Plötzensee und Tegel: Das sind die wahren Gründe für die Gefängnisausbrüche
Die spektakulären Gefängnisausbrüche Ende Dezember und im Februar waren die Folge eklatanter Sicherheitsmängel. Zu diesem Schluss kommen von Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) in Auftrag gegebene Untersuchungen. Die internen Gutachten, die der Berliner Zeitung vorliegen, befassen sich mit der Situation in den Justizvollzugsanstalten Plötzensee und Tegel. Hauptkritikpunkte: Es fehlt Personal, um die Häftlinge angemessen zu überwachen. Und die Häftlinge konnten sich unkontrolliert schweres Ausbruchswerkzeug beschaffen.
Mit dem ersten Fall beschäftigte sich eine Kommission unter Leitung des Präsidenten des Amtsgerichts Tiergarten, Hans-Michael Borgas. Es ging um den Ausbruch am Morgen des 28. Dezember in der JVA Plötzensee. Vier Strafgefangene waren durch ein Loch in der Außenmauer geflüchtet. Sie hatten es mit einem Trennschleifer und einem Vorschlaghammer geschlagen. Eine Kommission unter Leitung des Präsidenten des Amtsgerichts Tiergarten, Hans-Michael Borgas, untersuchte daraufhin die Sicherheit in Plötzensee. Unter anderem schaute sie sich die Kfz-Werkstatt an, in der die geflohenen Gefangenen gearbeitet hatten.
Keine funktionstüchtige Handsonde
Die Untersuchung des Vorfalls ergab, dass an jenem Morgen in der Werkstatt 15 Gefangene von nur drei Bediensteten beaufsichtigt wurden. Laut Dienstplan waren sieben Bedienstete vorgesehen. Drei waren jedoch krank, einer im Urlaub. Die Kommission empfiehlt deshalb, die Kfz-Werkstatt zu schließen, wenn nicht genügend Sicherheitspersonal da ist.
Die Gefangenen konnten sich in der Werkstatt am Ausbruchswerkzeug bedienen, wie sie wollten. Kuhfüße und Stemmeisen lagen offen zugänglich und nicht gekennzeichnet auf Tischen herum. Die Gefangenen gelangten mühelos an Hämmer und Trennschleifer. „Die Erstellung einer Werkzeuginventarliste steht noch aus“, heißt es in dem Bericht unter anderem. Die Kommission empfiehlt, dass „sicherheitsrelevante Werkzeuge“ in verschließbaren Schränken gelagert werden.
Vor Arbeitsbeginn wurden die Gefangenen auch nur unzureichend kontrolliert. Es stand nur eine funktionstüchtige Handsonde zur Verfügung.
Flucht vom Freistundenhof fiel nicht auf
Auch der 24-jährige Hamed M., der am 7. Februar aus der JVA Tegel floh, nutzte die Schwachstellen bei der Überwachung der Gefangenen.
Der Gutachter Gerhard Meiborg, früherer Abteilungsleiter im Justizministerium von Rheinland-Pfalz, stellt in seinem Bericht fest, dass sowohl die Beaufsichtigung der Gefangenen beim Hofgang als auch die abendlichen Anwesenheitskontrollen der Gefangenen unzureichend seien. M. gelang es nicht nur – möglicherweise durch einen Helfer – den Aufsichtsbeamten im Hof der Teilanstalt II abzulenken. Er konnte auch die Wärter auf seiner Station täuschen, indem er eine selbst gefertigte Puppe in seinem Bett platzierte. Erst am Morgen nach M.s Flucht fiel auf, dass er seine Zelle nach dem Hofgang nicht mehr betreten hatte.
Wegen schlechten Wetters hatten sich nur vier bis sechs Häftlinge auf dem Freistundenhof aufgehalten. Dennoch konnte Hamed M. unbemerkt über einen Zaun klettern und sich dann unter einen Lastwagen klammern, der den Kiosk im Gefängnis belieferte. An der Pforte bemerkte das Wachpersonal den blinden Passagier nicht. „Ein dunkel gekleideter Mensch war dort bei den vorhandenen Beleuchtungsmöglichkeiten bei der üblichen Kontrolle nur schwer zu erkennen“, schreibt Meiborg in seinem Gutachten.
