Berlins Feuerwehrchef: „Wir sollten uns auf lebensbedrohliche Lagen beschränken“

Mit einer gemeinsamen Kampagne werben Feuerwehr und Kassenärztliche Vereinigung dafür, dass nicht jedes gesundheitliche Problem ein Fall für die 112 oder die 116117 ist. Ein Gespräch.

Ein Rettungssanitäter der Berliner Feuerwehr bereitet eine Vakuummatratze zum Transport einer verletzten Frau vor.
Ein Rettungssanitäter der Berliner Feuerwehr bereitet eine Vakuummatratze zum Transport einer verletzten Frau vor.Arne Bänsch/dpa

Die Notfallversorgung ist in Berlin am Limit. Das liegt unter anderem daran, dass Berliner den Notruf der Feuerwehr und den Ärztlichen Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin auch bei leichteren Verletzungen oder Erkrankungen wählen.

Um die Notfallversorgung zu entlasten, starten die Feuerwehr und die KV Berlin an diesem Freitag eine Informationskampagne unter dem Motto „Die richtige Nummer im richtigen Moment“.

Sie wollen die Berliner im Umgang mit den Notfallnummern 112 und 116117 sensibilisieren. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre hätten gezeigt, dass die beiden Notfallnummern viel zu häufig angerufen werden, obwohl keine lebensgefährliche Situation beziehungsweise keine akuten gesundheitlichen Beschwerden vorliegen. Ein Gespräch mit Berlins Feuerwehrchef Karsten Homrighausen und dem Vorstandsvorsitzenden der KV Berlin, Burkhard Ruppert.

Was wollen Sie mit Ihrer Informationskampagne erreichen?

Karsten Homrighausen: Wenn Sie heute auf der Straße fragen: Wen würden Sie anrufen, wenn Sie medizinische Sorgen haben?, dann hören Sie immer reflexartig die 112. Aber es gibt auch die Nummer 116117 der Kassenärztlichen Vereinigung, die ein wichtiges Beratungssegment im Rahmen der Notfallversorgung ist. Bei vielen Notrufen erkennen wir, dass es einer Sensibilisierung bedarf, in welchen Fällen die 112 und in welchen Fällen die 116117 die richtige Nummer ist, oder ob es überhaupt eines Anrufs bei einer der beiden Notfallnummern bedarf.

Sollte es dazu kommen, dass sich jetzt mehr Menschen überlegen, anstatt der 112 die 116117 anzurufen, werden da nicht die Probleme nur verlagert?

Burkhard Ruppert: Hier wird kein Problem weitergegeben, sondern es handelt sich um eine partnerschaftliche Zusammenarbeit. Beide Organisationen stimmen sich seit Jahren intensiv ab. So haben wir zum Beispiel bei der digitalen Weitergabe von Patienten eine sehr gute Lösung gefunden. Auch wenn die Annahme der Anrufenden durch die KV Berlin beim Code „Bauchschmerzen“ zu einer deutlichen Übernahme-Quote von Patienten an die KV geführt hat, war es eine richtige Entscheidung.

Burkhard Ruppert, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin
Burkhard Ruppert, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung BerlinChristof Rieken/KV Berlin

Mittlerweile sind es über 33.000 Patienten, die wir im letzten Jahr der Feuerwehr abgenommen haben. Zurückgegeben an die 112 wurden circa 11.000. Das betraf Anrufer, die tatsächlich Notfälle waren. Man muss an dieser Stelle aber auch sagen, dass viele der Anrufenden auch bei der 116117 nicht richtig aufgehoben sind.

Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, unsere Kampagne ins Leben zu rufen, die auch für die Frage sensibilisieren soll: Ist es jetzt wirklich in diesem Moment notwendig, mich an eine dieser Institutionen zu wenden, oder hat es Zeit, bis zum nächsten Tag zu warten und zur Arztpraxis zu gehen?

KV-Chef: „Wir mussten die Reißleine ziehen“

Man hat den Eindruck, dass sich zwei Überlastete zusammenschließen. Im Dezember haben Sie, Herr Ruppert, Alarm geschlagen, dass die KV stark belastet sei.

Ruppert: Wir versorgen immer mehr Patienten entsprechend ihres medizinischen Bedarfs. Früher bekam, egal wer anrief, vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst einen Hausbesuch. Jetzt können wir durch unsere strukturierte medizinische Ersteinschätzung die Versorgung anbieten, die auch medizinisch sinnvoll ist. Dazu haben wir vor einigen Jahren das System der Beratungsärzte in unserer Leitstelle eingeführt, weshalb wir die Hausbesuche, die nicht medizinisch begründet waren, deutlich reduzieren konnten. Das heißt aber nicht, dass die Menschen schlechter versorgt sind. Gleichzeitig haben wir mehr telefonische Beratungsgespräche geführt.

