Hals- und Beinbruch: Eine Bilanz nach drei Monaten Winterradeln in Berlin

Wenn der ÖPNV lahmliegt und das Auto keine Option ist, bleibt nur der Griff zum Fahrradhelm. Doch kann man das Radfahren im Berliner Winter überhaupt empfehlen?

Der Winter ist eine wirklich gute Zeit zum Radfahren. Spätestens im Juni, umringt von Lastenradkutschen und E-Roller-Touristen, werde ich sie mir zurückwünschen.
Der Winter ist eine wirklich gute Zeit zum Radfahren. Spätestens im Juni, umringt von Lastenradkutschen und E-Roller-Touristen, werde ich sie mir zurückwünschen.Roshanak Amini für die Berliner Zeitung am Wochenende

Am Anfang war der Plan: Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich den ganzen Winter über Rad fahren, quer durch Berlin, jeden Tag. Die Homeoffice-Zeit war vorüber, und ich wollte mir keine ÖPNV- oder Autoausnahmen gestatten, es sei denn, es eisregnet oder stürmt. Ansonsten galt: Morgens zehn Kilometer vom nördlichen Stadtrand bis in die Redaktion nach Kreuzberg, abends die gleiche Strecke zurück.

Das alles hat nun kaum heroische Fitnesshintergründe, sondern war ganz pragmatisch aus der Not heraus entstanden. Das Auto fällt wegen Stauanfälligkeit und fehlender Parkmöglichkeiten in der Innenstadt aus. Und seitdem Pankow wegen des Tunneldesasters am Alexanderplatz de facto auf die U2 verzichten muss, sind öffentliche Verkehrsmittel auch keine Option mehr. Als ich einmal aus terminlichen Gründen doch gezwungen war, auf die BVG umzusteigen, brauchte ich von Haustür zu Haustür anderthalb Stunden. Mit dem Fahrrad benötige ich in gemütlichem Tempo die Hälfte der Zeit. 

Also Radfahren. Ich freute mich darauf und schrieb Ende November eine Art Vorabkolumne unter dem Titel: „Schön kalt, schön leer: Der Winter ist die beste Zeit zum Radfahren in Berlin“. Bei Facebook prognostizierten mir daraufhin etliche Kommentatoren das Schlimmste. Eine Userin, die mit kaum verhohlener Schadenfreude beschrieb, welches Geräusch die Räder eines Lastkraftwagens produzieren würden, wenn sie einen Radfahrer überrollten, musste ich wegen Hassrede und Gewalt melden. 

Links-grüne Ideologie? Wohl doch eher Pragmatismus

Aber auch andere Kommentare lasen sich nicht gerade motivierend. Ein Herr Koch meinte, ich übernehme mit meinem Vorhaben eine „Multiplikatorenfunktion der links-grünen Ideologie“. Und ein Herr Wozny wünschte mir „einen richtigen Winter, Eisglätte und Schneesturm“, sowie „Hals- und Beinbruch“. 

Nun, nochmals vielen Dank an dieser Stelle, aber rückblickend sei gesagt: Ich hielt durch, brach mir weder Hals noch Bein, ja, ich fiel nicht mal hin. Die Tiefsttemperatur von minus elf Grad, gemessen Mitte Dezember in Berlin, überstand ich mit einem frostigen Gefühl im Gesicht, aber  dank warmer Jacke und der fortwährenden Bewegung ansonsten unbeschadet. Wie sich herausstellte, war mir eigentlich immer nur die ersten fünf Minuten kalt, nach spätestens zehn Minuten dann tendenziell eher zu warm.

In Berlin warten andere Hürden als die passgerechte Kleidung, für die ohnehin jeder selbst verantwortlich ist. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC), der sich als verkehrspolitischer Verein und Fahrradlobby für die konsequente Förderung des Radverkehrs einsetzt, formuliert es so: „Gerade im Winter gilt: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Infrastruktur.“

Lebensgefährlich: An dieser Doppelkreuzung Greifswalder Straße und Am Friedrichshain kamen 2021 zwei Radfahrerinnen ums Leben. 
Lebensgefährlich: An dieser Doppelkreuzung Greifswalder Straße und Am Friedrichshain kamen 2021 zwei Radfahrerinnen ums Leben. Gerd Engelsmann

Die Unzufriedenheit unter den Radfahrenden in Berlin sei groß, sagt ADFC-Sprecherin Lisa Feitsch: „Radwege werden entweder gar nicht geräumt oder mit scharfkantigem Split bestreut, der die Reifen beschädigt.“ Ob Schnee oder Herbstlaub: Wer den klimafreundlichen Verkehr fördern wolle, müsse Fuß- und Radwege prioritär räumen und sauber halten. Gerade in der kalten Jahreszeit müsse der Anreiz zum klimafreundlichen, gesunden Radfahren geschaffen werden.

