Neuköllns Bürgermeisterin: Franziska Giffey löst Probleme und trifft den richtigen Ton

Ein Dienstag im Dezember. Vom Keller bis zum Dach wurde das Ernst-Abbe-Gymnasium an der Neuköllner Sonnenallee saniert, für 7,8 Millionen Euro. Alle sind gekommen, um das Bauende zu feiern. Eltern, Schüler, ehemalige Schüler, Politiker versammeln sich in der renovierten Turnhalle. Der Schulchor singt ein Lied des Popmusikers Sting über einen Engländer, der sich in New York fremd fühlt, sie singen es mit solcher Inbrunst, als sei es ein Lied über sie selbst.

Sie wissen, was es heißt, Außenseiter zu sein. Die meisten von ihnen haben ausländische Wurzeln, ihre Familien sind arm, viele haben sechs, sieben Geschwister zu Hause. „Be yourself, no matter what they say.“ Sei du selbst, egal, was die anderen sagen. Eine junge Frau, Kostüm, hochgestecktes Haar, die nur etwas älter wirkt als die Schüler, steht am Rand im Kostüm, klatscht und wippt mit.

„Wer sagt, dass es in Berlin nur Probleme gibt"

Ein dunkelhaariger Junge flüstert seinem Freund zu: „Die mit dem pinken Kleid ist die Bürgermeisterin von Neukölln.“ Die Frau tritt nach vorn. „Herzlich willkommen im spannendsten Bezirk Berlins“, sagt sie gut gelaunt, als würde sie nicht eine renovierte Schulturnhalle eröffnen, sondern mindestens die Olympischen Spiele. Die Frau heißt Franziska Giffey, ist 39 Jahre alt, seit zwei Jahren Bürgermeisterin von Neukölln – und eine der Zukunftshoffnungen der SPD.

In der Turnhalle wendet sie sich direkt an die Schüler, die vor ihr stehen. „Wer sagt, dass es in Berlin nur Probleme gibt: Ihr seid der Beweis, dass das nicht stimmt. Ihr seid eine neue starke Generation. Wir wollen, dass ihr euren Weg macht, dass ihr stolz auf Neukölln seid und unser Land voranbringt.“ Eine kleine schlichte Rede, aber mit so viel Schwung vorgetragen, dass alle danach klatschen. Der Schulleiter hat Tränen in den Augen. Es sind nicht die Worte, die sie sagt, sondern der Ton, wie sie Giffey vorträgt.

Wohin will Franziska Giffey?

Die Gefühle, die da mitschwingen. Sie klingt fast mütterlich. Nach der Rede stürmen verschiedene Leute auf sie ein. Eine Frau vom Förderverein sagt: „Sie waren die Frischeste von allen.“ Eltern kommen auf sie zu, machen Komplimente, drücken ihr Kuchen in die Hand. Mädchen knipsen Selfies mit der Bürgermeisterin. Sie wird am Ende zu ihrem nächsten Termin zu spät kommen, weil sie so viele Selfies machen muss.

Solche Szenen erinnern an einen anderen Berliner Politiker. Nicht an den amtierenden Regierenden Bürgermeister Michael Müller, der eher scheu auftritt. Sondern an Klaus Wowereit. Er war auch so ein Menschen-Magnet. Wowereit stieg ins Rote Rathaus auf und wurde Regierender Bürgermeister. Wohin will Franziska Giffey?

Ich bin hier ganz richtig

Kurz vor Weihnachten, in der Kantine des Neuköllner Rathauses gibt es Königsberger Klopse. Die Bürgermeisterin balanciert ihr Tablett an den Tischen vorbei. Tachchen hier, Tachchen da, ein Wort für die Kassiererin, ein Lächeln zum Opa am Nebentisch. Franziska Giffey setzt sich hin und legt ihre Serviette beiseite. Sie hört sich die Fragen, was sie als Nächstes in der Politik erreichen, ob sie aufsteigen will in der Partei, aufmerksam an. Dann sagt sie: „Ich glaube, ich bin im Neuköllner Rathaus ganz richtig“ und zerschneidet einen Klops. „Aber niemand kann in die Zukunft schauen“, fügt sie hinzu.

