Reichenberger Straße: Trotz Milieuschutz müssen Mieter um ihre Wohnungen bangen
Berlin - Kreuzberg, Reichenberger Straße 55, ein Gründerzeitbau mit weiß-grauer Fassade. Fenstergiebel und Gesimse zieren die Außenwand, das Erdgeschoss ist voller Graffiti. So wie an vielen Häusern hier, die noch nicht schick saniert wurden. Patrick Neumann, 40 Jahre, sitzt in der Küche seiner 51 Quadratmeter großen Wohnung im Seitenflügel. „Ich wohne gerne hier“, sagt er. „Wir haben eine tolle Hausgemeinschaft, aber wir müssen Angst haben, dass wir verdrängt werden.“
Der Grund: Das Haus hat vor nicht allzu langer Zeit den Besitzer gewechselt. Und der neue Eigentümer, die BOW3 GmbH mit Sitz im bayerischen Pfarrkirchen, hat mit rund 3,35 Millionen Euro einen sehr hohen Betrag gezahlt. Wer ein Haus zu diesem Preis kaufe, müsse entweder viele Jahre ohne einen Cent Rendite auf den Rückfluss seiner Investition warten oder er habe etwas anderes vor, heißt es in einer Einschätzung des Regionalleiters der GLS-Bank, Werner Landwehr.
Für die Bewohner des Hauses klingt das bedrohlich. Zwar liegt ihr Haus in einem Milieuschutzgebiet, doch das heißt noch lange nicht, dass sie auf Dauer sicher sind. Die Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen ist selbst in Milieuschutzgebieten möglich, wenn sich der Eigentümer verpflichtet, die Wohnungen sieben Jahre lang nur an die Mieter zu verkaufen. Das müssen freilich nicht die Mieter sein, die aktuell in den Wohnungen leben. Nach Auszug eines alten Mieters kann der Eigentümer die Wohnung auch einem neuen Mieter verkaufen.
Um Missbrauch zu verhindern, prüfen die Bezirke zwar, ob vor dem Verkauf wirklich ein Mietvertrag abgeschlossen und Miete gezahlt wurde. Wenn die Bezirke feststellen, dass das Mietverhältnis nur vorgetäuscht war, gibt es jedoch bisher keine Möglichkeit, dies als Ordnungswidrigkeit zu bestrafen. Allerdings: Der Erwerb der Wohnung kommt dann nicht zustande.
Nach Ablauf der Sieben-Jahres-Frist kann der Eigentümer eine Wohnung im Milieuschutzgebiet normal verkaufen. Dann gilt dort sogar nur noch ein fünfjähriger Kündigungsschutz, während die Mieter in den anderen Gebieten der Stadt zehn Jahre geschützt sind. Das könnte fatale Folgen für die Mieter in Milieuschutzgebieten haben. „Wer hier kauft, muss nur noch fünf Jahre mit der Eigenbedarfskündigung warten, statt zehn Jahre außerhalb der Milieuschutzgebiete“, warnt der Berliner Mieterverein.
Mieter wollen kämpfen
Die Bewohner der Reichenberger Straße wollen sich nicht verdrängen lassen. „Wir werden für unser Mietshaus kämpfen“, sagt Patrick Neumann. „In unserem Haus lebt eine gutbürgerliche Mischung von Menschen, die das Bild des Kiezes prägen“, sagt der 47-jährige Mieter Reiner Harms. „Wir möchten nichts weiter als in einem bezahlbaren Rahmen in unserer Umgebung an der Entwicklung des Kiezes mitwirken.“ Die Bewohner zahlen mit etwa fünf Euro pro Quadratmeter eine vergleichsweise niedrige Miete. Freie Wohnungen im Kiez werden bereits für mehr das Doppelte angeboten. Beim Verkauf bringt eine 100 Quadratmeter große Wohnung schon mal eine halbe Million Euro.
