Kudamm-Amokfahrt: Überlebender Lehrer sagt vor Berliner Gericht aus
Im Prozess erinnert sich Jörg P. an den Tag, an dem er lebensgefährlich verletzt wurde. Bis zum Moment der Katastrophe seien seine Schüler „happy“ gewesen.

Er stand auf dem Kudamm in Charlottenburg mit Blickrichtung zur Gedächtniskirche und checkte mit seiner Kollegin Tanja H. gerade auf dem Handy, wo sie sich genau befanden. Das ist die letzte Erinnerung, die Jörg P. hatte, bevor er am 8. Juni des vergangenen Jahres von einem silbergrauen Renault Clio erfasst und mitgeschleift wurde.
Dem 53-Jährigen fällt es sichtbar schwer, über seine Erinnerungen zu reden. Jörg P. ist Lehrer. Das Auto, das ihn mitschleifte, erfasste auch seine Kollegin Tanja H. Es riss ebenso Jugendliche einer Schule aus dem hessischen Bad Arolsen mit. Mit ihnen weilten die beiden Pädagogen in Berlin.
Jörg P. ist an diesem Freitag Zeuge im Prozess um die mutmaßliche Amokfahrt vom Breitscheidplatz, bei der er wie 15 weitere Menschen lebensgefährlich verletzt wurde. Seine Kollegin Tanja H., Mutter zweier 14 und 16 Jahre alter Kinder, starb. Jörg P. ist der einzige Zeuge aus Bad Arolsen, den die Kammer um den Vorsitzenden Richter Thomas Groß geladen hat. Damit, so hatte Groß angekündigt, wolle er die betroffenen Mädchen und Jungen schonen.
Beschuldigter offenbar schuldunfähig
Der Lehrer ist ein sportlich wirkender Mann mit Kapuzenjacke, Jeans, Brille und etwas verwuschelten kurzen, grauen Haaren. Er antwortet mit ruhiger Stimme; manchmal, wenn ihm die Tränen kommen, muss er innehalten. Während er erzählt, schaut er nicht einmal nach links. Dort sitzt hinter Panzerglas Gor H., der mutmaßliche Fahrer des Renault Clio. Der 29-Jährige ist in diesem Verfahren Beschuldigter und nicht Angeklagter, weil er zum Tatzeitpunkt vermutlich schuldunfähig war. Die Staatsanwaltschaft strebt die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
Heimtückemord und sechzehnfachen versuchten Mord wirft ihm Staatsanwältin Silke van Sweringen vor. Gor H. soll das Auto absichtlich auf den Gehweg gesteuert haben, um Passanten zu verletzen. Er habe gewusst, dass die Menschen keinen Angriff ahnten. „Wobei er auch tödliche Verletzungen für möglich hielt und verursachen wollte“, so die Staatsanwältin.
Der Lehrer Jörg P. erzählt, dass er mit den 24 Schülerinnen und Schülern der 10. Klasse von Tanja H. auf Abschlussfahrt gewesen sei. Der Tag in Berlin habe normal in einem Hotel begonnen, mit einem gemeinsamen Frühstück, dann habe es ein kritisches Gespräch mit einigen Schülern gegeben, die nachts „ziemlich aktiv gewesen“ seien, wie es der Zeuge beschreibt.
Geplant war an jenem Tag ein Besuch im Bundestag. Doch zunächst fuhren Schüler und Lehrer zum Kudamm. Am Breitscheidplatz erzählte Jörg P. den Schülern von dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt im Dezember 2016, durch das 13 Menschen starben. Dann war noch Zeit zum Bummeln. „Die Kids waren happy, sie freuten sich aufs Shoppen“, erinnert sich der Lehrer. An einer Ampel überquerten sie die Straße.
Dann raste auch schon das Auto in die Schülergruppe. Jörg P. musste später im Krankenhaus notoperiert werden, sein Becken und das Schlüsselbein waren zertrümmert. Fast einen Monat lag er im Krankenhaus, danach folgten eine stationäre und eine ambulante Reha. „Ich musste alles neu lernen. Laufen, Gitarrespielen.“
Heute könne er wieder gehen, auch Gitarrespielen habe er sich wieder beigebracht. „Und wie geht es Ihnen seelisch?“, will der Richter wissen. Nach der zweiten Operation in Berlin sei der Einbruch gekommen, antwortet Jörg P. Er sei psychisch ganz wunderbar betreut worden. Am Anfang habe er oft Panikattacken bekommen, laut aufheulende Automotoren hätten ihn getriggert. Er sei dann wie erstarrt stehen geblieben und habe geschrien, erzählt der Pädagoge.
Seit Anfang November arbeitet Jörg P. wieder als Lehrer. Er sei aber schon vorher in der Schule gewesen, habe mit dem Rollator an der Abschlussfeier und Zeugnisausgabe der Klasse von Tanja H. teilgenommen. Er berichtet, dass einige Schüler nach dem Ereignis die Schule abgebrochen hätten. Sechs oder sieben Mädchen und Jungen hätten ganz erhebliche Probleme. Manche könnten mit ihm nicht reden. Mit anderen Jugendlichen könne er hingegen „ganz toll sprechen“, sagt der Lehrer. Er weint, als er sagt: „Wir werden im Leben ewig miteinander verbunden sein.“
Der Lehrer möchte mit Gor H. reden
Was sich in seinem Leben geändert habe, will der Vorsitzende Richter von dem Zeugen wissen. „Ich habe gemerkt, wie schnell alles vorbei sein kann. Ich bin jetzt direkter, spreche Dinge schneller an, mache keine Kompromisse“, antwortet der Lehrer.
Noch immer ist Jörg P. in psychologischer Behandlung. Er habe noch ein paar Dinge offen, denen er sich stellen müsse, sagt er. Dazu gehöre ein Mahnmal, das er gerne mit aufbauen möchte und das an die Opfer der Amokfahrt erinnern soll. Dann will er die Familie seiner getöteten Kollegin besuchen. Der letzte Punkt auf seiner To-do-Liste sei der schwerste, sagt er. „Ich möchte mit dem Mann reden.“ Er schaut Gor H. nicht an, doch jeder im Saal weiß, dass Jörg P. den Beschuldigten meint.
Der Prozess wird am Montag fortgesetzt.