Neukölln : 20 Stolpersteine von Widerstandskämpfern gestohlen

An der Parchimer Allee in Neukölln klafft ein Loch im Pflaster. Bis vor ein paar Tagen erinnerte an dieser Stelle ein Stolperstein an Wienand Kaasch. Er war KPD-Funktionär und Widerstandskämpfer. Der nationalsozialistisch gesteuerte Volksgerichtshof ließ ihn 1935 im Gefängnis verschwinden, wo er zehn Jahre später starb.

Etwas weiter die Straße hinauf erinnerte bis vor wenigen Tagen ein Stein an Heinrich Uetzfeld, SPD-Mitglied und 1941 im KZ Dachau zu Tode gefoltert. Verschwunden sind auch die Steine für Kurt Gärtner, SPD-Stadtverordneter, gestorben im KZ Sachsenhausen, Gertrud Seele, Krankenschwester und 1945 wegen Wehrkraftzersetzung in Plötzensee hingerichtet, sowie für weitere Widerstandskämpfer und linke Gegner der Naziherrschaft.

Bis zum gestrigen Donnerstag sind in Neukölln 20 Stolpersteine ausgegraben und entwendet worden. Alle in den letzten Tagen. Es sieht danach aus, als sei dieser Bezirk Schauplatz einer gezielten Aktion rechter Kreise geworden. In dieser Richtung ermittelt jedenfalls der polizeiliche Staatsschutz.

Das Gebiet, in dem die Steine seit der Nacht vom 5. auf den 6. November verschwunden sind, ist relativ groß. „Es fehlen 20 Steine an 14 Standorten“, sagt Silvija Kavcic, die die Koordinierungsstelle der Berliner Stolperstein-Initiativen leitet. Entweder müssen es mehrere Täter gewesen sein, oder die Steine verschwanden in verschiedenen Nächten. Ein Bekennerschreiben liegt der Polizei bisher nicht vor, und gesicherte Erkenntnisse zur Motivation der Täter gebe es deshalb nicht, sagt Polizeisprecher Michael Gassen. „Aber wir erkennen ein Häufung“, sagt er. Die Ermittlungen hat das Kommissariat für rechtsmotivierte Straftaten übernommen.

Provokation von Rechts

Es ist nicht vollkommen neu, dass vor allem im November Menschen mit rechter Gesinnung auf sich aufmerksam machen. Im vergangenen Jahr hatten Neonazis den Jahrestag der Pogromnacht auf eine etwas andere Art und Weise zum Anlass für eine Aktion genommen. Sie veröffentlichten im Internet eine Liste jüdischer Geschäfte und Einrichtungen. Auf Facebook posteten sie eine Berlin-Karte unter der Überschrift „Juden unter uns“ und listeten die Adressen von 70 Einrichtungen auf.

Darunter waren die israelische Botschaft, aber auch jüdische Läden, Restaurants, Schulen und Kindergärten. Die Polizei leitete damals ein Strafverfahren wegen Verdachts der Volksverhetzung ein. Laut Verfassungsschutz stammten die Verfasser der Liste aus Neukölln und gehörten zum Umfeld einer früher aktiven Gruppe namens „Nationaler Widerstand“. Nach dieser provokativen Aktion liegt es nahe, dass sich das massenhafte Herausreißen der Stolpersteine in diesem Jahr gegen den 79. Jahrestag der November-Pogrome von 1938 richtet.

Die Polizei hat jetzt die Bürger um Hilfe gebeten. Sie sollen die Straße vor ihrem Haus beobachten und auf Auffälliges achten. Die Polizei hat in Neukölln Aushänge an den Briefkästen angebracht. Darauf informiert sie über die Entwendung der Stolpersteine und fordert Zeugen auf, sich zu melden. „Es ist jetzt wichtig, die Augen offen zu halten“, sagt der Polizeisprecher.

Mehr als eine Provokation kann das Entfernen der Steine allerdings nicht bewirken, so finster die Motive der Täter auch sein mögen. Mittlerweile sind im Berliner Stadtgebiet 7 400 Stolpersteine verlegt worden. Es ist ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig, mit dem an Menschen erinnert wird, die zwischen 1933 und 1945 von den Nationalsozialisten verfolgt wurden.

