fetzen und die Fellbüschel. Und hatte man einen druffen Mitfeiernden um sich herum, der sich gerade auf Acid einen Streichel- und Berührungsfilm schob, hatte man als Fellwesten-Träger eh verloren.


4. 17 Jahr, buntes Haar

Erinnern Sie sich noch an Marusha? Irgendwo über dem Regenbogen kombinierte die deutsch-griechische DJane aus Nürnberg grüne Augenbrauen zu roten Haaren, die wahlweise gekreppt oder zu zwei neckischen Bömmseln hochgeknotet waren – und inspirierte damit Tausende Techno-Jünger, es ihr gleichzutun.

Wohl dem, der eine Perücke hat und seinem Haar die Färbe- und Glättorgien ersparen kann.
Wohl dem, der eine Perücke hat und seinem Haar die Färbe- und Glättorgien ersparen kann.imago

Vor jeder Loveparade stand also der Griff in den Farbtopf, je bunter die Strähnen, desto besser. Es glühte das Glätteisen und der Lockenstab lief heiß. Hinterher war das Haar ein glanzloses Trockenstrohdesaster, aber das galt es in Kauf zu nehmen für die perfekte Raver-Frisur, bei der das Motto galt: Hauptsache, man sticht aus der Menge heraus.


5. Schnullerkette und Sonnenblume

Ja, sicher, auch die Tattoo-Ketten waren in den technoaffinen 90ern überaus populär. Kein Accessoire aber steht so sehr für die Rave-Nation wie der Kettenanhänger in Schnullerform. Aus quietschbuntem Plastik gefertigt und in vielen Größen erhältlich wurden die Dinger zumeist an ein Lederhalsband gefädelt und an der vor Stolz geschwollenen Raver-Brust getragen. Das kecke Lutschen am neonfarbenen Plaste-Schnulli war allerdings keine gute Idee: Zumindest hieß es damals zügig, das fluoreszierend eingefärbte Kunstmaterial sei krebserregend. Sei’s drum – genuckelt wurde trotzdem fleißig, bei all dem Chemie-Zeug, das die Party-Gaumen sonst so kitzelte, war das bisschen Plastik eh egal.

Oh Baby: Erwachsene mit Schnuller-Accessoires waren in den 90ern keine Seltenheit.
Oh Baby: Erwachsene mit Schnuller-Accessoires waren in den 90ern keine Seltenheit.imago

Überhaupt: Plastik, das Go-to-Material der Techno-Kultur. Aufblasbare Sofalandschaften, an denen die schweißnassen Beine fies kleben blieben, mit Stacheln besetzte Mini-Lack-Rucksäcke, Sonnenblumen-Haarspangen, Sonnenblumen-Ohrschmuck, Sonnenblumen-Ringe – alles musste aus Kunststoff sein. Womöglich sind die Loveparade und ihre Gäste für die Hälfte des Mikroplastiks verantwortlich, das heute noch die Weltmeere verseucht.

6. Auf hohem Fuße

Eine höhere Ebene zu erreichen, das war auf der Loveparade nun wirklich nie das Problem. Plateauschuhen sei Dank konnte auch der 1,65 Meter große Mann auf Augenhöhe sein mit allen anderen. Absatztechnisch waren dem Höhenflug keine Grenzen gesetzt und wer ins Wanken geriet, fiel auch nicht weiter auf. Der Mix aus Alkohol und Sommerhitze brachte einen selbst barfuß gelegentlich aus der Balance.

Waghalsig: Dank Plateaus ist auf der Loveparade auch der 1,65-Meter-Mann auf Augenhöhe mit allen anderen.
Waghalsig: Dank Plateaus ist auf der Loveparade auch der 1,65-Meter-Mann auf Augenhöhe mit allen anderen.imago

Die gute Nachricht für alle Retrojünger: Die damals sehr angesagte Schuhmarke Buffalo gibt es noch immer. Der Kultschuh der 90er ist längst zurück, es ist wie mit jedem Trend. Man muss nur lang genug warten, dann kommt alles wieder. Heute prägen vor allem Damenschuhe das Sortiment der in Köln ansässigen Marke. Aber vielleicht finden Sie ja noch ein paar Plateaus auf dem Dachboden.


