Regionalbahnen in der Prignitz: Eine Tapferkeitsmedaille für jeden Fahrgast
Kaum Nutzer, geringes Tempo: Auf den ersten Blick gibt es für die Linien RB73 und RB74 keine Hoffnung mehr. Doch Experten sehen ein großes Potenzial.

Rosenwinkel, Blumenthal, Wutike, Bölzke und Brügge: Bahnhofsnamen wie aus einem Landroman. Manchmal erscheint eine kleine Regionalbahn, um mit Tempo 40 oder 60 über die Gleise zu schaukeln. Die Linien RB73 und RB74, die nordwestlich von Berlin durch die fast menschenleere Prignitz führen, wirken hoffnungslos wie aus der Zeit gefallen. Doch Bahnexperten und Politiker sehen für sie eine Zukunft. „Die Strecken haben Potenzial“, sagte Frank Schäfer von der Intraplan Consult GmbH. Wie groß es ist, dürfte aber als strittig gelten. Das wurde jetzt im Landtag Brandenburg deutlich.
Man wird ja wohl noch träumen dürfen. Es waren sehr optimistische Visionen, die während einer Anhörung im Ausschuss für Infrastruktur und Landesplanung skizziert wurden. Künftig könnten Regionalexpresszüge mit Tempo 120 durch die Prignitz fahren, sagte Ralf Böhme. Er ist Chef der Deutschen Eisenbahn Service AG, zu der die Strecke zwischen Neustadt (Dosse) und Meyenburg gehört. Die Prignitzbahn eigne sich zudem für Güterzüge, etwa vom Seehafen Rostock aus ins Hinterland. Vielleicht wären auch Fernverkehrszüge möglich, fügte der Grünen-Politiker Clemens Rostock hinzu.
Damit nicht genug: Werner Faber vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen hielt sogar Tempo 160 und eine Elektrifizierung für sinnvoll. Für lokale Industriebetriebe wie das Möbelwerk Meyenburg und den Laminathersteller Swiss Krono sei die Trasse ebenfalls interessant. Constantin Pitzen von der Fahrplangesellschaft B & B schwebte eine „durchgehende Reisekette von München bis Plau am See“ vor, die mehr Touristen in die Region bringen würde – auch ins benachbarte Mecklenburg-Vorpommern.
Von Berlin nach Krakow am See, Plau am See, Güstrow und Rostock
Darin waren sich alle Teilnehmer der Anhörung einig: Der Personenverkehr sollte nicht mehr auf Brandenburger Seite kurz vor der Landesgrenze enden, sondern wie bis zum Jahr 2000 darüber hinaus führen – nach Krakow am See und Plau am See, nach Güstrow und vielleicht sogar nach Rostock. Auf sanierten Bahnanlagen, am besten mit einer elektrischen Fahrleitung und einem zweiten Gleis. So könnte die Nord-Süd-Trasse zu einem länderübergreifenden Rückgrat des Verkehrs werden, sagte Pitzen.

Gutachter Hans Leister, einst Konzernbevollmächtigter der Deutschen Bahn für Brandenburg, hat im Sommer ein Fahrplankonzept vorgestellt. Danach könnte die Fahrzeit auf den 123 Kilometern von Neustadt (Dosse) bis Güstrow auf rund zwei Stunden gesenkt werden. In Pritzwalk ließen sich gute Anschlüsse zum Prignitz-Express herstellen, sagte er. Dem Bündnis Schiene Berlin-Brandenburg, das er im Landtag vertrat, gehören auch die Landkreise Prignitz und Ostprignitz-Ruppin an.
Hohe Kosten und ein „Bahnknoten im Niemandsland“
Wie viel Geld in die marode Trasse investiert werden müsste, blieb indes offen. Zunächst müsse geklärt werden, wo der Schwerpunkt liegen soll, gab Frank Schäfer zu bedenken. Für überregionalen Verkehr, sei es für den Hafenhinterlandverkehr oder für Regionalexpresszüge zwischen Berlin und Rostock, wären zusätzliche Ausgaben erforderlich. So würden bei einem Ausbau für schweren Güterverkehr drei bis vier Meter hohe Schallschutzwände benötigt. Auch wenn als „kleine feine Lösung“ eine Reaktivierung nur für den Regionalverkehr gewählt würde, fielen beachtliche Kosten an.
