Polnische Obdachlose in Berlin: Die Reise in die Heimat fällt schwer

Mirek Ozga sitzt auf einem Stuhl und umklammert seinen Tee. So wie immer, mit beiden Händen, den Oberkörper über den Becher gebeugt. Er überschlägt ein Bein, stellt das heiße Getränk auf das andere, schmiegt den Körper an die Tasse, als müsse er sich noch immer daran wärmen. So, wie er das in den vergangenen Jahren immer gemacht hat, wenn der Wind unter der Brücke am Zoo durchpfiff. Dort war bis vor ein paar Stunden sein Platz. Jetzt sitzt Mirek Ozga vor einem Kamin, in dem ein Feuer knistert.

Es ist Abend, auf dem Sofa neben ihm liegen Wollkissen, in der Küche dampft eine Pilzpfanne. Es riecht nach Winter, nach Zwiebeln, Petersilie und Gemütlichkeit. Ein Hirsch aus Bast, groß wie eine Kommode, steht neben einem Schaukelstuhl. An der Wand hängen Bilder barocker Maler und ein Kreuz. Ein Wohnzimmer, hübsch und heimelig, durch das Menschen wuseln. Sie lachen, nicken und stellen Mirek Ozga Fragen. Niemand friert, niemand reibt sich die Hände. Nur er umklammert seinen Becher, als habe er vergessen, wie man ihn sonst festhalten sollte.

Mirek Ozga, ein schweigsamer Mann mit Furchen unter den Augen, sieht in dem Raum aus wie ein Findelkind, gerettet und verloren zugleich. Von nun an soll es also vorbei sein, sein Leben auf der Straße.

Ozga ist wieder zu Hause. In Polen, seiner Heimat. Hier soll er den Alkohol hinter sich lassen und die Kumpels vom Bahnhof Zoo. Dieses Leben, von dem die Narben auf seinem Kopf erzählen. Er soll auch Berlin hinter sich lassen. Soll kein Zelt mehr in einem wilden Camp aufschlagen, nicht mehr schnorren, schwarzfahren oder klauen. Heute Morgen hat ihn ein Streetworker abgeholt und hergebracht.

Seit September sind zwei polnische Sozialarbeiter in Berlin unterwegs, um gestrandete Landsleute heimzuholen. Die polnische Regierung bezahlt die Männer. Sie hatte eingelenkt, nachdem der Druck aus Berlin immer größer geworden war. Nachdem ein Obdachloser im Tiergarten eine Frau ausgeraubt und ermordet hatte. Nachdem die Stadt viele Monate über den Umgang mit aggressiven Obdachlosen aus dem Ausland gestritten hatte und einige Politiker schon forderten, sie abzuschieben.

Die Geschichte von Mirek Ozga beginnt in dieser Stadt, in der Tausende Osteuropäer auf der Straße ihre Träume beerdigen. Sie handelt von einem Hilfesystem, das sie vor dem Ärgsten bewahrt, ihnen aber keine Perspektive bietet. Und sie handelt von Polen, einem Land, das seine Gestrauchelten zurückholt, sie zu Hause aber auch nur mit dem Nötigsten versorgt. Von Heimat, diesem manchmal schwierigen Wort, das manchen Menschen eine Identität gibt. Diese Geschichte handelt aber auch von der Frage, was ein gutes Leben ist – und wer darüber entscheidet.

Stress vor der Traglufthalle

Das Haus mit dem Kamin gehört Barbara und Tomasz Sadowski. Das Ehepaar hat heute nicht nur Mirek Ozga, sondern auch Sozialarbeiter und Journalisten eingeladen. Sie wollen ihnen von ihrer Arbeit erzählen. Hier, in der Nähe von Chudobczyce, einem Dorf in der polnischen Einöde, 50 Kilometer westlich von Posen, gründeten sie vor knapp 30 Jahren die Stiftung Barka. Die Stiftung hat die Sozialarbeiter nach Berlin geschickt und betreibt in ganz Polen Wohnheime für Bedürftige.

