Rausch und Radikalität: Als sich Linke und Rechte in Berliner Salons trafen
Seit den späten 1920er-Jahren trafen sich Linke und Rechte zu gemeinsamen Salons. Ein Blick auf eine bemerkenswerte Ausprägung der Berliner Boheme.

An einem Abend irgendwann um das Jahr 1930 herum – das genaue Datum ist nicht überliefert – warteten zwei junge Männer am U-Bahnhof Gleisdreieck auf den Zug und diskutierten. Laut. Der eine „redete in flatterndem Mantel, wild, beinahe schreiend“, so wird es der andere später beschreiben, „so dass sich die Passanten nach der seltsamen Erscheinung umwandten“.
Die Aufmerksamkeit der Passanten hätten die Diskutanten aber auch aus anderen Gründen verdient, schließlich handelt es sich um ein sonderbares Paar: Der wild gestikulierende Mann ist Erich Mühsam, Anarchist, Revolutionär, ehemaliges Mitglied diverser linksradikaler Organisationen von KPD bis Rote Hilfe. Der andere, der die Szene später aufschreiben wird, ist Ernst Jünger, seit seinem Kriegsroman „In Stahlgewittern“ Säulenheiliger rechtskonservativer Kreise, überzeugter Nationalist und Antidemokrat.
Die Diskussion bildete den Schlusspunkt eines Abends, den Jünger und Mühsam gemeinsam mit weiteren Gästen wie dem USPD-Politiker Ernst Toller beim Philosophen und Verleger Ernst Niekisch verbracht hatten – und der exemplarisch ist für ein bemerkenswertes Phänomen: Statt sich über Dinge wie „Kontaktschuld“ Gedanken zu machen, schufen sich manche Akteure im Berlin der Weimarer Republik die heute gelegentlich geforderten „freien Debattenräume“ einfach selbst und veranstalteten Salons, bei denen Vertreter der politischen Extreme aufeinandertrafen. Und zwar ohne dass sie sich, wie bei anderen zeitgenössischen Begegnungen von Rechts- und Linksradikalen nicht unüblich, mit Stuhlbeinen und Bierkrügen die Köpfe blutig schlugen.
Ernst Niekisch, der mit seiner Idee eines „Nationalbolschewismus“ die Verschmelzung scheinbar gegensätzlicher Positionen der politischen Ränder verkörperte und neben Mühsam und Toller zeitweise auch mit Berlins NS-Gauleiter Joseph Goebbels verkehrte, war dabei nur einer von mehreren Gastgebern dieser illustren Runden.
Er selbst erinnerte sich später an die Salons des Schriftstellers Arnolt Bronnen, der einst als linker Avantgardist gestartet war, um sich später der extremen Rechten zuzuwenden: „Bronnen gefiel sich darin, gesellschaftliche Abende zu veranstalten, deren Teilnehmer er so raffiniert auswählte, daß immer etliche darunter waren, die sich nicht ausstehen konnten, deren einer des anderen Feind war. Gewöhnlich braute er eine große Bowle. Wenn dann der Alkohol zu wirken anfing, brach das Chaos aus.“
Berliner Empfänge von Ernst Rowohlt: „pyrotechnische Mischung“
Ähnliches ist über die Empfänge Ernst Rowohlts überliefert. Wenn der Verleger zu seinen Geburtstagsfeiern lud, achtete er auf eine „pyrotechnische Mischung“, so hat es Ernst Jünger später formuliert: „Es war schwer, eine heterogenere Gesellschaft zu finden, wenn man nicht die Feste besuchte, die Ernst Rowohlt veranstaltete.“
Zu den Gästen zählten Linke wie Bertolt Brecht ebenso wie Ernst von Salomon, der einige Jahre zuvor am Mordanschlag der rechtsextremen Organisation Consul auf Außenminister Walter Rathenau beteiligt gewesen war. Im Hintergrund knisterte das Grammofon, Rauchschwaden zogen durch die Räumlichkeiten und auch hier floss der Alkohol in Strömen, sodass sich auch „starke Trinker“ wie der Schriftsteller Thomas Wolfe wohlfühlten.
