"Ray": Stammt der Waldjunge aus der Schweiz?
Berlin - Wer ist Ray? Nach einem Monat weiß die Polizei noch immer nicht, wer der Junge ist, der behauptet, dass er fünf Jahre im Wald lebte. Der 17-Jährige, der am 5. September in Berlin auftauchte und nur seinen Vornamen Ray nennt, weiß angeblich nicht, wer er ist und wo er früher wohnte. Eine Spur könnte nun in die Schweiz führen. Kürzlich meldete sich bei der Polizei ein älteres Ehepaar, dessen Sohn seit 18 Jahren verschollen ist. Sie vermuten, dass Ray ihr Enkel sein könnte.
Noch immer versucht die Polizei, die Identität des Jungen zu klären. Sie informierte alle europäischen Polizeidienststellen, versandte über Interpol die DNA, die Fingerabdrücke und ein Foto des Jungen. Bis jetzt ohne Ergebnis. Nirgendwo wird Ray vermisst. Vor allem aus England hatten sich die Berliner Polizisten Hinweise erhofft. Seine Eltern hießen Doreen und Ryan, sagte Ray aus, was auf eine britische Herkunft deutet. Außerdem spricht der Junge fließend englisch und kann nur wenige Worte deutsch.
Gedächtnisverlust durch Unfall?
Als er damals beim Pförtner im Rathaus vorsprach, erzählte er einer Bediensteten, er sei "all alone in the world" - ganz allein auf der Welt. Nur seinen Vornamen und sein Geburtsdatum wisse er. Mit seinem Vater habe er fünf Jahre lang im Wald gelebt und im Zelt geschlafen. Dann sei der Vater gestorben, und er habe ihn in einem Erdloch begraben. Leider kenne er auch seinen Nachnamen nicht. Seine Mutter Doreen sei vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. An die Zeit davor könne er sich nicht erinnern. Vielleicht ein Gedächtnisverlust, bedingt durch den Unfall?
Elf Tage war Ray zunächst in einem Charlottenburger Heim des Jugendnotdienstes untergebracht. Er hatte gute Tischmanieren, war freundlich und duschte regelmäßig, erinnert sich eine Mitarbeiterin. Weder seine Sachen, die er anhatte noch das Zelt, das er dabei hatte, machten den Eindruck, dass er längere Zeit im Wald gehaust habe.
Aus dem Wenigen, was Ray erzählte, ergab sich für die Polizei, dass er seinen Vater vielleicht auf der tschechischen Seite des Erzgebirges begraben haben könnte, wo beide eine Weile gehaust haben sollen. Dort ist wilde Natur mit dunklen Fichtenwäldern und vielen Felsen - wie im Märchen. Der Vater soll Ray kurz vor seinem Tod angewiesen haben, immer in Richtung Norden nach Berlin zu laufen. Auch in Österreich könnte er seinen Vater begraben haben. Also benachrichtigte die Berliner Polizei ihre Kollegen in den beiden Ländern. Doch die fanden bisher kein Erdloch mit einer Leiche darin. Leider erinnert sich Ray auch nicht an die Landschaften, die er durchstreift haben will oder irgendwelche geografischen Besonderheiten. Ray wirke intelligent und keineswegs verwirrt, sagt die Polizei.
Und so erscheint seine Story den deutschen Behörden immer märchenhafter. Denn Ray erklärte inzwischen, er habe kein Interesse daran, dass die deutsche Polizei und auch die der anderen europäischen Länder mit einer Veröffentlichung seines Fotos versuche, seine Identität zu klären. Jetzt, da seine Eltern tot sind und er niemanden mehr habe, wolle er sich auf ein neues Leben konzentrieren. Eine merkwürdige Argumentation, findet man bei der Polizei. "Warum sollte er kein Interesse daran haben zu erfahren, wer er ist und wo er herkommt?", fragt sich etwa Polizeisprecher Thomas Neuendorf. Inzwischen stellte ein Polizeidolmetscher klar, dass Rays Englisch so akzentfrei sei, dass er auch aus jedem anderen Land stammen könnte. Vielleicht hat er diese Sprache nur besonders gut gelernt und stammt gar nicht aus England.
Vormund muss entscheiden
Ob er möglicherweise aus der Schweiz kommt, darüber würde ein neuerlicher DNA-Abgleich mit dem älteren Ehepaar Gewissheit bringen. Doch dafür müsste - wie auch bei einer Öffentlichkeitsfahndung im Ausland - das Einverständnis des Erziehungsberechtigten vorliegen. Oder des Vormundes. In diesem Fall ist es eine Sozialarbeiterin des Jugendamtes des Bezirks Tempelhof-Schöneberg, die in der vergangenen Woche vom Familiengericht damit beauftragt worden ist. Die muss sich erst in den Fall einlesen. "Wir werden zusammen mit ihm über seine Zukunft sprechen", sagt Jugendstadträtin Angelika Schöttler, die ansonsten keine Informationen über den Fall herausgeben will, "damit Ruhe einkehrt und wir uns auf die Zukunft dieses jungen Menschen konzentrieren können". Die Klärung seiner Identität sei mit inbegriffen, sagt sie dann noch - und dürfte damit den Polizeiermittlern neue Hoffnung geben.