Berlin-Mitte: 200 Jahre alte Eiche soll einer Tiefgarage für sechs SUV weichen
Das Oberverwaltungsgericht entschied gegen den Baum. Nun könnte es schnell gehen, denn ab 1. März gilt eine Schonfrist. Doch die Anwohner geben nicht auf.

Noch steht die Eiche. 200 Jahre alt ist sie, sie hat die Kaiserzeit er- und überlebt, zwei Weltkriege und die Berliner Mauer. Aber jetzt könnte es jeden Moment zu Ende sein. „Bestimmt kommen sie um sechs Uhr morgens, um auf möglichst wenig Widerstand zu treffen“, sagt die Schauspielerin Helene Grass.
Grass ist eine der Anwohnerinnen der Dresdner Straße 113. Dort steht die Eiche im Hof, an ihrem Stamm hängt ein Plakat, auf dem mit dicken roten Buchstaben steht: „Lass mich leben“. Rund herum sieht man Neubauten und eine alte, zum Wohnhaus umfunktionierte Schule. Seit zwei Jahren kämpfen Grass und die Anwohnerinitiative dafür, dass die Eiche stehen bleiben darf – und nicht einer Tiefgarage für sechs SUV weichen muss. Nun scheinen sie diesen Kampf verloren zu haben: Am Dienstag hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in letzter Instanz entschieden, dass die Bauherren die Eiche fällen dürfen. Und da am 1. März die Schonzeit beginnt, rechnen die Anwohner damit, dass die Baumfäller jeden Moment anrücken.
Rechtlich ist nichts mehr zu machen. Aber die Anwohner versuchen weiterhin alles, was sonst noch geht. Über die sozialen Medien, auch über den Instagram-Account der Eiche – mit mittlerweile 900 Followern – rufen sie zu täglichen Mahnwachen bis Ende Februar auf.
Bei der ersten Mahnwache am Donnerstag haben sich am frühen Nachmittag etwa 30 Leute versammelt, manche haben sich extra frei genommen. Viele gehören zur Anwohnerinitiative, engagierte Nachbarn sind da und Klimaaktivisten. Sie stehen vor dem Zaun, der die Eiche vom Rest des Innenhofs abtrennt – der Baum gehört jetzt dem Investor, betreten verboten.
Fünf junge Bäume ersetzen keinen alten
Die Stimmung ist gedrückt und gleichzeitig aufgewühlt. Nein, man habe nicht mit so einer Entscheidung gerechnet, „sondern mit Menschenverstand“, sagt Grass: „Es geht hier nicht darum, dass wir zu unserem privaten Vergnügen ein bisschen Grün vor dem Balkon haben. Es geht um Grundsätzliches. Um die Frage: Wie wollen wir überleben in der Stadt?“
Dass der Klimawandel und die immer heißeren Sommer zunehmend zum Problem werden, ist längst auch Thema im Bezirksamt Mitte. Dort hat man im letzten Mai den Klimanotstand ausgerufen. Heißt: Man will Grün- und Freiflächen pflegen, man betont, wie schädlich Versiegelungen für das Klima sind und wie wichtig Bäume. Sie filtern Schadstoffe aus der Luft, geben Feuchtigkeit ab, sie verhindern, dass Häuser und Straßen sich stark aufheizen, sie begünstigen die Abkühlung in der Nacht, sie spenden Schatten – große, alte Bäume können das besser als kleine, junge.