Sie hat noch viel vor, das würde sie nicht bestreiten. Aus den Machtkämpfen der Landespartei hält sie sich weitestgehend heraus. Mögen Michael Müller und Raed Saleh, der Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus, sich gegenseitig fertig machen, sie punktet mit Sacharbeit. Ist die Stimme der Vernunft. Es vergeht kaum ein Tag, in dem Franziska Giffey nicht in den Schlagzeilen ist.

Anecken und Spaß dabei

Das liegt an ihrem Bezirk, in dem sich die Probleme ballen, Armut, Drogenmissbrauch, Obdachlosigkeit, aber auch an der Art, wie sie damit umgeht, zupackend, pragmatisch, offen. Sie kann sehr herzlich sein, wie in der vergangenen Woche, als sie das abgebrannte Musikhaus Bading besuchte, aber auch unnachgiebig, wie neulich, als sie osteuropäische Obdachlose zurück in ihre Heimatländer bringen ließ. Seit neuestem ist sie auch für die Koordination des Schulbaus zuständig, das größte Infrastrukturprojekt des Landes seit Jahrzehnten, ein Prestigeprojekt für die SPD.

Während andere Bezirkschefs den Runden Tisch als höchste Form der Tatkraft erkoren haben, trifft Franziska Giffey Entscheidungen und eckt damit auch an. Man hat sogar den Eindruck, dass ihr das Spaß macht. Sei du selbst, egal, was andere sagen, sang der Schulchor der arabischen und türkischen Schüler.

„Holen Sie Kohle aus Europa nach Neukölln“

Eigentlich ist Franziska Giffey gar nicht so anders als die Schüler aus arabischen und türkischen Familien. Stammt auch aus einem anderen Land. Sie ist 1978 in Frankfurt (Oder) geboren und in einem Dorf im Osten Brandenburgs aufgewachsen. Ihr Vater ist Kfz-Meister, ihre Mutter Buchhalterin. Sie war elf, als die Mauer fiel. Nach dem Abitur wollte sie eigentlich Lehrerin werden, aber dann machte die Stimme nicht mit. Sie studierte Verwaltung, 2002 holte sie der damalige Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky als Europabeauftragte ins Bezirksamt.

„Holen Sie Kohle aus Europa nach Neukölln“, mit diesen Worten habe er sie eingestellt. Sie trieb ihre Karriere danach systematisch voran. Schrieb abends und am Wochenende an einer Promotion. Ein Doktortitel schadet nicht, wenn man als Frau ernst genommen werden will. Heiratete. Bekam ein Kind. Tat sich im Amt eine Lücke auf, stand sie bereit. 2010 wurde sie Stadträtin für Bildung, Kultur, Schule und Sport, 2015 trat Buschkowsky zurück, sie wurde Bürgermeisterin.

„Es kommt auf die Haltung an, nicht auf die Herkunft"

Nun führt sie ausgerechnet den Bezirk, den viele Brandenburger als Beispiel anführen, wenn sie darüber reden, was sie so schlimm am Moloch Berlin finden. Franziska Giffey wird wortkarg, wenn es um ihre Herkunft geht. Sie erzählt nur, dass sie zu ihren Eltern ein enges Verhältnis habe, sie um Rat bei Karriereentscheidungen frage.

Die Oma springt oft ein, kümmert sich um den achtjährigen Sohn. Ihre ostdeutsche Biografie spiele in Neukölln keine Rolle. Viele kämen hier von irgendwo anders her, aus der Türkei, aus dem Libanon, aus Köln, Warschau, New York. „Es kommt auf die Haltung an, nicht auf die Herkunft – wichtig ist nicht, woher du kommst, sondern wer du sein willst“, sagt sie und hört sich an wie der Popmusiker Sting. Doch woher kommt die Haltung?

