Porträt Matthias Platzeck: Platzeck kann knallhart sein
Potsdam - Der Tag, an dem Matthias Platzeck den Flughafen vergessen will, beginnt mit einem Bier aus Drebkau. Die letzten Töne der Brandenburg-Hymne sind in der Halle 21a auf der Grünen Woche verklungen, gespielt vom Landespolizeiorchester. Der Ministerpräsident hat dazu den Taktstock geschwungen, als würde er dirigieren. Nun fängt sein Rundgang zu all den Ständen mit Lebensmitteln aus dem Berliner Umland an: Dem Bier folgen Würste, Käsewürfel, Spargelschnaps, Schinken, Wein, Eis, Bio-Brot und Tannenlikör, nicht zu vergessen die Spreewald-Gurken.
Es ist eine harte Prüfung, die der Potsdamer Regierungschef seinem Verdauungstrakt auferlegt. Für ihn gehört die Tour beim Brandenburg-Tag der Agrarschau zum Pflichtprogramm. Dieses Jahr aber, bekennt Platzeck, habe er sich besonders darauf gefreut, „weil ich die Hoffnung habe, ich muss zehn Stunden nichts übers Flugwesen sagen“. Und er nutzt die Chance, mal wieder ausgiebig Menschen an sich zu drücken. Ob Kirschenkönigin, Gurkenkönigin oder Spritzkuchenkönigin, keine Landfrau entgeht seinen Wangenküssen und Umarmungen.
Vier Tage zuvor ist Platzeck in eine andere, für ihn fremde Welt eingetaucht. Königinnen und Küsschen gibt es dort nicht, sondern verschüchterte und frustrierte Menschen. Es ist die Welt der Flughafengesellschaft Berlin-Brandenburg, draußen in Schönefeld, wo das Terminal kalt und schön wie ein verwunschenes Schloss auf Erlösung wartet. An seinem ersten Tag als Aufsichtsratschef ist Platzeck gekommen, um mit den Mitarbeitern zu sprechen. Mehr als 200 drängen sich im Versammlungssaal, berichten Teilnehmer: Feuerwehrleute, Mechaniker, Büroangestellte, Vorfeldarbeiter, auch ein paar Führungskräfte.
Auf dem Tiefpunkt
Die Stimmung unter den Beschäftigten ist auf dem Tiefpunkt seit der jüngsten Absage des Eröffnungstermins. Viele trauten sich nicht mehr zu erzählen, wo sie arbeiten, sagt ein Gewerkschafter – aus Angst, dass Hohn und Spott über den Problem-BER auch sie treffen. Eine Viertelstunde lang spricht Platzeck zu den Leuten über die schwierige Lage und davon, dass er „den Laden wieder auf die Beine bringen“ wolle. Schließlich seien die Mitarbeiter nicht allesamt Idioten. Die Beschäftigten schweigen. Keine Fragen. Wer etwas wissen will, heißt es im Unternehmen, habe schon früher lieber anonym einen Zettel abgegeben, als sich offen zu melden. Platzeck kennt so etwas nicht, er mag Klartext. „Es war wie im Eiskeller“, sagt er einige Tage darauf über die Betriebsversammlung in Schönefeld, noch immer erstaunt.
Er wird sich auf die ungewohnte Situation einstellen müssen und das schnell. Die Krise des Flughafens hat Platzeck, den Menschenanfasser, zum „Master of Desaster“ gemacht, von einem Tag auf den anderen. Zu seinem gemütlichen Thron als Quasi-König von Brandenburg hat er einen Schleudersitz bekommen. Geerbt von Klaus Wowereit, Berlins Regierendem Bürgermeister, der sich mit dem Hauptstadt-Flughafen im märkischen Sand ein Denkmal setzen wollte und nun zusehen muss, dass er nicht alle seine Ämter verliert.
Der Aufsichtsratsvorsitz, hat Platzeck oft gesagt und womöglich geglaubt, sei gar nicht so wichtig: Auf den Geschäftsführer der Flughafengesellschaft komme es an. Inzwischen redet er nicht mehr so. Das Unternehmen steht seit der Entlassung von Rainer Schwarz ohne Kopf da, und Platzeck hat gemerkt, dass er sich um buchstäblich alles kümmern muss: die Suche nach einem neuen Topmanager und einem Finanzchef, die rasche Nachrüstung der Flughäfen Tegel und Schönefeld-Alt, damit sie den Ansturm der Passagiere bewältigen, den Rückbau der havarierten Entrauchungsanlage und Kabeltrassen am BER in einen genehmigungsfähigen Zustand, die Beseitigung zahlloser weiterer Baumängel. Vor der Pannenserie wurde im Aufsichtsrat gerne über und für das Protokoll geredet, hört man. Jetzt gehe es um Details bis hin zur Frage, „ob irgendwo vier oder fünf Schrauben drinstecken“.