„Am Geld wird es nicht scheitern“

Die Steine selbst sind kleine Betonquader mit einer Kantenlänge von zehn Zentimetern, die in den Gehweg vor dem letzten frei gewählten Wohnort von Verfolgten des Nationalsozialismus eingelassen werden. Auf der Oberfläche befindet sich eine Messingplatte, auf der der Name und das Schicksal des Menschen, an den erinnert wird, zu lesen ist. Erinnert wird an Juden, Sinti, Roma, Menschen aus dem Widerstand, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Opfer der Euthanasie-Morde und Menschen, die als Asoziale verfolgt wurden.

Stolpersteine gibt es in Berlin seit 1996. Und so lange werden auch immer wieder welche beschädigt. Vor eineinhalb Jahren wurden in Friedenau reihenweise Steine beschmiert. Es gab Beschädigungen in Wedding und Lichtenberg. In Charlottenburg hatte sich im vergangenen Sommer die Identitäre Bewegung bezichtigt, Steine beschädigt zu haben. Und auch eine konzentrierte Aktion zum 9. November gab es schon einmal. 2012 waren in Greifswald vor dem 9. November alle Stolpersteine in der Hansestadt ausgegraben worden.

Das Herausreißen der Namen aus dem Berliner Pflaster wird allerdings nur ein Versuch bleiben, die Opfer, ihre Geschichte und ihr Leiden aus dem Stadtbild zu verdrängen. Die Steine werden ersetzt. Die Stolperstein-Initiative hat bereits eine Spendensammlung gestartet. „Am Geld wird es nicht scheitern. Wir freuen uns über jeden der spendet“, sagt die Leiterin der Koordinierungsstelle Silvija Kavcic.

Kerzen und Blumen

Wer am Donnerstag durch die Stadt spaziert ist, der hat ohnehin erkannt, dass die Steine vielen Menschen in dieser Stadt etwas bedeuten. Sie wurden geputzt. Neben den Messingplatten lagen Blumen. Kerzen brannten.

Mit zahlreichen Veranstaltungen wurde auch den Opfern der Pogromnacht gedacht. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) erklärte, das Vermächtnis der Opfer sei eine dauerhafte Verpflichtung für Deutschland: „Antisemitismus und Rassismus haben in unserem Land keinen Platz.“

Vor dem jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße wurden die Namen der 55.969 ermordeten Juden der Stadt aus dem Gedenkbuch des Landes Berlin verlesen. Stellvertretend für die anderen Neuköllner, deren Steine entwendet wurden, sind die fünf nachfolgenden Biografien gedacht.

Fünf Neuköllner

Heinrich Uetzfeld wurde am 22. Juli 1906 in Neukölln geboren. Er war gelernter Maschinenbauer, seit 1922 gewerkschaftlich organisiert und seit 1925 SPD-Mitglied. Uetzfeld lebte in Britz in der Parchimer Allee 7 und war nicht verheiratet. Seit der Gründung im Oktober 1931 gehörte Uetzfeld der SAPD an, einer linkssozialistischen Abspaltung von der SPD. Im April 1933 stand er in Briefkontakt mit dem Mitbegründer der SAPD, Max Seydewitz (1892–1987), der ins tschechische Exil geflüchtet war, und führte Aufträge für diesen aus. Ende Dezember 1933 wurde Uetzfeld wegen eines chiffrierten Briefes verhaftet, den die Polizei abgefangen hatte, und zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Anklage lautete: Vorbereitung zum Hochverrat und Verbrechen gegen das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien. Im Januar 1937 entlassen, wurde Uetzfeld im März 1940 erneut festgenommen und ins Konzentrationslager Dachau gebracht, wo er zu Tode gefoltert wurde. Er starb am 24. Februar 1941.

