Prozess wegen Mietminderungen: Calvinstraße: Baulärm ist hinzunehmen

Berlin - Lärm, Staub und andere Belästigungen durch Bauarbeiten müssen Mieter in der Berliner Innenstadt ohne Anspruch auf Mietminderungen hinnehmen. So hat es am Dienstag zumindest die 63. Kammer des Landgerichts Berlin entschieden und damit frühere Urteile des Amtsgerichts Tiergarten korrigiert.

In dem konkreten Fall geht es um die Auseinandersetzungen zwischen dem Vermieter und sechs von einst 15 Mietparteien in der Moabiter Calvinstraße 21. Die haben schon bundesweit Aufsehen erregt. Auch, weil einer Mieterin während der seit 2009 währenden Bauarbeiten die Fenster von Küche und Bad zugemauert wurden.

Anwohner der Calvinstraße entsetzt

Die Vorsitzende Richterin Regine Paschke brauchte nur zehn Minuten, um ihre Entscheidung zu verlesen. Die bestand vorrangig aus Zahlenkolonnen im zwei- bis dreistelligen Bereich. Das sind die Beträge, die die Bewohner des 60er-Jahre-Rauputz-Baus je nach Intensität der Bauarbeiten um sie herum von der Miete abzogen – nach Auffassung des Landgerichtes zu Unrecht.

Eine schriftliche Begründung wird erst in einigen Tagen vorliegen. Zu einer mündlichen Erläuterung war Richterin Paschke am Dienstag nicht bereit, unter Verweis auf die komplizierte Sachlage. Eine Revision vor dem Bundesgerichtshof lehnte die Kammer ab.

Bis auf den Fall von Helga Brandenburger, deren Fenster zugemauert wurden. Sie kann die nächsthöhere Instanz in Mietsachen anrufen. Ihr gestand das Landgericht eine Minderung der Miete um 20 Prozent zu. Das Amtsgericht Tiergarten hatte in einem Urteil vom Sommer vergangenen Jahres noch entschieden, dass das neu erbaute Nachbarhaus in der Melanchtonstraße 16 wieder abgerissen werden müsse.

Mieteranwalt Christoph Müller und die Bewohner der Calvinstraße reagierten am Dienstag im Landgericht Littenstraße entsetzt auf die Entscheidung. Zwar habe er mit einer Niederlage vor der 63. Zivilkammer gerechnet. Deren sogenannte Baulückenrechtsprechung werde in Berlin seit Jahren kontrovers diskutiert, weil sie Mietern in der Innenstadt bei Baubelastungen im Umfeld kaum noch Mietminderungsrechte einräume. Als bitter bezeichnete Müller, dass eine Revision vor dem Bundesgerichtshof nicht zugelassen werden soll. Eine Beschwerde dagegen sei aufgrund des geringen Streitwertes kaum durchsetzbar. „Damit hätten wir nach dreijährigem Kampf nichts durchsetzen können.“

Unerwartete Schützenhilfe

Die unterlegenen Mieter wollen jetzt die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde prüfen. Dabei verweist Rechtsanwalt Müller auf das jüngste Mietrechtsurteil der 65. Zivilkammer am Landgericht Berlin. Die hatte erst im März eine dezidiert gegenteilige Position bezogen.

„Entgegen der Ansicht der Zivilkammer 63 des Landgerichts Berlin geht die zuständige Berufungskammer auch nicht davon aus, dass eine Minderung im Falle von Bauarbeitern im Innenstadtbereich bereits deshalb ausgeschlossen ist, weil der Mieter im Regelfall ohnehin damit rechnen müsse, dass es ... zu Veränderungen kommt, die sich auf die Mietsache nachteilig auswirken.“ Die 65. Kammer ist die Berufungsinstanz für die Amtsgerichte Charlottenburg, Pankow-Weißensee und Neukölln. Die 63. Kammer entscheidet, wenn Urteile der Amtsgerichte Schöneberg, Mitte oder Lichtenberg angefochten werden.

Schützenhilfe bekommen die Mieter der Calvinstraße von gänzlich unerwarteter Stelle, nämlich von der Eigentümerschutzgemeinschaft Haus und Grund. „Bei derart unterschiedlichen Rechtsauffassungen von zwei Berliner Kammern muss der Bundesgerichtshof entscheiden“, sagte am Dienstag Dieter Blümmel, der Sprecher von Haus und Grund, auf Anfrage.

Seit 2009 war vom Besitzer des Hauses Calvinstraße 21, der auch die Nachbarimmobilien erworben hatte, in dem mittlerweile gefragten Areal unweit von Innenministerium und Spree beständig gebaut worden. Mal entstand unter der Grünfläche im Hof eine Tiefgarage, später wurde das Nachbarhaus zur Linken entkernt und saniert und schließlich in der Melanchtonstraße 16 ein neues Haus errichtet.

Die Bewohner hatten ihre Mieten – gut 550 Euro warm für 79 Quadratmeter – um zehn bis 20 Prozent gemindert. Die Besitzerin reichte eine Räumungsklage ein und forderte Mietnachzahlungen. Das Amtsgericht wies die Klage nach einer Ortsbegehung ab. In dem Urteil heißt es unter anderem: „Angesichts des Umfanges und der Dauer der Baumaßnahmen kann es keinem ernsthaften Zweifel unterliegen, dass diese mit erheblichen Belästigungen für die Mieter verbunden waren ... und die von den Beklagten vorgenommene Mietminderung auch dem Gericht als sehr moderat erscheint.“