War der Flirt der politischen Ränder also nur ein ausgefeilter Partygag exzentrischer Intellektueller? „Bei Bronnen den Abend verbracht. Mit den neuen Nationalisten. Sie trinken mir zu viel und theoretisieren zu stark. Und kommen zu keinem Entschluß“, ätzte etwa Berlins Nazi-Chef Goebbels in seinem Tagebuch über den Kreis um Ernst Jünger.
Jünger wiederum glaubte, Goebbels sehe in den Treffen eine „Werbestelle“ für seine Partei. Doch sollte Hitlers späterer Propagandaminister die Hoffnung gehegt haben, die ungewöhnlichen Zusammentreffen zur Rekrutierung nutzen zu können, so musste er enttäuscht werden. Denn für viele Protagonisten lag der Reiz gerade darin, sich politisch nicht fassen zu lassen.
„Ich war Faschist, mehr noch war ich Anarchist“, schrieb etwa Arnolt Bronnen später über seine Ausrichtung zu dieser Zeit. Und in Wien urteilte ein Journalist aus der Ferne über einen jener Salons: „Es handelt sich um einen merkwürdigen Kreis von Leuten, denen der Nihilismus, das Negieren alles Bestehenden, Selbstzweck geworden war. Nur so ist das Phänomen erklärlich, daß diese Menschen mit der selben Überzeugungswucht heute links und morgen rechts stritten, daß ihnen Sowjetstern und Hakenkreuz gleich viel galten.“
Berliner Salons und die Bereitschaft zur Radikalisierung
Und doch: Das Phänomen sollte man „durchaus sehr ernst nehmen, selbst wenn die konkreten politischen Auswirkungen schwer zu bemessen sind“, urteilt der Berliner Historiker Daniel Morat. So spiegele sich in den Zusammentreffen „die grundsätzliche Krise demokratischer Politikgestaltung in der Zwischenkriegszeit und die Bereitschaft nicht unerheblicher Teile der politischen und der Bildungselite zur Radikalisierung.“
Und auch wenn jeder Akteur unterschiedliche Motive mitgebracht habe, hätten handfeste politische Ziele in jedem Fall eine Rolle gespielt. „Das zeigt sich ja nicht zuletzt beim aus dem Tat-Kreis stammenden Querfrontkonzept, das Kurt von Schleicher als Reichskanzler umzusetzen versuchte“, sagt Morat.
Während die für Schleicher zentrale Querfrontkonzeption vor allem auf die Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Reichswehr abhob, kamen andere in den Salons diskutierte Ideen heutigen Vorstellungen des Begriffs näher. Ernst Niekisch, der in seiner Fünf-Zimmer-Wohnung am Halleschen Ufer nicht nur illustre Runden beherbergte, sondern auch Zeitschriften mit Titeln wie Der Widerstand verlegte, skizzierte hier etwa mit dem Kapitalismus und dem „Westen“ gemeinsame Feindbilder. Noch in den 1980er-Jahren suchten Neonazis unter Verweis auf diese Ideen den Schulterschluss mit der radikalen Linken.
Und wenn Sahra Wagenknecht und der AfD-Bundespräsidentschaftskandidat Max Otte sich heute den Querfrontvorwurf einhandeln, weil sie mit wortgleichen Tweets um Verständnis für Kreml-Chef Wladimir Putin werben, erinnert das an die nicht nur im Kreis um Niekisch verbreiteten Sympathien für das sowjetische Russland, die sich bei linken Akteuren ebenso fanden wie bei ihren nationalistischen Gegenübern.