Deshalb hilft es auch nicht viel, dass der Bezirk für die gefällte Eiche fünf neue Bäume pflanzen würde. „Außerdem werden die sowieso schnell absterben“, sagt Grass. Schließlich könne man bei zunehmender Trockenheit nicht immer mit Eimer und Schläuchen bereitstehen. Die Eiche hingegen ist einer der wenigen Bäume, die man nicht wässern muss, weil ihre Wurzeln bis zu 40 Meter tief in die Erde reichen, sie kann sich über das Grundwasser selbst versorgen. „Und die Politik winkt das einfach durch! So langsam verstehe ich, wenn die Leute politikverdrossen werden und sich nur noch um ihre eigenen Radieschen kümmern.“
Der Regisseur Julian Rosefeldt („Manifesto“) ist der Kopf der Anwohnerproteste und hat unzählige Stunden mit E-Mails und Recherchen verbracht. Er wirft dem Bezirk vor, die Anwohner aus dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen zu haben. Und er ist enttäuscht von Ephraim Gothe (SPD), dem stellvertretenden Bezirksbürgermeister und Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung, der sich in den Augen vieler Anwohner eher zum Erfüllungsgehilfen der Baulobby gemacht hat, statt die Interessen der Berliner Bürger zu vertreten.
Mit anderen Politikern lief es auch nicht besser. Die Nachbarschaftsinitiative habe im Sommer 2021, gleich nachdem sie von dem Bauvorhaben erfahren habe, auch die damalige grüne Bezirksstadträtin für Umwelt und Naturschutz Sabine Weißler kontaktiert. Als zeitgleich die ersten Medien über die Eiche berichteten, habe Weißler ihn angerufen und darum gebeten, das Thema nicht weiter öffentlich zu thematisieren – es sei gerade schließlich Wahlkampf. „Unfassbar“, sagt Rosefeldt: „Eine grüne Politikerin bittet eine Bürgerinitiative, die sich für ein explizit grünes Thema einsetzt, sich ruhig zu verhalten.“ Die grüne Bezirksstadträtin für Umwelt und Natur wiederum, Almut Neumann, die sich für ihre Webseite auch schon beim Umarmen eines Baumes fotografieren ließ, gab sich uninteressiert und ließ ihren Referenten ausweichend antworten: „Viele hier in der Nachbarschaft, ich eingeschlossen, sind Rot-/Grün-Wähler und entsetzt über diese phlegmatische Haltung, vor allem nachdem die rot-grüne Regierung gerade erst den Klimanotstand ausgerufen hat."
Auch die Bitte, das Thema in der kommenden Bauausschusssitzung der Bezirksverordnetenversammlung aufzugreifen, wurde ignoriert. Keiner der Anwohner wurde zur Bauausschusssitzung eingeladen, dafür aber drei Vertreter der Bauherrenschaft für das Projekt. Die Anwältin der Bauherren hätte dann Falschaussagen verbreitet, etwa, dass die Eiche geschwächt sei und ein danebenliegender Götterbaum ihr „das Lebenselixier“ entziehe. Nur: Die vier Götterbäume standen in großem Abstand zur Eiche, inzwischen sind sie gefällt. „Getäuscht von diesen Falschaussagen haben die Politiker dann beschlossen, die Eiche zum ‚Todbaum-Biotop‘ zu machen.“
Auch in der BVV sei man mit Fragen nicht durchgekommen, sagt seine Mitstreiterin Helene Grass. Das komme zwar öfter vor, weil einfach oft so viele Themen auf der Liste stünden. Aber der Frust ist groß. „Wir haben versucht, uns als Bürger zu engagieren. Früh, sachlich und fachlich. Wir wurden einfach ignoriert.“
Der Investor will kein Statement abgeben
Auch den Investoren habe man unzählige Male kontaktiert, ihn gebeten, sich zusammenzusetzen und gemeinsam eine Lösung zu finden. Aber der Bauherr habe in der Presse nur kolportiert, er habe noch nie etwas von den Anwohnern gehört. Dann sei doch eine Mail gekommen, erzählt Grass, Mitte Januar: Vielleicht könne man doch überlegen, den Baum stehen zu lassen. „Wir haben natürlich sofort geantwortet, darum gebeten gemeinsam einen Kompromiss zu suchen, aber nie wieder was von ihnen gehört. Das war offenbar eine Finte, die haben nur auf den Gerichtsentscheid gewartet.“
Ob das so stimmt, lässt sich nicht überprüfen, da der Investor, Concept Immobilien aus Hamburg, der Berliner Zeitung kein Statement geben will.
