Was MacGyver nicht schaffte: Können Betonkekse oder ein Lurch Chemnitz retten?

Wohl nicht. Aber Chemnitz hat noch eine andere Chance, sein Image zu verbessern, das Graue und Braune abzustreifen. Teil 1 unserer Serie über die DDR-Bezirkshauptstädte.

„Der Nischel“: Karl Marx war zwar selbst nie in Chemnitz, sein Kopf ist trotzdem das Wahrzeichen der Stadt.
„Der Nischel“: Karl Marx war zwar selbst nie in Chemnitz, sein Kopf ist trotzdem das Wahrzeichen der Stadt.Rainer Unjel/imago

Von außen und mit Argwohn betrachtet ist Chemnitz wie ein Dachschädellurch in Badelatschen, der auf den Spitznamen „Marcel“ hört und verschimmelte Betonkekse mag. Also eher unappetitlich und unansehnlich und in der Summe ein ungeheuerlicher Vergleich, den man sofort erklären muss. Fangen wir mit den Keksen an.

Im vergangenen Sommer, einen Monat, bevor Marcel einer an Dachschädellurchen interessierten Weltöffentlichkeit als paläontologische Sensation aus Sachsen vorgestellt worden war, grub das Chemnitzer Institut für Ostmoderne ein altes Keksrezept aus. Fundort: Heckertgebiet, zeitweise die zweitgrößte Plattenbausiedlung der DDR, damals, als Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt und Bezirkshauptstadt hieß.

Die DDR-Bezirkshauptstädte: Hier geht es zur interaktiven Karte!

Die Zutatenliste war nicht vollständig, an der Keksform gab es jedoch keinen Zweifel: klobig wie ein Backstein, in der Mitte zwei eckige Aussparungen. Die DDR-Architekturexperten unter uns vermuten eine optische Verwandtschaft mit den Fensterbetonelementen aus der Wohnungsbauserie 70 – und liegen damit richtig.

Alle anderen werden in der fortan als „Chemnitzer Platte 2.0“ angepriesenen Backware nur grauen, scheinbar von Schimmel befallenen Beton erkennen. Selbst die Chemnitzer, die ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, dass ihre Stadt dank eines 291 Millionen Jahre alten Dachschädellurchs bald Weltruhm erlangen könnte, waren gespalten in der Betonkeksfrage, die Lokalmedien eingeschlossen.

Die Freie Presse argumentierte daher in beide Richtungen. Zunächst pro Keks, denn der geschundenen Chemnitzer Seele fehle es doch vor allem an Farbe. „Allenfalls braun wird ihr regelmäßig zugestanden, dagegen wirkt das triste Grau-Image fast noch nett.“ Dann die Kontrastimme: Platten gebe es allerorten im Osten, „sie sind kein Alleinstellungsmerkmal von Chemnitz“.

„Rußchamtz“ und „Sächsisches Manchester“

Tja, was dann? Was macht die „Stadt der Moderne“ aus? Oder „Statt der Moderne“, wie der auf Autobahnschildern prangende Cityclaim mal von unbekannt korrigiert wurde? Wofür steht dieses Chemnitz, das im Doppelschatten der hippen Messestadt Leipzig und des barocken Regierungssitzes Dresden stets weniger Bühnenlicht abbekommt – und trotzdem zur europäischen Kulturhauptstadt 2025 gekürt worden ist?

Schauen wir in die Stadtgeschichte, hier in hoffentlich keine Heimatgefühle verletzender Kürze: Im Jahr 1800 entstand in Chemnitz die erste Fabrik Sachsens, und bald schon verdunkelten hier so viele Schlote den Himmel, dass von „Rußchamtz“, aber eben auch vom „Sächsischen Manchester“ die Rede war. Die Auto Union AG Chemnitz war der erste staatliche Automobilkonzern Deutschlands, hier wurden die vier Audi-Ringe erfunden.

