Radfahren in Berlin: Amsterdam gilt in Sachen Fahrrad als Vorbild, auch für Berlin
Ein zaghafter Schritt vor, aber schnell wieder zurück. Im Blick des Mannes, der neben drei anderen Fußgängern auf einer kleinen Mittelinsel vor einem Zebrastreifen steht, zeichnet sich Resignation ab. Der Übergang führt über einen breiten Fahrradweg, und genau genommen müssten die Radfahrer hier eigentlich halten, um Fußgänger passieren zu lassen.
Nicht so in Amsterdam und erst recht nicht zur Feierabendzeit: Hunderte Räder strömen neben- und nacheinander die Weteringschans entlang, Vorderrad an Hinterrad, manchmal so dicht, dass kein Stück Papier dazwischen passt. Romantische Grachten, Sonne, malerische Kulisse mit jahrhundertealten Häusern: Fahrrad zu fahren in Amsterdam kann sehr entspannt sein – aber genauso gut auch eine Herausforderung, die erhöhte Konzentration erfordert.
31 Prozent des Verkehrs werden hier mit dem Fahrrad zurückgelegt, das Radwegenetz umfasst 600 Kilometer, 80 Prozent der Einwohner haben mindestens ein Fahrrad. In Amsterdam soll es mehr Fahrräder als Menschen geben. Delegationen aus Städten rund um die Welt kommen hierher, um sich einen Eindruck davon zu machen, wie eine Fahrradstadt funktioniert. Auch Berlins damaliger Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) hat vergangenes Jahr vorbei geschaut: Amsterdam wird immer voller, es wimmelt vor Touristen, rote Ampeln gelten nicht, das Handy ist stets am Ohr – die Vergleiche mit Berlin liegen nah.
Viele Konflikte
„Nicht alles, was hier funktioniert, lässt sich auf andere Städte übertragen“, sagt Pieter Lietjens, Amsterdams Beigeordneter für Verkehr und Beförderung. Besonders die Größenverhältnisse würden darüber entscheiden, ob sich Maßnahmen adaptieren ließen. Amsterdam zählt etwas mehr als 800.000 Einwohner und ist gut viermal kleiner als Berlin.
Ein Mittel, das überall funktioniere, sei die Verlagerung von Verboten zur Selbstverantwortung: „Eine rote Ampel ist für Radfahrer in Amsterdam kein besonders guter Grund zum Halten“, sagt Lietjens. Er sieht das trotzdem entspannt und verweist auf eine Untersuchung, die ergeben habe, dass nur fünf Prozent der Regelverstöße zu Gefahren führten. Sorge bereitet ihm dagegen vielmehr die schiere Zahl der Radfahrer. „Niederländer nutzen ihr Rad für alles“, sagt Lietjens, „auch für sehr kurze Strecken“. Die Folge seien Fahrradstaus und aggressive Radfahrer.
Zusammenstöße und Konflikte zwischen Radlern sieht man in Amsterdam täglich. Die meisten werden, mal mehr, mal weniger schroff, untereinander geregelt. Wer sich in Amsterdam mit Helm aufs Rad setzt, outet sich unmittelbar als Tourist, und nicht mal die Polizei ist abends unbedingt mit beleuchteten Rädern ausgestattet. Irgendwie funktioniert das System trotzdem.
Vielleicht, weil es weniger Konkurrenz zwischen Auto und Rad gibt als zwischen Rad und Fußgängern. Gegenüber des Amsterdamer Hauptbahnhofs Centraal stehen eine Reihe von Reisebussen vor Hotels. Wollen Touristen – etwas orientierungslos – ihre Koffer ein- oder ausladen, aus dem Bus raus oder dort einsteigen, spielen sich Szenen wie im Wilden Westen ab: eine wilde, nicht enden wollende Kakophonie verschiedener Fahrradklingeln ertönt. Fahrrad hat Vorfahrt, Nachsicht gibt es nicht. Das muss lernen, wer fremd oder neu ist in dieser Stadt.
Regulieren will die Politik die Masse an Radlern durch weniger Regeln. Zebrastreifen hat Amsterdam in dem Bereich vor den Hotels längst abgeschafft, entstanden ist ein Shared Space: alle sollen hier aufmerksam mit sich und anderen umgehen.
Lee Feldman ist ein Verfechter dieses Models. Der Kanadier ist Co-Gründer des Fahrrad-Thinktanks Cyclespace, der die Stadt Amsterdam berät. „Keine Ampeln, keine Regeln: Dadurch verändern die Menschen ihr Verhalten, sie bewegen sich bewusster miteinander“, sagt er. Dass es in den Shared Spaces kaum anders zugeht als überall sonst, stört ihn nicht. „Es braucht Zeit, dieses Verhalten zu lernen.“
Feldman trägt Schiebermütze und Rauschebart, durch den er das Motto von Cyclespace erläutert: „Räder verändern Städte, Städte verändern die Welt.“ Der Klimawandel, Schadstoffe und mangelnder Platz sprächen gegen Autos. Doch trotz aller Visionen von einer autofreien Zukunft gehe es nicht von heute auf morgen, wer ein Auto besitze, schaffe das wegen einer restriktiven Politik nicht gleich ab.
Garage unter der Gracht
„Man muss Alternativen entwickeln“, sagt Feldman und nennt unterirdische Parkplätze als Lösungsansatz. Ist das nicht total teuer? Doch, sagt er – und ist überrascht, dass so etwas in Berlin nicht diskutiert wird. In De Pijp, einem Stadtteil, der südwestlich ans Zentrum grenzt, baut die Stadt derzeit eine Tiefgarage – unter eine Gracht. „Ich war überrascht, wie billig das Parken in Berlin ist“, sagt auch Pieter Lietjens, der sich wundert, warum sich Berlin bei dieser Einnahmequelle selbst beschneidet.
Einfach nur Ideen haben, das Auto einzuschränken oder gar zu verbannen, das halten selbst die Radlobbyisten für tollkühn: „Ohne konkrete Lösung schafft man nur neue Probleme, statt die Situation zu verbessern“, sagt Lee Feldman. Ohne eine gute Infrastruktur sei die Transformation nicht zu schaffen. „Diese Voraussetzung muss als erstes erfüllt werden.“ Park-and-Ride-Plätze für Pendler, Fahrradstellplätze an Bahnhöfen, Mieträder – all seine Vorschläge sind in Berlin ausbaufähig.
Pieter Lietjens ist schon mal in Berlin Rad gefahren. Es hat ihn nicht nachhaltig beeindruckt. „Wir fuhren auf dem Bürgersteig, auf dem in gleicher Farbe ein Teil als Radweg markiert war“, erzählt er. Weder für Radfahrer noch für Fußgänger sei ersichtlich gewesen, wer sich wo bewegen kann. „Fahrradfahren muss attraktiv und bequem sein, sonst machen es die Leute nicht“, sagt Lietjens. Er empfiehlt, nicht zu lange zu warten. Bis die Maßnahmen greifen, könne es schon ein paar Jahre dauern.