Obdachlose in Berlin: „Housing first" will Obdachlose von der Straße holen
Der Sommer neigt sich dem Ende, in einigen Wochen müssen sich die Obdachlosen wieder einen geschützten Schlafplatz suchen. Im vorigen Winter reichten die Plätze in den Unterkünften knapp. Wie es in diesem Winter sein wird, weiß niemand, doch Berlin bereitet sich vor. In einem Projekt sollen 40 Wohnungen dauerhaft für Obdachlose bereitgestellt werden. 1,1 Millionen Euro hat der Senat dafür eingeplant, ein Baustein der Aktionswoche Wohnungsnot die Montag ausgerufen wurde. Und genau in diese Woche platzen die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) mit der Nachricht, ihre Bahnhöfe im Winter nachts nicht mehr für Obdachlose zu öffnen.
Zwar sei noch keine endgültige Entscheidung getroffen, aber die BVG müsse sich diese Frage stellen, sagte ihr Sprecher Markus Falkner. Die BVG hat vor allem Sicherheitsbedenken. Nachts bleibe beispielsweise der Starkstrom im Gleisbereich eingeschaltet, das sei lebensgefährlich, hat BVG-Chefin Sigrid Nikutta in einem Interview mit der Berliner Morgenpost gesagt. Es gebe zudem keinen Bedarf mehr für die Kältebahnhöfe, sagt Nikutta. Im vergangenen Jahr hat das Land Berlin für die Kältehilfe bis zu 1264 Übernachtungsplätze bereitgestellt, so viel wie noch nie.
Das Projekt „Housing first“
Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) widerspricht der BVG-Chefin. „Trotz der Kältehilfe und ausreichender Plätze dort, gibt es Obdachlose, die in die Bahnhöfe gehen und nicht in die Übernachtungsmöglichkeiten der Kältehilfe. Wir brauchen auch die U-Bahnhöfe“, sagte sie der Berliner Zeitung. Am Montagabend gab es dazu ein Gespräch mit der BVG-Chefin.
In Berlin steigt die Zahl der Menschen ohne feste Bleibe. Die Zahl der Wohnungslosen wird auf über 30.000 geschätzt. 2015 waren es noch 17.000. Komplett auf der Straße leben Schätzungen zufolge zwischen 4000 und 6000 Obdachlose. Mit dem Projekt „Housing first“ will Berlin zumindest einige von ihnen dauerhaft von der Straße holen und ihnen auf unkompliziertem Wege eine Wohnung vermitteln. Die Idee „Housing first“ stammt aus den USA der aus 90er Jahren und wurde mittlerweile in Kanada sowie in europäischen Städten wie Dublin, Helsinki und Wien erfolgreich umgesetzt.
Hilfe ohne Bedingungen für Obdachlose
„Eine eigene Wohnung ist das wichtigste“, sagt Ingo Bullermann, Geschäftsführer der Neue Chance gGmbH. „Für Obdachlose ist es der Anfang, ihr Leben zu verändern.“ In einer Projektpartnerschaft mit Neue Chance und der Berliner Stadtmission finanziert das Land Berlin für die kommenden drei Jahre 1,1 Millionen Euro für dieses Projekt. „Ziel ist, wohnungs- und obdachlose Menschen wieder einen Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen“, sagt Sozialsenatorin Breitenbach.
Nun ist es auch bisher schon gängige Praxis, dass die zuständigen Ämter Obdachlosen bei der Suche nach einer eigenen Wohnung behilflich sind und die Mietkosten übernehmen. Doch oft sind diese Hilfsangebote mit Erwartungen verbunden und an Bedingungen geknüpft, die die Bedürftigen erfüllen müssen. Sie sollen sich zum Beispiel um einen Job kümmern oder um eine Ausbildung, mit einer Therapie anfangen oder einen Entzug machen. „Housing first“ hingegen stellt keine Bedingungen. „Wir helfen den Menschen dort, wo sie Hilfe annehmen wollen. Wir setzen keine Druckmittel ein“, sagt Ingo Bullermann.
Dieses Vorgehen erzeuge weniger Widerstände und motiviere die Obdachlosen. Sie unterschreiben einen unbefristeten Mietvertrag. Fortan kümmern sich Sozialarbeiter um die neuen Mieter, ebenso Hauswirtschaftler und Betreuer, die früher selbst obdachlos waren, sich also noch gut daran erinnern, wie schwierig es sein kann, sich nach einigen Jahren auf der Straße wieder an eine Wohnung zu gewöhnen, mit einkaufen, kochen und die Wohnung sauber halten.
Drogenabhängige Obdachlose haben keine Chance
Doch wer auf all diese Angebote verzichtet, wird nicht seine Wohnung verlieren. Immerhin sind die Kosten für die Miete geringer als die Kosten in Notübernachtungen, Übergangsheimen und Kriseneinrichtungen. Komplett bedingungslos ist das Angebot dann aber doch nicht. Wer sich an „Housing first“ beteiligen will, muss sich bewerben und im Büro vorstellen. Die Mitarbeiter entscheiden, ob die Kandidaten für ein eigenständiges Leben in einer Wohnung geeignet sind. Wer etwa schwer drogenabhängig ist oder psychisch schwer krank, hat keine Chance auf eine Wohnung. Zudem müssen die Bewerber Anspruch auf Sozialleistungen haben, was überwiegend deutsche Staatsbürger betrifft und einige EU-Bürger.
Die 40 avisierten Wohnungen müssen allerdings erst einmal gefunden werden. Bis Oktober sollen Mitarbeiter Angebote von Wohnungsbaugesellschaften und privaten Vermietern einholen. Denn die Sozialverwaltung hat es bisher nicht geschafft, die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften der Stadt davon zu überzeugen, sich an dem Projekt zu beteiligen. Dabei sei das Risiko für die Vermieter gering, sagt Ingo Bullermann, denn sämtliche neuen Mieter hätten Haftpflicht- und Hausratsversicherungen. Er appelliert an die soziale Verantwortung der Vermieter und ihr öffentliches Ansehen. „Wir nehmen jede Wohnung, die wir kriegen können.“