August 1988: Noch ahnt nicht mal der „Nischel“, was aus Karl-Marx-Stadt bald werden sollte.
August 1988: Noch ahnt nicht mal der „Nischel“, was aus Karl-Marx-Stadt bald werden sollte.Härtel Press/imago

Mit Chemnitz auf ewig verbunden ist der 1844 im Stadtteil Rottluff geborene Brücke-Maler Karl Schmidt, der als Schmidt-Rottluff bekannt wurde.

Oder der Schriftsteller Stefan Heym, Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie, der 1933 ein Anti-Kriegs-Gedicht in der Chemnitzer Volksstimme veröffentlichte und danach vor den Nazis fliehen musste.

Oder der Radsportler Wolfgang Lötzsch, der nicht nur den Kaßberg bezwang, wo er 1976 „wegen Staatsverleumdung“ im Gefängnis saß.

Wir-sind-mehr-Konzert und Wir-bleiben-mehr-Versprechen

Und natürlich die Eiskunstlauftrainerin Jutta Müller, die Kati Witt in die Stadt lockte und die wiederum auch mal ihren damaligen Freund Richard Dean Andersen. Jap, genau, MacGyver, der mit einem Schweizer Taschenmesser eine Bombe entschärfen, Chemnitz aber nicht vor einer explosiven Zukunft retten konnte.

Die Zeit und mit ihr ein ganzes Land hatten sich da gerade erst gewendet, die Deindustrialisierung begann und damit ein Bedeutungsverlust, der zu heute noch spürbaren Minderwertigkeitskomplexen führte, weil es woanders immer ein bisschen mehr zu blühen schien. Und spätestens nach der Neonaziparade von 2018 hatte die Stadt ein ernstes Imageproblem, das kein Wir-sind-mehr-Konzert und kein Wir-bleiben-mehr-Versprechen, kein Keks und nicht mal ein Urzeitlurch in Badelatschen lösen könnten.

Die Chemnitzer Innenstadt, wo historische Gebäude (Rathaus) und gesichtslose Nachwendearchitektur aufeinandertreffen.
Die Chemnitzer Innenstadt, wo historische Gebäude (Rathaus) und gesichtslose Nachwendearchitektur aufeinandertreffen.Sylvio Dittrich/imago

Oder anders gefragt: Warum sollte jemand auf die Idee kommen, freiwillig in diese Stadt zu ziehen?

Ausgerechnet Chemnitz, die Crystal-Meth-Hauptstadt Europas, wo kein ICE hält und ein Trend mit drei bis fünf Jahren Verspätung ankommt. Wo die Bevölkerung überdurchschnittlich alt ist und die rechtsextremen „Freien Sachsen“ ihr Haupthetzquartier aufgeschlagen haben, von hier aus den „Säxit“ oder wenigstens den Umsturz planen. Wo Konzerte von Roland Kaiser und den Böhsen Onkelz zu den Höhepunkten des Eventkalenders zählen und der einzige Späti* der Stadt manchmal zu früh schließt. Aktuell mit Spannung erwartet: die Eröffnung eines Katzencafés.

Und bevor wir nun endlich mit einer Betroffenen über die von außen kaum sichtbaren Vorzüge von Chemnitz sprechen, noch schnell die Sache mit den Badelatschen.

Spitzname „Marcel“, Taufname „Chemnitzion richteri“: So in etwa muss ein Dachschädellurch vor 291 Millionen Jahren ausgesehen haben.
Spitzname „Marcel“, Taufname „Chemnitzion richteri“: So in etwa muss ein Dachschädellurch vor 291 Millionen Jahren ausgesehen haben.Stadt Chemnitz

Nachdem der Dachschädellurch Marcel doch nicht weltberühmt geworden war und selbst die „Chemnitzer Platte“ keinen Hype auf dem internationalen Keksmarkt ausgelöst hatte, planten die Stadtmarketingleute bereits den nächsten Coup: die C-Letten, also „die Stilettos unter den Latschen“, verbunden mit dem Produktversprechen: „regional gefertigt“. Viel grüner wird’s in Sachsen nicht.