Zum Beispiel im „Salon Salinger“. Wenn der Wirtschaftsexperte Hans Dieter Salinger, für Zeitungen wie den Berliner Börsenkurier eigentlich „eher ein Verfechter linksradikaler Ideen“, in seine Wohnung in der Zähringer Straße lud, waren Mitglieder der russischen Handelsvertretung ebenso zu Gast wie das übliche rechte Publikum: Ernst Jünger gehörte dazu, auch Arnolt Bronnen – und Ernst von Salomon.
Als 1929 eine Bombe am Reichstag hochging
Mit dem ehemaligen Terrorhelfer bekamen die radikalen Diskussionszirkel in den Augen der Polizei eine sicherheitspolitische Dimension. Als 1929 eine Bombe am Reichstag hochging und von Salomon in Verdacht geriet, wurden auch andere der regelmäßigen Gäste des „Salon Salinger“ festgenommen.
Den Verhafteten ließ sich letztlich nichts nachweisen, doch die Forschung geht heute davon aus, dass von Salomon an dem symbolträchtigen Sprengstoffanschlag sehr wohl beteiligt war. Er selbst schrieb später mit ironischer Note, es sei im Verlauf der damaligen Ermittlungen fast „der gesamte ‚Salon‘ Salingers belästigt worden, den Widerstand am Teetisch nun also durch ein großes seelisches Martyrium sühnend“.
Wie viele andere Mitglieder der Berliner Boheme changierte auch Ernst von Salomon zwischen Rausch und Radikalität, zwischen fanatischem Ernst und belustigter Distanz. Das gilt nicht nur für die Ausführungen in den zahlreichen Lebenserinnerungen der beteiligten Akteure, die nach dem Zweiten Weltkrieg in großer Zahl erscheinen und deren retrospektive Schilderungen „natürlich immer mit Vorsicht zu genießen sind“, wie der Historiker Morat warnt.
Brechts Kontakte und die Flucht nach dem Reichstagsbrand
Protagonisten wie Bertolt Brecht, so meint etwa der Literaturwissenschaftler Jan Knopf, seien in schon Weimarer Zeiten viel unpolitischer gewesen, als es üblicherweise dargestellt werde. „Freundschaften pflegte er auch dann noch, wenn sie ‚ideologisch‘ unhaltbar geworden waren“, sagt der Leiter der Brecht-Forschungsstelle in Karlsruhe über die Kontakte des Dramatikers zu besagtem Arnolt Bronnen und dem Maler Rudolf Schlichter, der sich, ebenfalls von der Linken kommend, eher rechtskonservativen Ideen zugewandt hatte.
Und so kam es, dass in Brechts Wohnung in der Hardenbergstraße bei einer Silvesterfeier im Jahr 1932 im Schlepptau der alten Freunde auch rechte und nationalsozialistische Politiker auftauchten und auf einen „unblutigen Rechtsputsch“ im neuen Jahr anstießen. Ihr Wunsch sollte kurz darauf wahr werden und Brecht, so glaubt Jan Knopf, war seit diesem Abend auch über konkrete Terrorpläne der Nazis für die Zeit nach ihrer Machtübernahme im Bilde. Deshalb habe er sich bei seiner Flucht nach dem Reichstagsbrand 1933 auf akribische Vorbereitungen stützen können.
Tatsächlich gerieten viele der einstigen Salonbesucher bald ins Visier der Nazis, flohen oder saßen im Gefängnis. Selbst Ernst Jünger bekam es in seiner Steglitzer Wohnung mit Gestapo-Beamten zu tun. Sie suchten dort Briefe Erich Mühsams – jenes Anarchisten, der wenige Jahre zuvor am Gleisdreieck mit Jünger debattiert hatte und den die Nazis 1934 im KZ Oranienburg ermordeten.
Falls tatsächlich jemand in Berlins wilden Salons an die Möglichkeit einer Querfront geglaubt haben sollte oder „mit Rechten reden“ für eine gute Idee hielt, wurde er schnell eines Besseren belehrt.