Was den möglichen Nutzen anbelangt, sei zu beachten, dass die Strecke längst nicht alle Relationen abdecket. „Nach Lübz käme man nur mit Umsteigen“, so Schäfer. Karow, das an der Trasse liegt, sei ein „Bahnknoten im Niemandsland“. Die Rahmenbedingungen wären für die Bahn ebenfalls nicht gut. Die Region zwischen Berlin und Hamburg sei durch die Autobahnen A19 und A24 gut erschlossen. Abgesehen von Pritzwalk lebten gerade mal rund 50.000 Menschen an der Strecke, rechnete der Experte vor.
„Wir können die Leute nicht dazu zwingen, Bahn zu fahren. Aus klima- und sozialpolitischer Sicht wäre es nicht sinnvoll, Geld auszugeben, wenn das Angebot nicht angenommen wird“, mahnte Schäfer. Das Geld würde anderswo fehlen. Dass Bahnprojekte teuer seien, könne bei Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen negativ zum Tragen kommen. Der Bund fordere aber ein positives Ergebnis, sonst steuert er kein Geld bei. Der Abgeordnete Philipp Zeschmann (BVB/Freie Wähler) erinnerte daran, dass selbst im dicht besiedelten Berliner Speckgürtel nicht jedes Projekt diese Hürde passiert. Die S-Bahnverlängerung nach Rangsdorf fiel bei der Nutzen-Kosten-Prüfung durch.
Das Land Brandenburg hat das Zugangebot halbiert
Doch so, wie es derzeit ist, kann es nicht weitergehen. Auch darin war sich die Runde im Saal 1.050 des Landtags in Potsdam einig. Das Zugangebot könne niemand dazu bewegen, sein Auto stehen zu lassen oder gar abzuschaffen, sagte Ralf Böhme. Je nach Abschnitt und Wochentag hat das Land Brandenburg drei bis fünf Fahrten bestellt.
2013 sei das Angebot halbiert, der Betriebskostenzuschuss sogar auf 37 Prozent gesenkt worden. Zwar stieg er 2018 wieder an. Trotzdem reiche das Geld weiterhin nur für einfache Fahrzeuge ohne Klimaanlage und Toilette. Dass der Verkehrsvertrag immer nur um zwei Jahre verlängert wird, trage nicht dazu bei, Vertrauen zu schaffen. Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig: Dieses Sprichwort schien zu Böhmes Vortrag zu passen.
Tempo 80 ist nur noch auf einem Drittel der Strecke möglich
Auch was die 2004 und 2008 von der DB übernommene Infrastruktur anbelangt, lebe man von der Substanz, ergänzte der Bahnchef. Die 61,7 Kilometer mit elf Stationen, 40 Bahnübergängen und 57 Weichen seien zum vorerst letzten Mal in den 1980er-Jahren, also zu DDR-Zeiten, grundhaft erneuert worden. Nur 34 Prozent könnten noch mit Tempo 80 befahren werden, der Rest erfordere langsamere Geschwindigkeiten.
Auf dem Nordteil der Linie RB73 zwischen Kyritz und Pritzwalk werden die Triebwagen der Hanseatischen Eisenbahn im Schnitt von 20 Fahrgästen pro Tag genutzt, auf der Linie RB74 nach Meyenburg sind es 100, heißt es im Ministerium für Infrastruktur von Guido Beermann (CDU). Dafür zahlt die öffentliche Hand 2,3 Millionen Euro im Jahr – 200.000 Euro kommen vom Landkreis Prignitz, der Rest vom Land Brandenburg.
„Für die Zukunft brauchen wir ein langfristiges attraktives Angebot“, so Rolf Böhme. „Heute müssten wir jedem Fahrgast eine Tapferkeitsmedaille umhängen.“