Das C in der C-Lette sollte freilich nicht für Crystal oder das in der Region beliebte Dieter-Bohlen-Proll-bis-Rentner-Modelabel Camp David stehen, sondern schlicht für Chemnitz. Blöderweise stand auf der C-Letten-Sohle auch „Made in China“. Was würde ein patriotischer Sachsenlurch wohl dazu sagen?

Julia Voigt, und so nennt sie sich selbst, ist ein „Chemnitz Fangirl“, aber manchmal kann auch sie nicht anders, als an der Stadt zu zweifeln, in der sie vor 26 Jahren geboren wurde: Heckertgebiet, die Kita über die Straße, eine glückliche Kindheit, bis der zwölfstöckige Plattenbau wegen Leerstands abgerissen werden sollte.

„Chemnitz ist keine fertige Stadt“: Julia Voigt.
„Chemnitz ist keine fertige Stadt“: Julia Voigt.Karla Mohr

Vor der Wende lebten noch über 300.000 Menschen in Chemnitz, dann schlossen die Fabriken, gingen Arbeitsplätze verloren, kippten Perspektiven ins Ungewisse, heute sind es keine 250.000 mehr. Die eher Jungen sind gegangen, die eher Alten sind geblieben. Wer geht, reißt Lücken, und Löcher können daraus werden, wenn eine ganze Generation fehlt. Andererseits öffnen sich dann Freiräume, die es mit Ideen und Idealismus zu füllen gilt. Julia Voigt hat das getan.

An einem Vormittag sitzt sie in der Kinobar des Weltechos, es gibt Kaffee zu selbstgedrehten Zigaretten. Unten vor dem Eingang der Hinweis: „Ausgeschlossen von der Veranstaltung sind Personen, die neonazistischen Parteien oder Organisationen angehören.“ Im Treppenhaus ein hingeschmierter Vorschlag: „Wessis enteignen“.

Das Kulturhauptstadtjahr ist eine „Jahrhundertchance für Chemnitz“

Julia Voigt, Hochsteckfrisur und ohne Umwege beim Thema, sagt: „Du musst in Chemnitz keine krassen Hürden überwinden, um gestalten zu können.“ Es gebe hier funktionierende Netzwerke und kaum Konkurrenz, günstige Mieten und kurze Entscheidungswege. Manchmal genüge schon ein Anruf bei der Stadtverwaltung. Und manchmal rutscht man einfach so hinein.

Julia Voigt war sich sicher, dass auch sie Chemnitz eines Tages verlassen würde. Sie studierte Soziale Arbeit im immerhin eine halbe Autostunde entfernten Mittweida, ging sogar ein Jahr lang nach Finnland, dann kam sie zurück und nahm erst mal einen Tresenjob im Weltecho an. Unter ein Altbaudach passen hier Kino, Bar, Club und regelmäßig eine kulturpolitische Bühne.

Alles unter einem Dach: Das Weltecho in Chemnitz vereint Kino, Bar, Club, Biergarten und regelmäßig eine kulturpolitische Diskussionsbühne.
Alles unter einem Dach: Das Weltecho in Chemnitz vereint Kino, Bar, Club, Biergarten und regelmäßig eine kulturpolitische Diskussionsbühne.Julia Voigt

Erst vor ein paar Tagen fand eine öffentliche Stadtratssitzung der Linken statt, diskutiert wurde die Frage „Chemnitz – eine Kulturhauptstadt für alle?“. Die anfängliche Euphorie scheint ja irgendwie verflogen zu sein. Es gibt eine für diese Planungsphase erwartbare, aber nicht ganz berechtigte Kritik an der mangelnden Kommunikation, an der Sichtbarkeit des Projekts, dieser „Jahrhundertchance für Chemnitz“. Man merke das, sagte ein Mitdiskutant, allein an den Kulturhauptstadtstickern. Nach der Titelvergabe vor zwei Jahren klebten sie an vielen Autos, nun seien sie verschwunden.

Die Stärke der Chemnitzerinnen und Chemnitzer sei das Machen, sagt Julia Voigt, nicht die Geduld, das Abwarten.