Drogenkonsum und Verwahrlosung in Neukölln sind ein großes Thema

Es fällt an Franziska Giffey auf, wie wichtig ihr Regeln und deren Einhaltung sind. Wenn Politiker von der Gefahr reden, die durch AfD und Pegida droht, dann sagen sie gern, dass man die Werte dieser Gesellschaft stärker verteidigen muss. Franziska Giffey redet nicht viel, sie legt einfach los. Kurz nachdem sie Bürgermeisterin wurde, ließ sie sich auf einen Rechtsstreit mit einer Referendarin ein, die im Rechtsamt Kopftuch tragen wollte. Giffey war klar dagegen, ihre SPD überlegte noch. Kürzlich schloss sie sich einer Initiative an, die für das Neutralitätsgesetz auf Landesebene kämpft.

Auch in anderen Bereichen pocht die Bezirksbürgermeisterin auf die Einhaltung von Regeln. Bei einem Vortrag vor dem Juristinnen-Bund berichtete sie von der Zunahme von Drogenverkauf, Drogenkonsum und Verwahrlosung in ihrem Bezirk. Sie sagte, sie wünsche sich eine konsequentere Justiz, die Leute dürften nicht das Gefühl bekommen, dass es sich lohne, das Gesetz zu brechen.

Angehen gegen die Straftaten am Hermannplatz

Wenig später meldete sich Generalstaatsanwalt Ralf Rother – aus dem Gespräch entstand eine neue Taskforce „Staatsanwalt vor Ort“. Mithilfe der Polizei, des Ordnungs- und Gewerbeamts geht sie verstärkt gegen kriminelle Clans vor. Die Beamten kontrollieren Shisha-Bars und Imbisse, inspizieren von Drogenkriminalität belastete Spielplätze. Neu dabei ist, dass ein Staatsanwalt die Kontrollen begleitet und ein eigenes Büro im Amtsgericht hat. Giffey will, dass die Strafverfolgungsbehörden wissen, was vor Ort läuft, dass sie früh aufmerksam werden.

Der Innensenator will Videoüberwachung bisher nur ausnahmsweise und unter speziellen Bedingungen zulassen. Franziska Giffey reicht das nicht: „Wir haben am S-Bahnhof Hermannstraße pro Jahr dreitausend registrierte Straftaten. Dreitausend! Die Antwort kann nicht sein: Woanders ist es noch schlimmer. Wir müssen dagegen vorgehen“, sagt sie beim Gespräch in der Kantine des Rathauses.

Wie der ehemalige Osten sie beeinflusst

Es sind solche Positionen, die ihr den Ruf eingebracht haben, eine Law-and-Order-Frau zu sein. Bei den Bürgern kommt das an, bei den Parteifreunden nicht unbedingt. Wenn man auf die Einhaltung von Regeln pocht, gilt man in der Berliner SPD schnell als rechts. Sie selber kann mit solchen Einordnungen wenig anfangen, sie beschreibt sich lieber als „unideologisch, pragmatisch, mit sozialdemokratischen Grundsätzen“. Die Berliner Politik ist ihr manchmal zu behäbig, zu unentschlossen. „Ich will nicht ewig diskutieren, ob man ein Problem haben darf oder nicht, ich will es lösen.“

Könnte ihr Beharren auf die Einhaltung von Regeln nicht damit zusammenhängen, dass sie in einer Zeit groß geworden ist, in der im Osten alle Regeln zusammenbrachen? Und sie deshalb umso besser begreift, wie wichtig sie für den Zusammenhalt der Gesellschaft sind. Sie guckt auf ihren Teller mit den Klopsen und überlegt. „Vielleicht hat das auch eine Rolle gespielt. Aber ich sehe jeden Tag, was passiert, wenn Regeln nicht eingehalten werden und wie das dem gesellschaftlichen Zusammenleben und dem sozialen Frieden schadet. Das ist für mich der ausschlaggebende Punkt.“