Dass die Mieter Angst vor Verdrängung haben, liegt nicht nur an den Möglichkeiten für die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen. Es liegt auch am neuen Eigentümer. Die BOW 3 GmbH gehört zu einem Firmen-Geflecht von Andreas und Walter Bahe, das auch als ALW-Immobiliengruppe bekannt wurde. Unter Mietern genießen die Vermieter keinen guten Ruf.
Offener Brief mit Forderungen der Mieter
Im September vergangenen Jahres bekundeten über 100 Bewohner mehrerer Häuser in einem offenen Brief ihre Angst vor dem Verlust der Wohnung. „Wir leben in dauernder Sorge, wie lange und unter welchen Bedingungen wir noch in unseren Kiezen wohnen können“, heißt es in dem Schreiben, das unter anderem an Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke), den Baustadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg Florian Schmidt (Grüne) und den SPD-Bundestagabgeordneten Klaus Mindrup gerichtet war.
Die Mieter berichten in dem Brief von drohender Verdrängung durch Kündigung oder Mietsteigerung. Hintergrund: Nach einer Modernisierung darf der Vermieter elf Prozent der Modernisierungskosten auf die jährliche Miete draufschlagen. Da kommen schnell Mietsteigerungen von mehr als 50 Euro pro Monat allein durch einen Balkon zusammen. Der Einbau eines Aufzuges kann nochmal so teuer werden.
Eine der wichtigsten Forderungen der Mieter lautet: Das Mietrecht muss so geändert werden, dass die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen in Milieuschutzgebieten nicht mehr möglich ist. Stadtentwicklungssenatorin Lompscher stellt sich hinter die Mieter. „Ich unterstütze Ihre Forderung“, schreibt sie in ihrer Antwort. Ein Vorstoß Berlins zur Streichung der Umwandlungsmöglichkeit in Milieuschutzgebieten habe im Bundesrat aber leider keine Mehrheit bekommen.
CDU/CSU verhinderte besseren Mieterschutz
Baustadtrat Schmidt sagt ebenfalls: „Die Sieben-Jahresregel muss aus dem Baugesetzbuch gestrichen werden. Diese Passage widerspricht dem Milieuschutz.“ Man könnte sie auch die „Entmietungsklausel“ im Milieuschutz-Paragrafen nennen, so der Stadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg. Grüne, Linke und SPD wollen generell die Mieter vor allzu starken Mietsteigerungen schützen. Ob es im Bundestag eine Mehrheit dafür gibt, ist aber fraglich.
So hat die CDU/CSU in der vergangenen Legislaturperiode einen besseren Mieterschutz verhindert, darunter eine Verringerung der Modernisierungsumlage. Zuständig für das Mietrecht ist bei der CDU/CSU der Berliner Bundestagsabgeordnete Jan-Marco Luczak. Sein Wahlkreis ist der Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Im gleichen Bezirk – im Ortsverband Innsbrucker Platz – amtiert laut Internetauftritt der CDU Michael Schill als stellvertretender Vorsitzender, der vor einem Jahr für die BOW 3 GmbH beim Aushandeln einer sogenannten Abwendungserklärung für die Reichenberger Straße 55 mit dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg mitgewirkt hat.
Bei Immobilienverkäufen in Milieuschutzgebieten können Erwerber mit Abwendungserklärungen die Ausübung des bezirklichen Vorkaufsrechts verhindern. Sie müssen sich aber den Zielen des Milieuschutzes verpflichten. In der Reichenberger Straße gelang es dem Bezirk nur, eine „light“-Version auszuhandeln. Die BOW 3 soll unter anderem für 20 Jahre auf die Umlage von Modernisierungskosten auf die Miete verzichten. Die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen, auch Aufteilung genannt, ist aber möglich.
Brisant ist im vorliegenden Fall die Nähe von Politik und Immobilienwirtschaft. Sie wird von der CDU auch gar nicht erst geleugnet. „Herr Luczak kennt Herrn Schill – er ist Mitglied in seinem CDU-Kreisverband“, erklärt das Büro von Jan-Marco Luczak auf Anfrage. „Das Thema bezahlbarer Wohnraum und steigende Mieten ist gerade in Berlin für sehr viele Menschen wichtig.“ Diese Themen würden auch innerhalb der CDU diskutiert.
