Popkolumne: Der Biber im Graben – Mythos oder Wahrheit?

Ein kleiner Nachtrag noch zu den Konzerten von Billy Idol und Lana Del Rey der letzten Woche. Es gab nämlich Zweifel an der Identität des Bibers im Zitadellengraben. „Biber“, so zum Beispiel Leserin Claudia W. aus Kreuzberg, „leben nicht in stehenden Gewässern.“ Es müsse sich beim beobachteten Naturphänomen um eine große Bisamratte handeln. Dem ist nicht so. Bei einer professionellen Googlerecherche bin ich sogar auf Biberführungen für Groß und Klein gestoßen, die an der Zitadelle von der Landschaftsplanerin Anke Willharms organisiert werden.

Konzerthalber hätte man in dieser Woche zwar Gelegenheit, eine Hardrock-Führung zu veranstalten. Aber wo die ehemals grungenahen Pearl Jam ausverkauft, die ehemals rapfreundlichen Limp Bizkit langweilig und die seit ewig genrefesten Thrash-Metaller Anthrax nur als deren Special Guests zu haben sind, fällt sie aus.

Prima sind dagegen die Sichtungen auf dem Performanceprogramm „Foreign Affairs“, das ab morgen bis zum 13. Juli im Haus der Berliner Festspiele läuft. Bei Foreign Affairs, erstmals geöffnet 2012, handelt es sich um eine Art Freigehege für internationale Künstler aller Gattungen, laut Programm, „Theater, Tanz, Performance, Bildender Kunst, Musik und Film“. So gestalten (erst am 7. 7.) beispielsweise Phantom Ghost, das Zweitprojekt des Tocotronic-Frontmanns Dirk von Lowtzow und dem Komponisten und Thies Mynther, gemeinsam mit der Künstlerin Cosima von Bonin die Musikperformance „Retrospectres – Phantoms and Ghosts (1999–2014)“. Sie ist eine Uraufführung, daher verlasse ich mich auf die tolle, überschwengliche Ankündigung einer „polymorph perversen Installation“ mit einer „konzeptuell überkandidelten“ Bühne, „Meeresgetier aus Plüsch“ und „minimalistisch-luxuriösen Neo-Goth-Dandy-Kostümen“. Dazu hört man eine „dramatisch übersteigerte Variante des Liedgesangs“, die Broadway-Musical, viktorianische Dichtung und Sigmund Freud zitiert. Das wird super!

Verrauschtheit und Nebligkeit

Gleich zu Beginn präsentiert in den nächsten Tagen Martin Hossbach, der das feine Musikprogramm kuratiert hat, Baby Dee, Ben Watt und Tom Krell. Letzteren kennt man unter seinem Alias How to Dress Well. Er hat den Choreografen Brandon Fernandes und sein neues, fürs Festival speziell nachbereitetes Album dabei, auf dem er die Verrauschtheit und Nebligkeit seines bisherigen Post-oder Neo-R&Bs lichtet. Dass dies, und warum und wie, schön und dringend besuchenswert ist, wird Jens Balzer später in der Woche in einer Album-Kritik ausführen.

Jetzt gleich dagegen eine Erklärung, warum sich Ben Watts Auftritt am Sonnabend (28. 6.) lohnt. Ben Watt spielte in den Achtzigerjahren zusammen mit Tracy Thorn als Everything But the Girl sogenannten Cappucino-Jazz wie „Each and Everyone“ – einen elegant-brisigen Bossa-Soul, wie ihn damals auch Sade, Working Week oder Paul Wellers Style Council pflegten. Mit „Missing“ hatte das Ehepaar 94 sogar einen ordentlichen Hit. Während das Duo musikalisch längst auf Eis liegt, hat Watt im Frühjahr nach 31 Jahren (!) mit „Hendra“ den Nachfolger seines Solo-Debüts von 1984 veröffentlicht. Dessen besonderer Charme liegt in seiner leichthändigen Bescheidenheit.

Dramatischer wird es dagegen morgen (26. 6.) bei Baby Dees Festival-Eröffnung zugehen. Die 61-jährige Harfistin war vor ihrer Geschlechtsumwandlung musikalischer Leiter und Organist einer katholischen Kirche in der Bronx, trat als „bilateraler Hermaphrodit“ in einem Zirkus von Coney Island auf, tourte mit einer Truppe namens Kamikaze Freak Show durch Europa und performte im Shirley-Temple-Kostüm mit Harfe und Akkordeon auf einem zwei Meter hohen Dreirad in den Straßen von Manhattan. Seit rund 15 Jahren veröffentlicht sie als Baby Dee ihre Balladen zwischen Kunstlied, Cabaret und Folk. Mit einem klaren und wandlungsreichen Tenor singt sie wundersame Geschichten von den Schrecken der kleinstädtischen Jugend, von Liebe und Enttäuschung oder von melancholischen Rotkehlchen. Dazu hört man sie, je nachdem von kunstvoll arrangierten Streichern, Tuben, Glockenspiel und Percussion begleitet, an Harfe, Akkordeon und Klavier. Sie besitzt dabei eine eindrucksvolle Bühnenpräsenz, wuchtig in ausladenden Abendroben unter feurigem Haar, zart und elegant an Tasten und Saiten – mit Händen, denen man mühelos abnimmt, dass sie in den erfolglosen Zeiten Bäume fällten und Äste sägten. Auf diese billige Weise wollte ich zum Schluss eigentlich zur nächsten innerstädtischen Biberführung überleiten. Aber sie findet leider erst im September statt (biberfuehrungen.de).