„Um eine bessere Kontrolle über die Zahl der Personen zu bekommen, die sich auf dem Freistundenhof aufhalten, werden die Gefangenen nunmehr gezählt“, beschreibt Meiborg eine der Konsequenzen, die die Flucht hatte.
Unverzüglich schließen
Er kritisiert insbesondere die Personalausstattung in Tegel scharf. „Die Personalsituation im Allgemeinen Vollzugsdienst ist als prekär zu bezeichnen“, schreibt er. 40 Stellen sind dort derzeit unbesetzt. Die Folge: In manchen Stationen gibt es zeitweise gar keine Aufsicht. Die eigentlich vorgesehenen sogenannten Tiefenrevisionen der Zellen, besonders gründliche Kontrollen, finden immer seltener statt. 2013 fand diese Art der Durchsuchung in der Teilanstalt II, wo Hamed M. inhaftiert war, noch 288-mal statt. 2017 gab es nur noch 66 solcher Kontrollen. Meiborg kritisiert aber auch die Anstaltsleitung für ihren Umgang mit der Misere. So würden in Tegel zwei Stunden Hofgang gewährt, gesetzlich vorgeschrieben ist nur eine. Das sei zwar dem inneren Frieden in der Anstalt dienlich – personell leisten könne sich die Anstalt die zusätzliche Aufgabe aber nicht. Ohnehin sei das Wachpersonal kaum in der Lage, die Ordnung zu gewährleisten und etwa neue Häftlinge vor Schikanen anderer Insassen zu schützen.
Immerhin sei Besserung in Sicht, schreibt Meiborg mit Hinweis auf die geplanten Neueinstellungen. Und auch die Sicherung der Tore soll verbessert werden. Meiborg empfiehlt dringend, eine Kontrollgrube zu bauen, so dass das Wachpersonal Fahrzeuge bei der Ausfahrt auch von unten in Augenschein nehmen kann. Seit Jahren hat die Gefängnisleitung diese Maßnahme beantragt, stets fiel sie dem Spardruck zum Opfer.
Immerhin stellt Meiborg fest, dass im Grundsatz die Sicherheit in Tegel gewährleistet sei. „Sie ist aus meiner Sicht nicht gefährdet“, schreibt er in dem Gutachten. Die technischen Systeme seien „angemessen, zweckentsprechend und funktionstüchtig“. Baulich geeignet für einen modernen Straffvollzug sei gerade die Teilanstalt II, wo die besonders problematische Klientel einsitzt, aber nicht. „Sie sollte unverzüglich geschlossen werden“, schreibt Meiborg. Leider fehlten dafür die Voraussetzungen.
Neue Kontrollroutinen
Laut Sebastian Schlüsselburg, rechtspolitischer Sprecher der Linksfraktion, haben die beiden Kommissionen eklatante Schwachstellen bei den Arbeitsroutinen und der Sicherheitsarchitektur aufgedeckt. „Als erstes müssen die vorgeschlagenen baulichen und technischen Maßnahmen unverzüglich umgesetzt werden“, so Schlüsselburg.
Gleichzeitig bedürfe es der Optimierung der Kontrollroutinen. „Es ist nicht hinnehmbar, wenn Kuhfüße, Trennschleifer und andere gefährliche Werkzeuge unzureichend gesichert sind oder unbeaufsichtigt an Gefangene ausgegeben werden.“ Die größte Herausforderung besteht laut Schlüsselburg in der Verbesserung der Personalsituation beim allgemeinen Vollzugsdienst. Die Koalition habe mit dem Doppelhaushalt den größten Stellenaufwuchs seit 25 Jahren beschlossen und die richtigen Weichen gestellt.