Die Zahlen zeigen: Im Winter steigen deutlich weniger Berliner aufs Rad als im Rest des Jahres. Die 20 Fahrradzählstellen der Stadt – ausgewählte Standorte also, an denen alle vorbeifahrenden Fahrräder gezählt werden – haben im Januar 2023 gut 1,5 Millionen Räder erfasst. Im Mai 2022 waren es mehr als 2,8 Millionen.

Mobilitätsdaten zufolge macht der Radverkehr rund 18 Prozent des Gesamtverkehrs der Wohnbevölkerung aus – der motorisierte Individualverkehr liegt bei 26 Prozent. Damit hat der Anteil des Radverkehrs im Vergleich zu den Vorjahren zwar deutlich zugenommen, aber allein in meinem Bezirk Pankow zum Beispiel haben immer noch mehr als die Hälfte der Haushalte mindestens einen Pkw.

Eispfützen und Baustellen an der Greifswalder: Brenzliges Schlingern

Dass wir von einer radfreundlichen Infrastruktur trotz einiger Verbesserungen noch weit entfernt sind, kann ich nach drei Monaten Winterradeln nur bestätigen. Es war nicht oft glatt, aber 13 Eistage gab es dann doch in Berlin – einen zum Beispiel in der zweiten Januarhälfte. Es war kurz vor der Wiederholungswahl, die Plakate der Parteien hingen hoch oben an den Laternenmasten, während unten die Eispfützen entlang der Greifswalder Straße den Radweg zu einer gefährlichen Rutschpiste machten. 

Während die Autofahrer wie eh und je durchrauschen konnten, weil die Straße natürlich frei war, mussten wir Radfahrer aufpassen, nicht ins Schlingern zu kommen. Es war nichts geräumt und nichts gestreut, immer wieder musste man auf die Straße ausweichen, während von oben die grüne Spitzenkandidatin herablächelte: „Berlin. Grün und gerecht“, stand auf dem Plakat über den Eispfützen. 

Der Radweg an der vielbefahrenen Bundesstraße 2 ist nicht nur uneben und daher bei Regen von unzähligen Pfützen gesäumt, er ist auch weder breit noch sicher. Berlins „Todeskreuzung“ liegt hier, an der drei Menschen innerhalb eines Jahres ums Leben kamen, zuletzt eine Frau im Dezember 2021. Die Kreuzung an der Ecke Friedenstraße und Am Friedrichshain ist inzwischen umgebaut worden.

Für Radfahrer ein Albtraum: die Berliner Allee in Weißensee 
Für Radfahrer ein Albtraum: die Berliner Allee in Weißensee Sabine Gudath

Gebaut wird auch an der Ecke Greifswalder und Danziger Straße, das nächste Beispiel für Horrormomente, die man als (Winter-)Radler in dieser Stadt erleben darf. Wegen Kanalbauarbeiten steht dort seit Oktober stadtauswärts nur ein Fahrstreifen zur Verfügung. Der Radweg fiel gleich ganz weg, die Planer fanden es schlau, ihn in einer abgespeckten Schmalspurvariante auf die Straße zu verlegen, wo man eingezwängt zwischen Autos und Absperrungen Stoßgebete senden konnte, dass man unbeschadet den Abschnitt übersteht. Rauschte ein Lkw heran, blieb man besser gleich ganz stehen.

Eines Tages dann wurde der Radweg plötzlich über den Fußweg gelenkt, die entsprechenden Markierungen waren an einem dunklen Winterabend kaum zu sehen. Als Radfahrerin stellte ich erst mitten auf der Kreuzung fest, dass der Schmalspurradweg nicht mehr da war und ich mich nun ganz bei den Autos einfädeln musste. Brenzlig.

Verkehrswende: Fancy Pop-up-Radwege in der Innenstadt reichen nicht

Die Beispiele zeigen: Bis man wirklich von einer Verkehrswende reden und diese auch von den Bürgern einfordern kann, ist es in Berlin noch ein weiter Weg. In meinem Wahlkreis am Stadtrand jedenfalls hat die Autofahreranwaltspartei CDU fast 30 Prozent der Stimmen geholt, 17 Prozent mehr als ein paar Kilometer weiter südlich in Prenzlauer Berg. Mich wundert das nicht.

Aus Mangel an Alternativen und weil mir die Bewegung gut tut, werde ich auch im nächsten Winter wieder Rad fahren. Berlin könnte mir und meinen Radgenossen dafür endlich mal eine bessere Infrastruktur an die Hand geben. Dafür tun es nicht ein paar fancy Pop-up-Radwege in der Innenstadt. Die Hauptverkehrsader in Weißensee zum Beispiel, die Berliner Allee, hat gar keinen Radweg. Wer hier in die Pedale tritt, riskiert sein Leben. Wie lange noch soll dieser Zustand anhalten?

Ansonsten bleibe ich dabei: Der Winter ist eine wirklich gute Zeit zum Radfahren. Spätestens im Juni, umringt von Lastenradkutschen und E-Roller-Touristen, werde ich sie mir zurückwünschen.