Keine Nebenaufgabe, sondern fast ein Fulltime-Job. 70 bis 80 Prozent seiner Zeit widme der Ministerpräsident gegenwärtig dem Flughafen, sagen Vertraute. Und das wird auf längere Sicht so bleiben: Bis zum Jahresende, befürchtet ein sozialdemokratischer Parteifreund Platzecks. Mindestens bis zum Sommer, schätzt ein Mitglied des Aufsichtsrates. Allein einen Schwarz-Nachfolger zu engagieren, könne bis Ostern dauern. Am schwierigsten aber seien nicht die personellen und technischen Probleme zu lösen, so gravierend sie auch sind. Das Schlimmste, sagt einer aus Platzecks Umgebung, ist der verlorene Glaube an den Flughafen: „Das Projekt hat kein Vertrauen mehr.“
Genau deshalb haben sie ihn zum Vorsitzenden gewählt, trotz Bedenken auf Seiten der Bundesregierung. Die Weichen dafür wurden Anfang Januar gestellt. Wie dies geschah, sagt viel über die Zustände im Gesellschafterkreis aus Berlin, Brandenburg und Bund. Und mindestens ebenso viel über die Art, wie Platzeck in Krisen agiert.
Kurz vor dem ersten Wochenende des Jahres, am Freitagabend, hatte Horst Amann, der Technik-Vorstand der Flughafengesellschaft, den drei Anteilseignern per Boten einen zweiseitigen Brief nebst Anlage geschickt. „Projektstatus BER“ stand darüber. Amann listete ziemlich unsortiert auf, was alles nicht klappt auf der Baustelle und in der erhofften Zeitspanne auch nicht klappen wird. Mittendrin findet sich der Satz: „Infolge dessen ist der Inbetriebnahmetermin 27.10.2013 nicht mehr zu realisieren.“
Fatales Stillschweigen
Das Schreiben erreichte Platzeck und Wowereit am Sonnabend. Man telefonierte und vereinbarte ein Treffen der Gesellschafter für die folgende Woche, bis dahin sollte Stillschweigen gewahrt werden. Wowereit deutete seine Bereitschaft an, den Aufsichtsratsvorsitz abzugeben. Am Sonntagnachmittag beriet Platzeck in seinem Haus in Potsdam-Babelsberg mit engen Vertrauten, was daraus folgt. Ergebnis: „Im Zweifel mache ich es.“ Lieber den Tiger reiten, so sagt es einer aus der Runde, als gleich von ihm gefressen zu werden.
Das verabredete Schweigen erwies sich jedoch als fatal. Am Sonntagabend meldeten die Agenturen, der Flughafen-Starttermin Oktober sei gekippt. Kein Leck, sondern schierer Zufall der Gleichzeitigkeit, heißt es in Potsdam: Eine Boulevardzeitung habe vage Hinweise von am Bau beteiligten Firmen bekommen, aber keine Kenntnis von Amanns Brief gehabt. Gleichwohl standen die Gesellschafter als Vertuscher da. Ihr Plan, in Ruhe zu beraten und Entscheidungen zu treffen, war über den Haufen geworfen.
Im folgenden Wirrwarr zeigte sich, dass nur einer wusste, was und wohin er wollte: Platzeck. Im Bund widersprachen sich Finanz- und Verkehrsminister, ob sie seinem Wechsel vom Vize- auf den Chefsessel im Aufsichtsrat zustimmen. Die Berliner leckten ihre Wunden und waren mit der Verteidigung von Wowereits Macht im Senat beschäftigt. Brandenburgs Ministerpräsident dagegen ließ sich seinen Aufstieg absegnen bei einem Spitzentreffen aller Gesellschafter – dem überhaupt ersten dieser Art. Zwar habe er auch an Rücktritt „von allen Ämtern“ gedacht, gibt Platzeck später zu. Keine Sekunde aber schien es dem Potsdamer akzeptabel, die Kontrolle über das BER-Projekt dem Bund oder gar einem Fachmann von außen zu überlassen, wie es die Oppositionsparteien forderten.
„Ich kenne wenige, die so kalt berechnend sind wie der“, sagt ein früherer Weggefährte über Platzeck. Politische Freunde und Konkurrenten drücken es milder aus: „Er kann knallhart sein.“ Im Kabinett lasse der Regierungschef seinen Ministern kaum Fehler durchgehen. Wenn doch mal was schiefläuft und korrigiert werden muss, tadelt er verhalten, aber deutlich: „Das hätten wir uns ersparen können.“ Anders als Wowereit, heißt es, werde Platzeck nie verletzend.
