Polnische Obdachlose in Berlin: „Sie schämen sich, weil sie mit großen Plänen kamen“
Die Scham sei das Schlimmste, sagt Piotr Mikolaszek. Die meisten Obdachlosen, die einst aus Polen nach Berlin gekommen seien, so erklärt der Sozialarbeiter, trauten sich nicht mehr zurück in ihre Heimat. „Sie schämen sich, weil sie mit großen Plänen fortgegangen waren und jetzt als Verlierer wiederkommen würden.“ Also leben sie weiter auf der Straße. Ohne Geld und ohne Hoffnung. Gestrandet in Berlin.
Piotr Mikolaszek und sein Kollege Wojciech Greh sitzen für dieses Gespräch in einem Café in der Mitte Berlins. Es ist ein ungewöhnlicher Ort für die beiden Sozialarbeiter aus Polen, denn ihre Arbeitstage verbringen sie auf der Straße, an weitaus weniger gemütlichen Orten der Stadt. Sie suchen obdachlose Landsleute. Am Bahnhof Zoo, am Ostbahnhof, in Lichtenberg. Sie wollen mit ihnen reden, sie kennenlernen und im besten Fall überzeugen, in ihre Heimat zurückzukehren. Zum ersten Mal berichten sie jetzt über ihre Arbeit. Und verstehen gar nicht, warum sich so viele Menschen in Berlin für ihrer Arbeit interessieren.
Es wird höchste Zeit
Wochenlang hatte man gerätselt, wann sie denn nun kommen würden, die polnischen Sozialarbeiter der Hilfsorganisation Barka aus Posnan. Es hatte heftige politische Debatten gegeben, wie man mit den vielen osteuropäischen Obdachlosen in Berlin umgehen solle. Im vergangenen Herbst hatte der Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel (Grüne) genug vom Reden. Er ließ Zeltlager der Obdachlosen im Tiergarten wegräumen und schlug vor, aggressive Obdachlose aus EU-Ländern abzuschieben. Er kritisierte auch die polnische Regierung, sie könne ihre sozialen Probleme nicht in Berlins Grünflächen lösen.
Die polnische Regierung reagierte. Sie stellte Barka für ein Berliner Team bis Ende des Jahres 37.000 Euro zur Verfügung.
Es wird höchste Zeit. Juri Schaffranek von Gangway, einer Einrichtung für Straßensozialarbeit, sagt, die Zahl polnischer Obdachloser in Berlin habe sich enorm erhöht und ihr Zustand werde immer aussichtsloser. Jeden Tag besuchen drei Gangway-Teams von Streetworkern die Treffpunkte der Obdachlosen, drei polnischsprachige Helfer gehören dazu. Sie berichten, viele polnische Obdachlose seien alkohol- und drogenabhängig. Psychische Auffälligkeiten hätten zugenommen: paranoide Schübe, Depressionen, Autoaggressionen und Orientierungslosigkeit. Es gebe kaum noch verbindliche Zusagen, die Rückkehrbereitschaft sei gering, sagt Schaffranek.
In Berlin erhalten sie nur geringe Hilfen
Der Konsul der Polnischen Botschaft in Berlin, Marcin Jakubowski, bestätigt diese dramatische Entwicklung. „Die Lage der polnischen Obdachlosen verschlechtert sich weiter. Sie leben in einer prekären Lage“, sagte er der Berliner Zeitung.
Jakubowski schätzt, dass seine Landsleute die größte Gruppe unter den Obdachlosen in Berlin bilden, etwa jeder dritte Obdachlose stamme aus Polen. Konkrete Zahlen gibt es nicht. Jakubowski hat sich für das Hilfsprojekt eingesetzt. „Die polnischen Sozialarbeiter motivieren ihre Landsleute zur Rückkehr nach Polen. Dort können wir ihnen helfen.“
Die Rückreise bezahlt die polnische Regierung, ebenso Behandlungen, Therapien und Beratungen im Heimatland. In Berlin erhalten polnische Obdachlose nur geringe Hilfen. In Einrichtungen wie der Stadtmission am Bahnhof Zoo, bekommen sie kostenloses Essen, Kleidung und Schlafsäcke, sie können dort duschen. Auch Notübernachtungen sind für sie geöffnet, doch eine dauerhafte Betreuung von Ärzten und Sozialarbeitern gibt es für sie in der Regel nicht.
„Am Ende muss jeder selbst entscheiden, ob er die Hilfe annimmt“
Piotr Mikolaszek sagt, es sei ein langer und mühsamer Weg, von der Straße wegzukommen. Der 58-Jährige hat es selbst erlebt. In Polen war er obdachlos, trank viel Alkohol und musste ins Gefängnis. Sozialarbeiter von Barka halfen ihm. Doch erst beim dritten Versuch hat es geklappt.
Seit 2009 arbeitet Piotr Mikolaszek bei Barka. Die Hilfsorganisation betreut auch bedürftige Landsleute in den Niederlanden, Belgien, Irland, Island und Kanada. Wojciech Greh, 36, lebt seit drei Jahren in Deutschland. Der Sozialpädagoge war Erzieher in einem Flüchtlingsheim und ehrenamtlicher Übersetzer bei der Stadtmission.
Piotr Mikolaszeks Lebensgeschichte hilft den Streetworkern, schneller in Kontakt zu den Obdachlosen zu kommen. Sein Körper trägt die Zeichen der Vergangenheit. Er ist ein Vorbild, das weiß er. „Ich zeige, dass es möglich ist, sein Leben zu verändern“, sagt er. Zudem sprechen beide polnisch, auch das hilft.
Ein polnischer Obdachloser vom Bahnhof Zoo hat den Streetworkern vergangene Woche gesagt, er wolle in Polen eine Therapie machen. Sie haben ihm schnell einen Wohnheimplatz und eine Therapie zur Entgiftung besorgt. Doch zum vereinbarten Treffen am nächsten Tag erschien er nicht. An diesem Montag sind die Streetworker erneut mit ihm verabredet. Und haben zwei Zugtickets dabei. Piotr Mikolaszek würde den Mann nach Posnan begleiten. Wenn er kommt. „Wir bieten Hilfe an, aber am Ende muss jeder selbst entscheiden, ob er sie annimmt“, sagt Wojciech Greh.