Barbara und Tomasz Sadowski haben ein Netz von Integrationszentren und Sozialfirmen geschaffen. Sie wollen Obdachlosen wieder Arbeit und eine Aufgabe geben, mehr noch, sie wollen ihre Familie sein. „A big human family“, wie Barbara Sadowska auf Englisch schwärmt.

Mirek Ozga kann kein Englisch. Aber auch er soll Teil dieser Familie werden, haben ihm die Sozialarbeiter vor der Abfahrt in Berlin gesagt. Das ist jetzt zwölf Stunden her.

Rückblick: Es ist 5.30 Uhr, als Ozga an diesem Novembertag die Füße neben das Hochbett stellt. Es steht in einer Traglufthalle, einem Notquartier für Obdachlose an der Frankfurter Allee. Zu viert schlafen sie in Zimmer 12. Die Nische hat Holzwände und ist nach oben offen. Das Schnarchen und Murmeln von mehr als hundert Menschen hängt am frühen Morgen über der Halle. Die Nacht war kurz. Gestern Abend gab es Stress.

Polen und Rumänen gerieten aneinander. In der Schlange, die sich jeden Nachmittag vor der Traglufthalle bildet, bevor um 20 Uhr die Türen öffnen, fiel ein böses Wort. Und noch eins. Dann ein Tumult, mehr hat Mirek Ozga nicht gesehen. Am Ende kam der Krankenwagen.

Oft hat Ozga beobachtet, dass es unter den Obdachlosen aus verschiedenen Ländern zu Streit kommt. Oft sind es hauptsächlich Menschen aus Polen, Rumänien und Bulgarien, die in den Notunterkünften der Stadt übernachten.

In Berlin leben Schätzungen zufolge 4 000 bis 8 000 Obdachlose. Bis zu zwei Drittel von ihnen kommen aus Osteuropa, die Polen sind die größte Gruppe. Ein Anrecht auf Geld vom Staat haben die wenigsten. Nur EU-Ausländer, die schon fünf Jahre in Deutschland leben, können Hartz IV beantragen. Wer länger als ein Jahr gearbeitet hat, bekommt auch Arbeitslosengeld.
Im Winter stehen den Osteuropäern die Schlafplätze der Kältehilfe zur Verfügung. Dort dürfen Obdachlose aber nur die Nächte verbringen, morgens um 8 Uhr müssen sie wieder auf die Straße. Auch in einigen Heimen für Wohnungslose kommen Ausländer kurzzeitig unter, allerdings maximal für drei Monate.

Betteln für ein bisschen Geld

So richten sich viele Osteuropäer, die keinen Job finden, über Jahre in den Notstrukturen ein: Sie sammeln Flaschen oder betteln für ein bisschen Geld, essen in der Suppenküche und stellen sich jeden Abend aufs Neue für einen Schlafplatz vor der Traglufthalle an.

Mirek Ozga will alles zurücklassen, was ihn an diese Jahre erinnert. Er packt nur ein Hemd, eine Hose, eine Jacke, ein paar T-Shirts und Socken in seinen Einkaufsroller. Seine zweite Garnitur, die er trägt, wenn das, was er am Leib hat, mal in die Wäsche muss. Obendrauf legt er eine kleine Bluetoothbox, sein Heiligtum. An so vielen Nachmittagen unter der Zoo- Brücke hörten sie damit ihre Lieder. Am liebsten die polnischen Hits aus den 1980er-Jahren, mit viel Keyboard und Texten über Liebe.

Vier Jahre lang hat Mirek Ozga fast jeden Tag unter der S-Bahn-Brücke gesessen. Vor dem Ullrich, dem Supermarkt in der Hardenbergstraße, den Rücken an den Bauzaun gelehnt. Das war sein Platz. Seine Kumpels kamen vorbei und hockten sich neben ihn auf die Decken. Im Sommer schliefen sie nachts gemeinsam unter Planen neben dem Zirkuszelt auf der anderen Seite des Bahnhofs. Die meisten hier nannten ihn „Opi“. Wegen seiner 59 Jahre, aber auch, weil Mirek Ozga oft mehr Durchblick hatte als die anderen.