In seinen ersten Tagen als Chefaufseher hat dieses Bild gehalten. In der Öffentlichkeit wie vor den Brandenburger Abgeordneten, denen er ein Vertrauensvotum abnötigt, tritt Platzeck offen und verbindlich auf, ohne grundlegend anderes zu sagen als vor ihm Wowereit. Transparenz und Teamgeist sind die immer wieder benutzten Worte, die seine Strategie markieren. „Ich stehe zu meiner Mitverantwortung“, sagt er, als die Krise eine Woche alt ist, vor Millionenpublikum bei Günther Jauch in der ARD. „Entweder dieses Ding fliegt, oder ich fliege.“
Nur einmal, als jemand wissen will, was genau das heißen soll, verliert er die selbst auferlegte Contenance. Vorigen Freitag muss Platzeck dem Hauptausschuss des Landtags in Potsdam Auskunft über die Ereignisse geben, die doch alle bestens kennen. Die BER-Verantwortlichen haben seit der vorletzten Eröffnungsabsage im Mai 2012 jede Menge solcher Termine: Drei Parlamente mit jeweils mehreren Ausschüssen wollen informiert sein. Platzeck wiederholt, was er schon mehrmals gesagt hat: Wie schwierig alles sei und dass man Zeit brauche, aber nun nach vorne blicken müsse.
Dann stellt Saskia Ludwig, Ex-Chefin der CDU im Land, die einfache Frage, was es bedeute, wenn Platzeck von politischer Verantwortung spreche. Während sie redet, legt der Angesprochene die linke Hand an seine Wange und sieht Ludwig an wie ein störrisches Kind. „Das werden Sie dann sehen“, blafft er schließlich, „und wie Sie es bewerten, das ist mir relativ wurscht.“ Einen kurzen Moment bröckelt die Fassade. Es reicht, um zu zeigen, wie groß die Anspannung ist, unter der Platzeck steht und die er um keinen Preis offenbaren will.
Talent zur Motivation
Schon immer hat er sich recht gut im Griff gehabt und es geschafft, andere Menschen mitzureißen. So wurde er zum „Deichgrafen“, der dem Oder-Hochwasser trotzte. Und zum Hoffnungsträger der SPD, was freilich kurz währte. Wer wissen will, woher das Talent zur Motivation und Organisation kommt, fragt am besten Bekannte Platzecks aus einer Zeit, als er vom Hygiene-Ingenieur zum Politiker wurde – in der Spätphase der DDR. Die Lehrerin Carola Stabe gründete zusammen mit ihm 1988 die Gruppe ARGUS, die sich in Potsdam für Umweltschutz und Sanierung statt Abriss einsetzte.
Gemeinsam planten beide ein Treffen von DDR-Umweltgruppen, das aber verboten war. Gemeinsam fuhren sie zum SED-Zentralkomitee, wo Platzeck die hochrangige Genossin Ursula Ragwitz bequatschte. „Die wusste von nichts“, erzählt Stabe, „also haben wir geschlossen, dass es gar nicht verboten ist – und damit erlaubt.“ Dennoch bereiteten sie das Treffen heimlich vor. „Wir mussten es so aussehen lassen, als wenn es eine kleine Geschichte wird“, sagt Stabe. Dabei kamen 150 Leute, die Essen und Unterkunft brauchten. Platzeck kümmerte sich. „Er hat rumtelefoniert und ist zu Großbetrieben gefahren, um Geschirr zu holen.“
In Konfliktsituationen habe sie Platzeck als zielstrebig und durchsetzungsstark erlebt, erzählt Stabe. Es wunderte sie deshalb nicht, wie er 1997 als Umweltminister die Flutkatastrophe im Oderbruch anging. Auch damals dämpfte Platzeck die Hoffnungen, so, wie heute am Flughafen. Zehn Prozent betrage die Chance, den Deich in Hohenwutzen zu retten, sagte er in die Kameras. General Hans-Peter Kirchbach, der damals den Bundeswehr-Einsatz leitete, erinnert sich an eine Absprache mit Stolpe und Platzeck: „Wenn es schief geht, gehen wir alle zusammen vor die Presse.“ Die Karriere von Brandenburgs Umweltminister wäre dann beendet gewesen. Der Deich hielt, und er stieg auf.
Jetzt gibt Platzeck selbst den General. Er sei „preußisch-korrekt erzogen“, begründete er den Wechsel zum Chefaufseher. Gerne erzählt er von seinem Großvater, der Pfarrer war und ihn Pflichterfüllung gelehrt habe: „Wichtig ist es, übernommene Aufgaben auszufüllen und ordentlich zu erledigen.“ Nur seine Frau soll ihm abgeraten haben, den undankbaren Posten im Aufsichtsrat zu übernehmen.
„Ich bin mir sicher, dass er das wuppt“, sagen Carola Stabe und viele andere in Potsdam, die Platzeck lange kennen. Zuhören, mitnehmen, Vertrauen schaffen, heißt sein Plan. Einen anderen gibt es nicht für den Flughafen.