Kurt Gärtner, Tischler und Sohn eines Tuchmachers, wurde 1898 in Guben Mitglied der SPD. Von 1914 bis 1918 war er Soldat im Ersten Weltkrieg und trat zur USPD über. 1919 wurde er in die Stadtverordnetenversammlung der damals noch selbstständigen Stadt Neukölln gewählt. Als Nachrücker war er seit Ende 1920 Mitglied der BV Neukölln. 1922 trat er wieder in die SPD ein. 1933 wurde er als Stadtverordneter wiedergewählt. Nach dem SPD-Verbot und der Verordnung zur Sicherheit der Staatsführung vom Juli 1933 wurde ihm das Mandat entzogen und die Tätigkeit als Stadt- und Bezirksverordneter verboten. Im Zuge der Aktion „Gewitter“ wurde Kurt Gärtner am 22. August  1944 verhaftet und in das KZ Sachsenhausen gebracht, wo er einige Monate später starb. Angestellte des Friedhofs am Krematorium Baumschulenweg weigerten sich, die Urne mit den Überresten Kurt Gärtners beizusetzen. Erst nach einer Beschwerde seines Sohns Karl konnte Gärtner beerdigt werden.

Gertrud Seele zog 1932 aus der Neuköllner Flughafenstraße in die Parchimer Allee. Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kam sie, die zunächst die Rütli-, dann die Elbe-Aufbauschule in Neukölln besuchte, in Konflikt mit den neuen politischen Verhältnissen. Die junge Frau  wurde  der Elbe-Schule verwiesen, da sie sich spöttisch gegenüber ihrem vormals sozialdemokratischen, nun nationalsozialistisch eingestellten Rektor geäußert hatte. 1941 kam Gertruds Tochter Michaela zur Welt.  Mit ihr  ging sie nach den wochenlangen schweren Luftangriffen auf Berlin  in einen Landwirtschaftsbetrieb in der Lausitz. Dort  machte sie keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen den Krieg und die nationalsozialistische Regierung. Im Januar 1944 wurde sie  verhaftet und es folgte eine Anklage wegen „gehässiger und kriegshetzerischer Äußerungen, Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung“. Am 6. Dezember 1944 erging, gestützt auf Zeugenaussagen, das Todesurteil über Gertrud Seele.  Das Urteil wurde  am 12. Januar 1945 in Plötzensee vollstreckt.

Georg Obst lebte mit seiner Frau Elisabeth in der Gielower Straße 28 b in der Britzer Hufeisensiedlung. Nach dem Verbot der SPD engagierte sich Obst illegal im Untergrund, verteilte Schriften und half untergetauchten Genossen und Genossinnen. Am 7. Februar 1934 verhaftete ihn die Gestapo und warf ihm vor, an einem „hochverräterischen Unternehmen“ beteiligt zu sein. Er wurde in der  Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße verhört und gefoltert. Ein Mitinhaftierter erzählte später, Georg Obst habe gesagt, er halte weitere Torturen nicht mehr aus. Am 8. Februar stürzte er aus dem  dritten Stocks des Gebäudes  und starb noch am selben Tag im Staatskrankenhaus in der Scharnhorststraße. Seine Frau stellte bei der Identifizierung der Leiche die Spuren der Folter fest. Die genauen Todesumstände sind bis heute ungeklärt. Wenig später verließ Elisabeth Obst mit dem gemeinsamen Sohn Bernd die Stadt und zog nach Dortmund. Dort erfolgte auch die Beisetzung von Georg Obsts Urne.

Rudolf Peter gehörte zum Arbeiterwiderstand und wirkte 1943/44 in der Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe mit. Rudolf Peter wurde in Podersam bei Saaz geboren, war Buchbinder von Beruf und gewerkschaftlich organisiert. Er lebte seit 1944 in Berlin und arbeitete als Buchbinder beim Deutschen Verlag. Dort erhielt er Kontakt zur illegalen Gewerkschaftsgruppe und beteiligte sich an der Verteilung illegaler Schriften und Flugblätter. Er bemühte sich um Kontakte zu ehemaligen sozialdemokratischen Funktionären. Rudolf Peter wurde am 28. August 1944 verhaftet und am 18. Januar 1945 vom Volksgerichtshof zu vier Jahren Zuchthaus und Ehrverlust verurteilt. Zur Strafverbüßung wurde er am 2. Februar 1945 ins Zuchthaus Brandenburg-Görden gebracht, wo er am 2. März 1945 ums Leben kam.

Die Biografien wurden von der Stolperstein-Initiative recherchiert und veröffentlicht auf der Internetseite www.stolpersteine-berlin.de.