Er trank fünf, sechs Bier am Tag. Mehr nicht, sagt er. Mirek Ozga war für Sozialarbeiter ansprechbar, wenn seine Freunde nur noch lallten. Er merkte sich, wer neu am Zoo war und wer in den Knast musste, verstand, was das Ordnungsamt von ihnen wollte und wofür es wie viel Pfand gab. Und er brachte die anderen zum Lachen. Ganz beiläufig, wenn er vom „Sonderangebot im Supermarkt“ sprach und damit Ladendiebstahl meinte.

Mit ihm unter der Brücke saß jeden Tag ein gelber Teddybär vor einer Plastikdose für Kleingeld. Mirek Ozga hat ihn nun verschenkt. Es ist kein wehmütiger Abschied, als er vor der Traglufthalle in den Wagen des Sozialarbeiters steigt. „Die anderen haben sowieso nicht verstanden, warum ich weggehe“, sagt Mirek Ozga auf Polnisch, der Streetworker übersetzt.

Viele schämen sich, zurück nach Polen zu gehen

Es ist hell geworden, als das Auto mit Mirek Ozga an Bord über die Oderbrücke fährt und die Bundesrepublik Richtung Polen verlässt. Über dem Fluss hängen Nebel und Morgenrot. Vor dem Fenster ziehen Schilder vorbei: 463 Kilometer bis Warschau, 162 Kilometer bis Posen. Mirek Ozga sieht hinaus. Sagt nichts, knetet nervös die Finger.

Viele schämen sich, wenn sie zurückgehen, sagt der Sozialarbeiter am Steuer. Er heißt Wojciech Greh und ist ein kräftiger Mann mit Hoodie und Wollmütze, 37 Jahre alt. „Die Menschen sind mit großen Plänen gegangen und kehren zurück als Verlierer.“ Die meisten Polen, die Greh getroffen hat, sind wegen eines Jobs oder einer neuen Liebe nach Berlin gereist. „Kaum jemand war schon in der Heimat obdachlos. Sie sind erst in Berlin auf der Straße gelandet, als sie die Arbeit verloren haben oder die Beziehung zerbrochen ist.“

Dass Obdachlose aus Osteuropa ihr Land verlassen, weil es sich anderswo leichter auf der Straße lebt, hält Wojciech Greh für die Ausnahme, die von Rechtspopulisten verbreitete Einwanderung in die Sozialsysteme für eine Mär. Die Berliner Sozialverwaltung sieht das genauso. Einmal abgestiegen jedoch, wollten die meisten Obdachlosen in Deutschland bleiben. Denn obwohl sie es nie am eigenen Leib erfahren haben, wissen sie, dass Bedürftige in Polen schlechter versorgt sind.

Sie wissen, dass es keine Pfandflaschen gibt, mit denen sich etwas Geld auftreiben lässt. Dass die Sozialhilfe im Monat bei 160 Euro liegt, die Mieten aber mittlerweile fast deutsches Niveau haben. Dass Arbeitslose mit 1,5 Millionen geflohenen Ukrainern um die Jobs kämpfen. Sie haben gehört, dass Heime oft schmutzig und überbelegt sind. Und, dass dort striktes Alkoholverbot herrscht.

Das ist zwar offiziell auch in Berlin so. „Aber in echt kümmert es in den Heimen oft niemanden“, sagt Mirek Ozga. Schwer vorstellbar, dass in Berlin bei Minusgraden Menschen vor einer Schlafstätte abgewiesen werden, weil sie zu betrunken sind. In Polen dagegen fordert fast jeder Winter über hundert Todesopfer. Die Freizügigkeit zieht Obdachlose in Scharen nach Berlin, sagen Kritiker. Und sie rettet Leben, entgegnet der Senat.

