Rechte Ausschreitungen in Chemnitz: Sachsen, kein schöner Land
Und schon sind sie wieder da, die Bilder. Menschenmassen, die Parolen rufen, Demonstranten, die in der sächsischen Stadt Chemnitz mit Steinen nach Polizisten werfen. Jeder hat diese Aufnahmen gesehen – und jeder denkt nun: Sachsen ist ein furchtbares Bundesland. Dort herrsche der Hass auf alles, was anders ist. Der „braune Sumpf“ regiere den Alltag.
Ich bin Journalist und muss täglich Nachrichten aus aller Welt verarbeiten, auf professionelle Art und Weise. Doch nun sitze ich vor dem Fernseher und fühle mich, als würde ich in einer Drehtür stecken: Ich kann nicht vor und nicht zurück. Ich möchte heulen, brüllen, schreien, schimpfen, das Gerät packen und es aus dem Fenster werfen. Denn ich bin nicht nur Journalist, sondern auch: Sachse.
Die Bilder machen mich wütend. Immer wieder versuche ich, das, was dort geschieht, zu verstehen – aber ich verstehe es nicht. Die Kollegen in der Redaktion fragen: Woran könnte es liegen, dass es in Sachsen immer wieder zu solchen Vorfällen kommt? Als müsste ich es wissen, nur weil ich aus Sachsen komme. Die traurige Antwort lautet: Ich weiß es nicht.
Ich hielt den Kontakt in meine Heimat
Vielleicht liegt es daran, dass das Sachsen, in dem ich aufwuchs, eigentlich ein anderes war. Zum einen, weil in den 19 Jahren, die ich hier verbrachte, Flüchtlinge kein Thema waren, weil man in seiner Jugend andere Probleme hat als die politische Lage in der Welt. Zum anderen, weil auch diese Medaille zwei Seiten hat. Denn es gibt die wütenden Sachsen – aber eben nicht nur sie.
Ich wuchs nahe der Kleinstadt Pirna in der Sächsischen Schweiz auf, wohlbehütet und glücklich. Neunzehn Jahre meines Lebens verbrachte ich hier, bei Dresden, mitten im schönen Elbsandsteingebirge. 2009 zog ich nach Berlin, um zu studieren. Ich hielt den Kontakt in meine Heimat und blieb über die Ereignisse auf dem Laufenden – von der Stimmung, die sich in dieser Zeit gewandelt haben muss, bekam ich allerdings nur wenig mit.
Die Beiträge von Pegida-Demos nahm ich wahr, brachte sie mit meiner Lebenswelt aber nicht in Verbindung. Das kam erst später, als es 2015 in Heidenau Ausschreitungen wegen eines Flüchtlingsheims gab. Damals saß ich am Computer in der Redaktion, vor mir flackerten Fotos über den Monitor, die aussahen wie aus einer Bürgerkriegsregion – und mitten im Beitrag der Tagesschau sah ich, wie Männer, die ich entfernt kannte, Polizisten anbrüllten, die Gesichter voller Hass. Es hat mich einschneidend beschäftigt.
Immer häufiger fiel mir in den letzten Jahren außerdem auf, dass sich immer mehr der Unterhaltungen, die ich mit Bekannten aus Sachsen führe, um Politik drehten. Erstmals blockierte ich einzelne Leute, die ich kenne, auf Facebook, weil ich nicht sehen wollte, welche Beiträge von rechten Seiten sie teilten. Einmal wurde ich gefragt, auf welchem Weg uns, also die Journalisten, morgens die Befehle der Regierung erreichen. Und manchmal erfuhr ich sogar beiläufig, wer welche Parteien wählte.
Es geht nicht um Fremde, sondern um Freunde
Natürlich habe ich versucht, den Missmut zu verstehen, der die Menschen in die Arme von NPD und AfD treibt. Es ist mir nicht gelungen. Stattdessen lerne ich: Oft bringt es nichts, zu diskutieren, ich vermeide es nun, über Politik zu reden.
Chemnitz, der aktuellste aller Fälle, wirft mich in einen tiefen inneren Konflikt. Sachsen ist natürlich meine Heimat. Und doch merke ich, wie mich nun jeder einzelne Fall, jeder Bericht mitten ins Herz trifft – und mich etwas von der Heimat entfremdet. Doch das ist eben nur die eine Seite der Medaille.
Ich weiß von Kollegen, die ebenfalls aus Sachsen stammen, die ähnliche Probleme haben. Sie sind schockiert über die Bilder, sie schwanken zwischen Heimatgefühlen und Abneigung. Und doch nehmen sie vieles hin, weil es nicht um Fremde, sondern um Freunde geht. Wer Sachse ist, muss oft eine Grenze ziehen zwischen eigener Meinung und der Interaktion mit dem Umfeld. Denn: Wer ist bereit, die Verbindung zu seiner Vergangenheit wegen politischen Meinungen zu kappen? Die Herkunft ist ein Teil der eigenen Identität – ein Teil, den man nicht abschütteln kann wie einen Wassertropfen am Ärmel.
Außerdem: Dieses Thema hat ein klares Schwarz genauso wenig wie ein klares Weiß. Denn natürlich gibt es sie, die Leute, die auch in Sachsen nichts mit der rechten Einstellung zu tun haben wollen. Die vor den Entwicklungen genauso große Angst haben. Und davon gibt es viele, auch wenn es andere nicht wahrhaben wollen, schließlich passt eine pauschale Verurteilung einfach viel besser in das lange geprägte öffentliche Bild.
Viele wählen die AfD aus Trotz
Mit eben jenen Klischees ist zu oft gearbeitet worden – ein Fehler. Denn wer Wind sät, wird Sturm ernten. In einer Reportage über ein Dorf in Sachsen hieß es mal, die Wolken am Himmel seien ein „Sinnbild für die politisch trostlose Lage“. Als würde Petrus rechtes Wetter schicken – ernsthaft? Und wie oft habe ich gehört: „Ach, du kommst ja auch aus Sachsen, dem Tal der Ahnungslosen.“ Zurückhaltung täte allen Seiten gut.
Wer alle Flüchtlinge pauschal als böse verurteilt, begeht einen Fehler. Wer alle Sachsen als Nazis abstempelt, begeht einen ebenso großen.
Denn, auch das habe ich gelernt: Viele wählen die AfD aus Trotz, aus Protest, weil sie unzufrieden sind mit der aktuellen Lage – und im Osten weiß man schließlich, wie man eine Regierung stürzt. Sie sind aber keine Nazis. Sie sind befreundet mit Ausländern, sie würden mich wegen meiner Homosexualität nie, nie, nie verurteilen oder gar verstoßen. Sie sind friedliche, liebe Menschen wie du und ich.
So sehr ich mich manchmal fragen muss, ob dieses Sachsen meine Heimat ist, so sehr ist klar: Für mich ist Sachsen nicht das Bundesland, in dem Rechte Ausländer jagen, sondern das Bundesland, in dem ich als Kind mit dem Schlitten durch verschneite Wälder fuhr. Nicht die Region, in der Flaschen auf Polizisten fliegen, sondern jene, in der ich mit meiner Oma im Wald Beeren pflückte. Und nicht die Gegend, in der rechte Parolen durch das Land schallen, sondern in der ich genauso gut aufgewachsen bin wie die Menschen in anderen Bundesländern. Vielen anderen Sachsen geht es genauso. Ich wünschte, auch andere könnten diese guten Seiten sehen – oder es zumindest versuchen.