Das führt tatsächlich auch zu Überlastungssituationen in unserer Leitstelle, wie wir sie etwa zum Jahresende hatten. Aber insgesamt erhoffen wir uns mehr eine Hinwendung zu dem, was medizinisch wirklich notwendig ist. Dazu soll auch diese Kampagne dienen.

Fakt ist aber: Sie haben seit Anfang des Monats nur noch einen statt zwei Beratungsärzte.

Ruppert: Wir mussten hier die Reißleine ziehen, weil sich die Krankenkassen an den jährlichen Kosten von rund 1,6 Millionen Euro nicht beteiligen wollen. Das gehört auch zur Wahrheit dazu, dass es sich beim Ärztlichen Bereitschaftsdienst um ein Zuschussgeschäft handelt. Allein in 2021 hatten wir eine Lücke von 4,4 Millionen Euro. Hier stehen wir auch in der Verantwortung unseren Mitgliedern gegenüber, die Kosten im Blick zu behalten.

Homrighausen: Der Eindruck, dass sich zwei belastete Partner zusammentun, ist falsch. Bei den Notrufen, die bei uns über die 112 reinkommen, stellen wir standardisiert über ein Protokoll die Schlüsselfragen, die zu der Einschätzung führen, ob es ein Einsatz für die Feuerwehr ist oder nicht. Dieses Protokoll ist hoher internationaler Standard. Immer nur dann, wenn man am Ende dieses standardisierten Notrufabfrageprotokolls zu dem Ergebnis kommt, dass es kein Einsatz für die Feuerwehr ist, wenn es etwa einer Beratung bedarf, geben wir an die KV ab. Insofern nimmt uns die KV keine Einsätze ab, die Einsätze der Feuerwehr wären. Wir stellen fest, dass immer wieder Notrufe auf der 112 landen, auch wenn keine hohe Gesundheits- oder Lebensgefahr besteht. Ein wesentlicher Punkt unserer Kampagne ist es, die Zahl der Notrufe ein Stück weit zu senken.

Warum wählen so viele Berliner die 112?

Homrighausen: Das ist eine Frage der Lebensverhältnisse einer Großstadt. Wir haben die größte Quote an Singlehaushalten. Viele wissen nicht, wen sie fragen können, wenn sie unsicher sind. Das mag auf dem Land mit Mehrgenerationenhäusern anders aussehen. Da gibt es noch jemanden, der sagt: „Mach mal Wadenwickel“. Wir beobachten auch, dass man mit der Mentalität, dass man von zu Hause alles mit dem Smartphone bestellen kann, sich auch ärztliche Beratung bestellen will. Meines Erachtens ist die fehlende Selbsthilfefähigkeit in medizinischen und Gesundheitsfragen ein wichtiger Punkt.

Patienten werden zu früh aus Kliniken entlassen, man bekommt keinen Termin beim Arzt, weil dessen Budget begrenzt ist. Auch deshalb wenden sich viele Menschen an Feuerwehr, Rettungsstellen und Ärztlichen Bereitschaftsdienst. Kann es sein, dass KV und Feuerwehr die Krise im Gesundheitssystem ausbaden müssen?

Ruppert: Seit Jahren fordern wir Reformen. Unsere strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Zusammenarbeit mit der Feuerwehr funktioniert sehr gut. Wir haben eine modernisierte Leitstelle und elf Notdienstpraxen eingerichtet. Wir haben den Ärztlichen Bereitschaftsdienst mit unseren Beratungsärzten und dem fahrenden Dienst, ohne dass es auskömmlich finanziert wird. Wir sind mit vielem in Vorleistung gegangen und erwarten von der Politik, dass sie endlich handelt.

Wenn man ein effizientes Gesundheitssystem haben möchte, braucht man genügend finanzielle Mittel und muss entsprechende Strukturen schaffen. Ich verstehe bis heute nicht, warum wir in Berlin 39 Rettungsstellen an den Krankenhäusern vorhalten. Wir haben 24 Herzkatheder-Stellen, aber weniger als 24 Herzinfarkte pro Tag. Es muss zu deutlichen Konzentrationsprozessen gerade in der Notfallversorgung kommen und zu mehr Qualität durch Quantität. Denn wenn ich etwas häufiger mache, dann kann ich es auch besser. Aber das größte Problem, das wir sehen, ist der Fachkräftemangel. Hier werden wir um eine Konzentration von Versorgungsangeboten nicht herumkommen.