7. Der Sound der Trillerpfeife

Im Grunde war im klassisch knallbunten Raver-Outfit ohnehin niemand übersehbar. Und trotzdem hatten unzählige Techno-Kids das verheerende Bedürfnis, auch akustisch auf sich aufmerksam zu machen: Trillerpfeifen-Pfiffe, so weit das Ohr reicht. Unglücklicherweise war nicht jede und jeder auch mit Taktgefühl gesegnet. Und so gab es stets den einen und die andere, die fröhlich gegen den stumpfen Bass anpfiffen.

Rhythmus ist, was du draus machst: Nicht jeder Partygänger traf mit seiner Trillerpfeife auch den Takt.
Rhythmus ist, was du draus machst: Nicht jeder Partygänger traf mit seiner Trillerpfeife auch den Takt.imago

Auch unappetitlich anzusehen war die Nutzung des archaischen Musikinstruments mitunter: Vom übermäßigen Speed-Konsum ausgetrocknete Lippen, die sich hilflos um das Blasstück klammern, oder sabbernde Schnaps-Schnuten, die mit dem nervenzerbröselnden Triller-Ton gleich noch einen halben Liter Speichel gen Freiluft beförderten ��� wahrlich war’s nicht immer schön.


8. „Hardcore Vibes“ und andere Scheußlichkeiten

Zu den ersten Loveparades trafen sich noch verschiedene bundesweite Techno-Szenen, Aktivisten aus mehreren Städten reisten nach Berlin, um ihre regionale Techno-Kultur zu präsentieren. So entstanden Netzwerke und ein bundesweiter Austausch. Gruppen aus Frankfurt am Main und aus Köln beteiligten sich mit eigenen Wagen.

Die Trucks wurden größer, die Gruppen professioneller. WestBam und Marusha traten auf, und irgendwann begann ein szeneinterner Diskurs über Kommerzialisierung und die Abkehr von Idealen. Kleinere Gegenbewegungen spalteten sich ab, während die große Sause immer mehr zu einer beliebigen Electronic-Dance-Parade mutierte. Andererseits: Wer damals zu Dune oder Charly Lownoise & Mental Theo abtanzte, schämt sich heute vielleicht ein bisschen. Und denkt doch trotzdem gern an diese Zeit zurück.


9. Tanzen wie der Teufel

Die Füße stampfen unsichtbare Muster in den Boden, mit den Armen wird rhythmisch in den luftleeren Raum gestochen; die Beine fliegen River-Dance-artig zu allen Seiten, die Hände formen sich zum imaginären Dirigierstab, der den eigenen Takt vorgibt: Schon immer wurde auf der Loveparade nicht nur viel getanzt, sondern auch auf viele unterschiedliche Arten. Es gab jene Raver, die beherzt nach oben griffen, als wollten sie ein reifes Äpfelchen vom Baume holen; jene, die mit den Fäusten permanent gen Himmel schlugen.

Gabber, Goa, Schranz und Schrabbeltechno – jedem Tierchen sein Musik-Pläsierchen und mithin auch sein ganz eigener Tanz. Eine wahre Ikone der klassischeren Rave-Choreografie ist der legendäre „Techno Viking“, ein namenloser Partygänger, dessen aggressives Reingestampfe auf YouTube vor Jahren schon viral ging. Gefilmt wurde das zum Wikinger verklärte Muskelpaket allerdings auf der Fuckparade und nicht der Loveparade. Gepasst hätte aber beides.


10. Getränke aus der Hölle

Wir wissen auch nicht, wo die Unsitte ihren Ursprung hat, Energydrinks mit Alkohol zu mischen. Aber auf der Loveparade galt die leere Red-Bull-Dose definitiv als Symbol der Zeit, und zwar nicht erst, seit der österreichische Getränkehersteller 2002 als Hauptsponsor eintrat. Schon vorher kippte der gemeine Paraden-Teilnehmer gern Unmengen Red Bull in sich hinein, um die Nacht zu verlängern und bis zum nächsten Mittag durchzuhalten. Zum Schlafen ist die Zeit ja auch viel zu schade!

Kein Zufall also, dass die Etablierung der Energydrinks in diese partyberauschte Zeit fiel. Bei der Loveparade wurden die Dosen oft kostenlos verteilt und ließen den Drogenbeauftragten in Kombination mit Wodka oder Ecstasy graue Haare wachsen. Noch heute erzählen Raver, dass ein Schluck Red Bull sofort Erinnerungen wach werden lasse an die früheren Zeiten. Was aber auch nichts am scheußlichen Geschmack ändert.