Mirek Ozga reiste vor vier Jahren nach Deutschland, um auf einer Baustelle am Alexanderplatz zu arbeiten. Vorher lebte er im Osten Polens und füllte für ein Unternehmen Gasflaschen ab. Als 2014 die Krise in der Ukraine ausbrach, verlor er seinen Job. Er hörte von einer Firma in Berlin, die Polen beschäftigt, und stieg in den Bus. „Der Chef brachte mich in einem Hotel am Potsdamer Platz unter“, erzählt er. „Aber er zahlte den Lohn nicht aus. Als ich mich beklagte, hat er mich rausgeworfen.“ Ein paar andere Polen kannte Mirek Ozga schon in Berlin, einige lebten am Bahnhof Zoo. 

Wenn Ozga über seine Vergangenheit spricht, wird er noch wortkarger als sonst. Alkohol sei mal ein Problem gewesen, Schulden bei einer Bank in Polen habe er möglicherweise noch immer. Schon einmal habe er in einem Wohnheim gelebt, im Süden des Landes, dann in der Nähe von Lodz in einer Küche gejobbt. „Ich bin ein Wandertyp“, sagt er nur. Er erzählt, dass er in Liegnitz geboren ist und eigentlich Miroslaw heißt, dass er drei Schwestern hat und zu einer noch losen Kontakt. Sie ist die Einzige, die er angerufen hat. Die Einzige, die weiß, dass Mirek Ozga nach Hause kommt.

Gut eineinhalb Monate ist es her, dass Wojciech Greh ihn vor dem Supermarkt am Zoo zum ersten Mal angesprochen hat. Greh erinnerte ihn an den Frost, der im Winter über Berlin zieht. Und er erzählte von anderen Polen, die es mit Barka weg von der Straße geschafft haben. Menschen wie sein Partner Darek, der früher selbst obdachlos war und heute mit ihm in Berlin unterwegs ist, um anderen zu helfen. Das ist das Besondere an dem Modell der Stiftung: Ein Sozialarbeiter und ein Ex-Obdachloser arbeiten im Team, ein Pädagoge und ein Vorbild.

Unfreiwillige Rückreisen enden oft an der Raststätte

Nicht alle finden das gut. Der Ansatz von Barka bevormunde Menschen, heißt es von anderen Streetworkern in Berlin. Die Polen gäben Obdachlosen einen Weg vor, anstatt ihn gemeinsam mit ihnen zu suchen. Menschen könnten sich zur Rückkehr gedrängt fühlen.

In Deutschland setzt Straßensozialarbeit oft auf Freiwilligkeit, während sie in Polen meist eine Mission hat. Erfahrungen aus Hamburg zeigen, dass unfreiwillige Rückreisen oft an der ersten Raststätte enden, weil Obdachlose noch vor der Grenze wieder türmen.

Wojciech Greh wehrt sich gegen die Vorwürfe. Nur in Polen hätten die Menschen eine Perspektive, sagt er. „Wie soll jemand, der kein Deutsch spricht und nirgends gemeldet ist, in Berlin eine legale Arbeit oder eine Wohnung finden? Wie soll jemand, der nicht krankenversichert ist, einen Entzug oder eine Therapie machen?“ In Deutschland könne er Obdachlosen kaum helfen. Nur in Polen greift der Staat ihnen unter die Arme. 

Mirek Ozga ist der sechzehnte, den Wojciech Greh nach Polen fährt. Mit Überredung habe das nichts zu tun, sagt er. Eher mit Vertrauen, mit der gleichen Sprache und Kultur.

Die Straßen werden enger und die Häuser seltener

„Ich will ein leichtes Leben“, sagt Mirek Ozga, während draußen vor dem Fenster die Straßen enger und die Häuser seltener werden. „Nicht mehr jeden Morgen um 8 Uhr den Schlafplatz räumen.“ Die Jahre auf der Straße haben ihn schwach gemacht. Die Arme und Beine sind dürr, vor drei Jahren hatte Ozga Tuberkulose.