Grass versteht die Welt nicht mehr. Es sei bei dem Widerstand nicht darum gegangen, den Bau neuer Wohnungen zu verhindern: „Jeder Quadratmeter soll gebaut werden!“ Für die geplanten Parkplätze wären andere Lösungen wären möglich. Zum einen gebe es in der Gegend genug Tiefgaragen mit freien Plätzen. Und der barrierefreie Parkplatz, der vorgesehen war, hätte im Hof Platz – auch wenn das Bezirksamt Mitte noch vor einigen Jahren in einer Angelegenheit auf einem Nachbargrundstück erklärt hatte: „Hofbereiche sind grundsätzlich vom Kfz-Verkehr freizuhalten“. Grass zeichnet mit ihrem Arm die künftige Zufahrt nach: Von der Straße eine ganze Strecke über den Hof bis zur Eiche. Da sollen die Autos dann über einen Aufzug in die Garage gebracht werden.
Und überhaupt: Hätten die künftigen Bewohner nicht auch gern eine Eiche im Hof? Sie glauben, der Investor hätte sich damit bei den Käufern beliebt machen können. „Aber private Profite stehen eben über dem Naturschutz“, sagt ein Nachbar. Die Eiche sei ein „Symbol für das, was an vielen Orten passiere, im Kleinen wie im Großen: Im größeren Maßstab profitiert RWE in Lützerath davon, dass die Natur zerstört wird.“ Dabei gebe es ein Baumschutzgutachten, in dem klar werde, dass Neubau und Baum koexistieren können. Aber das habe das Oberverwaltungsgericht ignoriert. Selbst die Baukammer Berlin, die für das Bauen steht, hat die Eiche zum Titelblatt ihrer Zeitschrift „Konstruktiv“ gemacht.
Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter!
Die Runde in der Dresdner Straße wird größer. Stefan Lehmkühler ist gekommen, er war hier im Wahlkreis Direktkandidat für die Grünen, und diskutiert jetzt mit den Anwohnern und Ingrid Bertermann, Bezirksverordnete der Linken in Mitte. Der Bezirk könne nun mal keine Fällung versagen, wenn eine Baugenehmigung erteilt sei. Dieses Verfahren habe der Senat einst eingeführt, um Bauvorhaben zu beschleunigen. „Total veraltet“, sagt Lehmkühler: „Wenn ein Verfahren mal läuft, hinkt man immer hinterher, die Beteiligungsverfahren kommen danach, in dem Fall also auch das Fällen.“ Bald geht es darum, wer Schuld hat, dass die Grünen nicht engagiert genug sind im Abgeordnetenhaus, um eine Gesetzesänderung durchzudrücken. „Bitte, bitte, jetzt keine Parteipolitik“, sagt Grass. „Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter.“
Wenn die Frist verstreicht, wäre ein ganzes Jahr gewonnen
Denn noch immer schlägt Baurecht das Baumrecht. Die Landesbauordnung müsste korrigiert werden, das Abgeordnetenhaus müsste Druck machen. Bei Bebauungsplänen größerer Areale ist eine Umweltprüfung längst Standard. Gäbe es sie auch bei einzelnen Bauwerken, könnte die Eiche wohl stehenbleiben, unzählige Pilze, Flechten, Insekten, Vögel und Eichhörnchen würden ihr Zuhause nicht verlieren.
Noch haben die Eichenverteidiger in der Dresdner Straße nicht aufgegeben. Wenn sie es tatsächlich schaffen würden, eine Fällung zu verhindern, wäre gleich ein ganzes Jahr gewonnen. Ein Jahr für eine Eiche, die 1000 Jahre alt werden kann. Und vielleicht ein Jahr, in dem die Politik den Klimawandel nicht nur auf dem Papier zur Aufgabe macht.