„Milieuschutzgebiete können nicht bezahlbare Mieten sicherstellen“
Von Milieuschutzgebieten hält CDU-Mietrechtsexperte Luczak wenig. „Milieuschutzgebiete sind aus Sicht von Herrn Luczak kein geeignetes Instrument, um dauerhaft bezahlbare Mieten sicherzustellen. Auch die damit verbundenen Eingriffe in die Rechte von Eigentümern sieht Herr Luczak daher kritisch“, heißt es aus dem Büro des CDU-Abgeordneten. Zugleich relativiert die Union: „Die Positionen von Herrn Luczak beim Mietrecht sind geprägt von vielen Gesprächen mit Menschen aus seinem Wahlkreis und vom Austausch mit Verbänden wie dem Deutschen Mieterbund oder Haus und Grund. Das ist Teil seiner politischen Arbeit.“
Die ALW-BOW-Gruppe tritt den Befürchtungen der Mieter entgegen, ihre Wohnungen zu verlieren. Eine Verdrängung finde nicht statt, heißt es in einer Erklärung. Die BOW 3 weist zugleich die Einschätzung als „grundfalsch“ zurück, dass sich der Erwerb der Reichenberger Straße 55 auf Basis der Mieteinnahmen nicht rechne. Berücksichtige man beispielsweise „lediglich 1,5 Prozent jährliche Inflation und Mietsteigerung, so ergäbe sich eine komplett andere Rechnung“, argumentiert die BOW 3 GmbH. Für die Immobilie in der Reichenberger Straße sei zudem ein marktüblicher Preis gezahlt worden.
Schreiben an Sparkassenverband
Dass die Ängste der Mieter vor der Immobiliengruppe nicht völlig unbegründet sind, zeigt ein Vorgang aus dem Jahr 2012. Da schrieb Andreas Bahe an eine Mieterin, dass man gerne ihre Wohnung mit einer benachbarten Wohnung zusammenlegen würde. „Wenn Sie hier nicht kompromissbereit sein sollten, müssen wir halt kündigen wegen Hinderung wirtschaftlicher Verwertung“. Das wolle man aber eigentlich vermeiden – „aufgrund des Aufwandes“. Ein freundlicher Umgang mit Mietern sieht anders aus.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Klaus Mindrup unterstützt die Mieter mit einer ungewöhnlichen Aktion. Er hat wegen der Kreditvergabe für den Kauf des Hauses Reichenberger Straße 55, der durch die Sparkasse im bayrischen Rottal-Inn finanziert worden sein soll, beim Deutschen Sparkassen- und Giroverband nachgehakt. In einem Schreiben an den Verband beklagt Mindrup die Verdrängung von Mietern aus ihren Wohnungen und erinnert daran, dass die Sparkassen „soziale Verantwortung in diesem Land tragen“. Mindrup fordert den Verband auf, sich mit der Thematik „Entmietung“ auseinanderzusetzen und eine Selbstverpflichtung einzugehen, „sich nicht an derartigen Geschäften zu beteiligen“. Eine Antwort steht aus.
Die Berliner Zeitung fragte bei der Sparkasse Rottal-Inn nach, was sie zu dem Geschäft mit dem Haus Reichenberger Straße 55 zu sagen hat. Die Sparkasse äußerte sich trotz Nachfragens nicht. Die Mieter der Reichenberger Straße 55 sehen ihr Haus als ein Beispiel für viele. „Das Problem ist kein Regionales mehr“, sagt der 46-jährige Henning Brümmer. „Es betrifft über kurz oder lang alle, die zur Miete wohnen in Deutschland.“ Nicht nur in Berlin, Hamburg oder München, mittlerweile müssten Mieter auch in Potsdam, Leipzig oder Heidelberg „Angst vor den Spekulanten“ haben.