Auf dem letzten Stück der Fahrt ziehen am Fenster nur noch Felder und Waldstücke vorbei, menschenleeres Land. Gleich wird das Auto in Chudobczyce ankommen. Am Ziel, am Wohnheim, das Ozgas neues Zuhause werden soll. Er steigt als Erster aus dem Wagen und Wojciech Greh erzählt, dass sein Fahrgast noch einen zweiten Grund für die Rückkehr hatte. Er glaubt, Ozga fühle sich am Zoo in Berlin nicht mehr wohl. Andere Polen wären dort aufgetaucht. Jung, aggressiv, drogenabhängig. Und ohne Respekt für Opi.

Ozga steht inzwischen vor einem grünen Gebäude mit drei Stockwerken. Die dreckige Fassade will nicht recht zu der klaren Luft passen, nicht zu den grünen Salatköpfen auf dem Acker. Eher sieht das Haus aus, als hätte es Jahrzehnte im Dunst einer Großstadt gestanden. So alt ist es wirklich. In dem Gebäude wohnten schon Landarbeiter, als Polen noch Teil des Warschauer Pakts war und Bauernhöfe wie dieser Gemüse für den sozialistischen Staat anbauten.

Etwa hundert Betten gibt es auf der Farm, die meisten in Doppelzimmern. Aktuell sind etwa 65 belegt. Nur Männer schlafen hier. Der älteste ist über 80 Jahre alt, die 50 haben die meisten überschritten. Viele sind trockene Alkoholiker. Es sind Männer wie Mirek Ozga. Männer ohne Familien, für die Chudobczyce die letzte Etappe sein könnte.

Einen jungen Punk würde Barka wohl in eine andere Einrichtung schicken, 15 gibt es im ganzen Land. Auch, wer erst einmal einen Entzug braucht, landet anderswo. Seit Jahren sind Sozialarbeiter für die Stiftung in England, den Niederlanden, Irland, Belgien und Frankreich unterwegs, um sich um gescheiterte Landsleute zu kümmern. „Sie kehren das Strandgut der Globalisierung zusammen“, schrieb der Spiegel einst über den ersten Außenposten in London. Nach der Osterweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 zog es allein eine halbe Million Polen nach Großbritannien. Das Vereinte Königreich war damals einer der ersten Mitgliedsstaaten, der Ausländer sofort arbeiten ließ. Deutschland erlaubte das erst 2011.

Barka soll kein Sammelbecken für Verlierer sein

In Chudobczyce wohnen einige Polen, die im Ausland auf der Straße schliefen. Dazu kommen Menschen aus der Gegend, die sich nicht allein versorgen können. Sie arbeiten für die Kommune, mähen den Rasen in Parks und verkaufen das Gemüse vom Acker auf Märkten. Sie übernehmen Aufgaben im Haus, kochen oder sorgen dafür, dass der riesige Holzofen nicht ausgeht. Auch füttern sie die 400 Schweine und Schafe auf der Farm. Sie tragen Verantwortung.

Das Haus soll kein Sammelbecken für Verlierer sein. Die Sozialarbeiterin in der Einrichtung, Katarzyna Bielerzewska, formuliert das so: „Andere Projekte geben Bedürftigen nur den Fisch, aber nicht die Angel. Wir statten sie mit dem Werkzeug für ein selbstbestimmtes Leben aus.“ Barka will Teil einer Stadtgesellschaft sein, selbst wenn aus Chudobczyce kein Bus in die nächste Stadt fährt. Menschen aus dem Dorf arbeiten auf der Farm, Barbara und Tomasz Sadowski kommen zum Mittagessen vorbei. Denn die Gründer sind keine vermögenden Stifter, wie man annehmen könnte, wenn man ihr schickes Haus mit dem Kamin betritt.