Nochmal zurück zur Anfangsfrage: Wenn die KV nur noch einen Beratungsarzt hat – packen Sie das? Oder werden die Anrufer ewig in der Leitung hängen?

Ruppert: Nochmal, Ziel unserer Kampagne ist es nicht, dass sich mehr Menschen an die 116117 wenden. Ein Anruf bei der 116117 bedeutet nicht gleichzeitig, dass der Ärztliche Bereitschaftsdienst den fahrenden Dienst nach Hause schickt. Wir schauen ganz genau hin, welche gesundheitlichen Beschwerden vorliegen und ob wir eine Versorgungsoption empfehlen. Ob wir unter den jetzigen Bedingungen die Wartezeiten in unserer Leitstelle reduzieren können, das kann ich Ihnen nicht sagen. Wenn man von der KV fordert, sich um solche Strukturen zu kümmern, dann müssen die auch durchfinanziert sein. Darauf muss man die Politik aufmerksam machen. Es kann doch nicht sein, dass wir aus unserem Verwaltungshaushalt jedes Mal Geld in einem beträchtlichen Ausmaß zuschießen müssen, weil die Finanzierung durch die Krankenkassen nicht gedeckt ist.

Feuerwehrchef: Eine Reform muss nicht mehr kosten

Nur zum Verständnis: Finanzieren sollen die Krankenkassen und der Staat?

Ruppert: Auf Seiten der Feuerwehr der Staat und auf Seiten von uns die Krankenkassen.

Das dürfte die Versichertenbeiträge weiter hochtreiben.

Ruppert: Das glaube ich nicht. Man muss sich Gedanken machen über das Gesamtsystem. Warum braucht eine Stadt wie Berlin 39 Rettungsstellen? Das kostet doch alles ein Wahnsinnsgeld!

Homrighausen: Das muss nicht zwangsläufig mehr kosten. Aber wenn die Beratungsleistungen der KV am Telefon heruntergefahren werden mit der Konsequenz, dass es längere Wartezeiten gibt, dann wird derjenige, der dort anruft, das Gefühl haben, dass es ihm von Minute zu Minute schlechter geht. Irgendwann meldet er sich dann über die 112 bei uns. Und dann sind wir beim RTW mit Transport bei rund 300 Euro und bei 350 Euro für ein Notarzteinsatzfahrzeug – alles auf Kosten der Krankenkassen. Der Beratungsarzt am Telefon hätte ein Bruchteil davon gekostet. Es muss also nicht zwingend teurer werden, sondern muss nur aufeinander abgestimmt sein. Es ist nicht ersichtlich, warum die Krankenkassen die ärztliche Beratungsleistung der KV nicht bezahlen wollen.

Karsten Homrighausen, Landesbranddirektor und Leiter der Berliner Feuerwehr
Karsten Homrighausen, Landesbranddirektor und Leiter der Berliner FeuerwehrJörg Carstensen/dpa

Ruppert: Für uns ist das auch nicht nachvollziehbar. Im Jahr 2020 hatten wir circa 101.000 Hausbesuche und 61.000 telefonische Beratungen. Mittlerweile sind wir im vergangenen Jahr bei 79.000 Hausbesuchen und hatten aber 96.000 Gespräche der Beratungsärzte. Zwei Drittel dieser Beratungen waren abschließend. Da brauchte es keine weitere Versorgung mehr. Das ist eine Maßnahme, die unglaublich Kosten dämpft. Da kann ich es nicht verstehen, warum es nicht möglich ist, die Kassen davon zu überzeugen, dass es eine sinnvolle Maßnahme auch für sie und am Ende die Versichertengelder ist.

Der Rechnungshof hat festgestellt, dass die Zahl der Notrufe in den vergangenen Jahren relativ konstant blieb. Trotzdem ist die Zahl der Einsätze, die mit RTW beschickt wurden, stark gestiegen. Woran liegt das?

Homrighausen: Durch eine Änderung des Rettungsdienstgesetzes mit Wirkung ab 2016 wurde nicht mehr nur die unmittelbare Lebensgefahr in die Aufgaben des Rettungsdienstes gehoben, sondern auch eine Gefahr, die für die Gesundheit drohen kann. Insofern ist hier Aufgabenkritik angezeigt, und wir sollten uns beschränken auf die lebensbedrohlichen Lagen. Nicht jeder braucht einen Notfallsanitäter. Es gibt auch Lagen, da reicht ein Krankentransport. Oder auch nur eine Taxifahrt.