Sicherheit und Ordnung sind sehr wichtige Themen

Sie erzählt schließlich, dass einmal in der dritten Klasse eine Lehrerin einen Satz ins Zeugnis geschrieben habe, der sie bis heute beschäftige: „Auf Franziska kann man sich verlassen.“ Sie hat den Satz mitgenommen ins Rathaus Neukölln. Auf den Staat muss man sich verlassen können. Es ärgert sie, dass die SPD das Thema innere Sicherheit nicht stärker besetzt, wie unentschieden ihre Partei manchmal ist. „Ich will und kann nicht darüber hinweggehen, dass Sicherheit und Ordnung sehr wichtige Themen sind, die die Menschen überall bewegen, da müssen wir Antworten geben.“

Ein Mittwoch kurz vor Weihnachten. Ein Auflauf in der Donaustraße. Der umstrittene Ali-Baba-Spielplatz soll eröffnet werden, darauf steht eine Spielburg mit orientalischen Kuppeln. Eine ähnliche Burg gibt es auch in der Hasenheide, sie wurde vor 15 Jahren eröffnet, interessierte keinen. In der Donaustraße erkannte ein CDU-Politiker jetzt eine Moschee und warnte vor Islamisierung. Die Aufregung war groß.

„Es wird Zeit, dass Franziska Giffey eine stärke Rolle in der SPD spielt.“

Jemand anders hätte den Spielplatz vielleicht stillschweigend eröffnet, Giffey macht einen PR-Termin draus. Geht das Risiko ein, dass wieder etwas missverstanden wird. Sie verteilt Schokoweihnachtsmänner und begrüßt jeden einzelnen Mitarbeiter mit Handschlag. Solche kleinen Gesten sind ihr wichtig. Wertschätzung für die Arbeit zeigen, das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken. Jeder, der neu dazu kommt, bekommt Neuköllner Wappen. Neuen Kollegen erklärt die Bürgermeisterin, dass sie hier Dienstleister und Bürger keine Störenfriede sind. Solche Töne hört man in Berlin selten.

Heißt es nicht neuerdings, die SPD soll jünger, weiblicher und ostdeutscher werden, also ein bisschen so wie die Neuköllner Bürgermeisterin? Wäre sie womöglich die Rettung für die angeschlagenen Berliner Sozialdemokraten? „Man kann sich Franziska auf vielen Ebenen vorstellen“, sagt ein Bundestagsabgeordneter. Sie müsse nur das weiter machen, was sie bisher tue, dann kämen die größeren Aufgaben von alleine.

Ein älterer Kollege aus der Bildungsverwaltung, der sie lange kennt, sagt: „Es wird Zeit, dass Franziska Giffey eine stärke Rolle in der SPD spielt.“ Sie habe sich toll entwickelt, sagt er. Er meint es vielleicht nicht so, klingt aber etwas überheblich, von oben herab. Man ahnt, mit welchen Vorurteilen Franziska Giffey zu Beginn ihrer Karriere zu kämpfen hatte, als junge Frau, als junge Mutter.

Was der Regierende übelnahm

Nach der Wahlniederlage im September schien es, als würde sie eine Debatte um Michael Müller in Gang bringen wollen. Sie sagte, sie habe Zweifel, ob das Doppelamt Regierender Bürgermeister und SPD-Landeschef wirklich optimal wäre und ob man nicht die Lasten auf mehrere Schultern verteilen sollten. War das eine Kampfansage? Will sie Landeschefin werden? Ihr Satz wurde als Griff nach der Macht gewertet und wurde ihr von Müller übelgenommen, heißt es aus seinem Umfeld.

Es wurde gleich vermutet, dass sie von seinem Konkurrenten, dem Fraktionschef Saleh, geschickt wurde. Als könne eine Frau keine eigene Agenda haben. Sie sagt, sie sei missverstanden worden. Das kann man Giffey, die sonst so klar kommuniziert, kaum glauben. Sie will eigentlich nicht mehr über die Sache reden. „Ich habe das nur mit meiner Situation verglichen: Ich bin Bürgermeisterin und Kreischefin und weiß, wie kräftezehrend die beiden Aufgaben sein können.“ Sie hat ihre Klopse aufgegessen. Sie steht auf, der nächste Termin.