Viele Jahre lebten sie selbst auf einem Hof von Barka in der Nähe. 1989 zogen sie mit ihren kleinen Töchtern in das Haus, zusammen mit Obdachlosen, Ex-Häftlingen und psychisch Kranken. Etwa 30 Personen wohnten in einer ehemaligen Schule, mit einer langen Tafel und einem Holzkreuz am Kopfende. Barbara und Tomasz Sadowski, zwei Psychiater, waren überzeugt, das Leben der Menschen nur verändern zu können, wenn sie sie zu einem Teil ihrer Familie machten. Sie wollten ihnen Wurzeln geben, keine Almosen.

Es entstand eine Gemeinschaft, in der Anderssein normal war. Eine Kommune, in der sich jeder einbringt, weil er die Anderen nicht hängenlassen will. Abgesehen vom Alkoholverbot gibt es bis heute kaum Regeln.

Die Bluetoothbox liegt schon auf der Fensterbank

Heute sind die Töchter der Sadowskis erwachsen und leiten die Geschäfte bei Barka. Vor vier Jahren nahmen sie einen Kredit auf und bauten ihren Eltern das neue Haus. Sie wollten, dass Barbara und Tomasz Sadowski im Alter eine eigene Küche haben, zum ersten Mal seit Jahrzehnten.

Sein erstes eigenes Zimmer seit langem hat am Nachmittag auch Mirek Ozga bezogen. Es hat etwa zehn Quadratmeter und riecht nach Zigarettenrauch. In einer Klebefalle am Fenster sind Fliegen hängen geblieben. Keine Bilder, keine Pflanzen, ein Holzschrank, zwei Betten und graue Fliesen auf dem Boden. Das Bad liegt am Ende des Flurs. Mirek Ozga mag das Zimmer, sagt er. Die Bluetoothbox liegt schon auf der Fensterbank. 

Sein Mitbewohner heißt Tadeusz und lebt schon seit zwölf Jahren in Chudobczyce. Er will nicht weg, obwohl er noch recht jung ist. Er hat sich gewöhnt. An die Essenszeiten, ans Karottenputzen und Düngen auf dem Feld. An die Sozialarbeiter, die ein Auge auf ihn haben. Die merken, wenn jemand nach Schnaps riecht oder sich im Zimmer einschließt. Er hat sich an das Gefühl gewöhnt, nicht selbst erkennen zu müssen, wenn etwas aus dem Ruder läuft. An das Netz unter seinem Seiltanz.

Ist das die Vision vom selbstbestimmten Leben, von dem die Hausleiterin sprach? Ja, sagt Katarzyna Bielerzewska. Für sie ist es kein Misserfolg, wenn jemand jahrzehntelang bei Barka bleibt. „Die Menschen sind unterschiedlich“, sagt die Frau mit den hellblauen Haaren. „Einige sind drogensüchtig, andere haben Depressionen oder Psychosen. Manche hatten früher intakte Familien, andere sind einsame Wölfe.“ Einige wünschten sich einen Job und eine Wohnung, andere bloß ein paar Monate ohne Stress. Schon ein Telefonat mit der Familie kann ein Erfolg sein oder ein Tag ohne Wutanfall.

Außerdem sind da noch die anderen. Die, die sich am meisten den Kick zurückwünschen. Die, die Reißaus nehmen, weil die Sucht sie treibt oder die Stille in Chudobczyce sie erdrückt. Weil Erinnerungen sie plagen, mit denen sie ohne Drogen nicht zurechtkommen. Sie schlagen sich durch nach Berlin, Amsterdam oder Brüssel, dorthin, wo Autos lärmen, Reklame blinkt und der Wodka rumgereicht wird, wenn die Stimmung kippt. Auch das ist eine Entscheidung, mit der Katarzyna Bielerzewska leben muss.