Sie stieg bald zur Barchefin im Weltecho auf, dann gleich zur Geschäftsführerin, „um das Programm zu schärfen“. Sie wurde als jüngstes Mitglied in den Vorstand des Chemnitzer Kulturbündnisses Hand in Hand gewählt. Anpacken und mitreißen, das beherrscht Julia Voigt besonders gut.

Über die schleppende Kulturhauptstadtwerdung sagt sie: „Es braucht ein Wachrütteln von allen Ecken und Enden. Hey, Leute, das ist wirklich eine Riesenchance. Wir sollten jetzt mal ins Machen kommen, sonst verspielen wir sie vielleicht.“ Bis zu drei Millionen Menschen sollen 2025 nach Chemnitz kommen.

Inzwischen organisiert Julia Voigt auch das Kosmos, das Musik mit politischem Engagement verbindet. „Wir wollen nicht immer nur am Straßenrand stehen und die Nazis anschreien“, sagt sie. Einigen älteren, Veränderungen aus Prinzip ablehnenden Chemnitzern ist das Stadtfestival zu hip, zu bunt. Mit Bratwürsten in Überlänge kann man sie dennoch auf die Straße locken und dann beobachten, wie ihre nach unten hängenden Mundwinkel – auch als „Chemnitz-Fresse“ bekannt – sich mit einem Millimeter pro Festivalstunde nach oben schieben.

Ist das auch Chemnitz? Klar, während des Kosmos-Festivals 2022.
Ist das auch Chemnitz? Klar, während des Kosmos-Festivals 2022.Ernesto Uhlmann

Vielen anderen gibt das Kosmos das Gefühl, in einer lebendigen Stadt zu wohnen. Unter Gleichgesinnten, die sich wehren gegen das Graue und Braune. „Die sich ausprobieren und austoben wollen“, sagt Julia Voigt.

Das sind etwa diejenigen, die Kulturhauptstadt groß und mit C schreiben, die Macher, Garagentüftler, Autodidakten, die Marxbier oder Karls Cola erfinden, ein Katzencafé eröffnen. Die aber auch zu Gegendemos gehen und lieber zu den Niners, dem Basketball-Bundesligaklub, der von Staffbase gesponsort wird, dem größten Lokalwirtschaftshelden und einzigen Start-up-Einhorn des Ostens. Lieber als zum Regionalliga-Fußball, wo die rechten Ultras des Chemnitzer FC sich mal wieder neu formieren.

„Erst denken alle immer: Oh Gott, was ist das für eine hässliche Stadt?“

Julia Voigt drückt die letzte Zigarette in den Aschenbecher und behauptet einfach mal aus Überzeugung: „Chemnitz ist keine fertige Stadt.“ Und als hätte sie es geahnt: „Ja, der Keks sieht aus, wie Chemnitz irgendwie auch ist. Erst denken alle immer: Oh Gott, was ist das für eine hässliche Stadt? Und dann sind sie hier und merken, wie wunderbar es sein kann, wie viel Potenzial in Chemnitz steckt, was es alles zu entdecken gibt.“ Sie, das Chemnitz Fangirl, werde immer versuchen, ihre Stadt von der besten Seite zu zeigen.

Doch leider kann Julia Voigt nicht dabei helfen, die Geschmacksfrage final zu klären. Sie hat die „Chemnitzer Platte“ nämlich noch nicht selbst probiert. Aber gehört habe sie schon, sagt sie, dass der äußere Eindruck täuschen soll.

* Update 03. Februar: Chemnitz hat jetzt sogar einen Späti ohne Spätiverkäufer, hier.


Neue Serie: Die Bezirkshauptstädte der DDR. Von Zeit zu Zeit sieht man sie ganz gern, die Karte der DDR. Der Umriss der früheren, streng umgrenzten Heimat vermag tatsächlich noch Emotionen auszulösen. 14 Bezirke lagen darin – mit Hauptstädten ganz verschiedener Persönlichkeit. Was machte sie damals aus? Was ist aus ihnen geworden? Die Berliner Zeitung begibt sich auf Erkundungstour.

GRAFIK: Mónica Rodríguez/Berliner Zeitung