Eine Statistik über die Abgänge führt Barka nicht. Rund 250 Personen pro Jahr beziehen ein Zimmer in Chudobczyce. Katarzyna Bielerzewska schätzt, dass etwa die Hälfte von ihnen länger bleibt, Monate oder Jahre. „30 Prozent machen sich auf den Weg in ein eigenständiges Leben und 20 Prozent fallen zurück.“

Mirek Ozga will nicht zurück. Es werde ihm nicht schwer fallen, auf seine fünf, sechs Bier zu verzichten, glaubt er. Morgen hat er einen Termin beim Arzt. Der klärt ab, wie gesund er ist, ob er noch schwer tragen kann auf dem Feld oder besser in der Küche Gemüse schnippelt. Auch zum Amt fährt ihn jemand, um die 160 Euro zu beantragen. „Wie lange ich bleibe, ob ich irgendwann wieder woanders wohnen werde? Das wird das Schicksal zeigen“, sagt Ozga. Erst mal will er sich jetzt hinlegen, etwas ausruhen, bevor das Abendessen bei den Sadowskis ansteht.

Sorge um Polens Politik

Zwei Stunden später haben sich in deren Haus schon die Besucher um den Kamin versammelt. Barbara Sadowska erzählt von ihrer Sorge um den Kurs der Politik in Polen. Die nationalkonservative Regierung hat seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2015 Gesetze erlassen, die die Arbeit von Barka erschweren. Obdachlosenasyle müssen Standards erfüllen. Bewohner sollen selbst kochen können und genug Platz haben, Familien brauchen spezielle Unterkünfte.

Wer Aufgaben in einem Heim übernimmt, muss als Sozialpädagoge ausgebildet sein. Das Gesetz soll Obdachlose schützen, verträgt sich aber schwer mit der Idee von einer selbstverwalteten Gemeinschaft. Erfüllt Barka die Auflagen nicht, weist die Kommune Obdachlosen keine Schlafplätze mehr in Chudobczyce zu, und Einnahmen gehen verloren.

Auch für das Projekt in Berlin genehmigte die polnische Regierung zuletzt nur 37 000 Euro bis zum Jahresende – nicht die beantragten 150 000 Euro. Es ist unklar, ob Wojciech Greh und sein Partner auch im kommenden Jahr Mittel für die Arbeit in Berlin bekommen. Der Berliner Senat fördert sie bisher nicht. Es sind Zeiten, in denen Barbara Sadowska manchmal um ihr Lebenswerk bangt. Denn Barka lebt vor allem von Staatsmitteln und Fördergeldern der EU.

"Ich bin kein Held"

Es klingelt an der Tür. Mirek Ozga und sein Mitbewohner kommen ins Zimmer. „Heute angekommen! Da ist ja unser Held“, ruft Barbara Sadowska. „Ich bin kein Held“, entgegnet Ozga leise. Er setzt sich auf einen Stuhl und greift sich eine Tasse Tee. Er scheint beschämt. So, als wolle er sich nicht feiern lassen für etwas, das noch nicht vollendet ist. Als ahne er, dass ihn die Straße noch heimsuchen könnte. Dass sich alte Kumpels melden oder die Bank, bei der er möglicherweise noch Schulden hat. Als ahne er, dass es vielleicht doch noch nicht ganz vorbei ist, sein Leben auf der Straße. Dass es vielleicht niemals ganz vorbei sein wird.

Ein paar Tage später herrscht in Chudobczyce Alltag. Mirek Ozga kommt langsam an in seinem neuen Leben. Er arbeitet im Heizraum und versucht, seine Zeit in Berlin zu verarbeiten. Seine Zeit unter der Brücke am Bahnhof Zoo, direkt vor dem Ullrich, dem Supermarkt.

Dort sitzt inzwischen ein anderer Mann mit dem Rücken an den Bauzaun gelehnt. Er heißt Tomek, sagt er. Vor ein paar Wochen ist er nach Berlin gekommen, nachdem er in Polen im Knast saß. Er wolle hier Arbeit finden, das habe bisher aber nicht geklappt. Vor ihm auf der Decke sitzt ein gelber Teddybär mit einer Plastikdose für Kleingeld.