Eigentlich hatte die Reise nur ein Ziel: Meine Mutter ist 88 Jahre alt und wollte noch mal auf den höchsten Berg im böhmischen Mittelgebirge – doch dann wurde die kleine Reise nach Tschechien auch eine Reise nach Berlin.
Es war eine Reise in die Vergangenheit in doppeltem Sinne. Da ist zunächst meine Mutter, die mit ihrer sudetendeutschen Familie nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem kleinen Dorf Sutom im heutigen Norden von Tschechien vertrieben wurde. Sie besucht das Dorf seit Jahrzehnten, hat dort alte Freunde und neue Bekannte. Sie reden über gestern und heute ohne Groll, sie schauen mit einem menschlichen Blick auf die Zeitläufe. Von ihrem ehemaligen Bauernhof geht der Blick direkt auf den Milesovka, den höchsten Berg des Gebirges. Da wollten wir hoch. 837 Meter.
Denn zu jeder Reise nach Sutom gehört es sich, auch auf diesen Berg zu steigen. Kurz bevor mein Vater starb, führte uns die letzte gemeinsame Reise der Familie auch auf diese Höhe.
Nun sind wir wieder da. Und da kommt Josef ins Spiel und damit Berlin. Denn bei Josef, einem freundlichen Pensionär mit Walrossbart, und seiner Frau wohnen wir immer. Im ehemaligen Pfarrhaus, gegenüber vom ehemaligen Haus meiner Familie.
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Josef spricht dieses wunderschöne tschechische Deutsch und erzählt gern Geschichten aus der Vergangenheit, denn er sammelt Informationen aus Berlin. Der Grund: Sein späterer Vater, ein junger tschechischer Verkäufer, bekam 1942 einen Brief vom Amt, in dem stand, dass er sich – so wie alle jungen Leute des Jahrgangs 1921 – an einem bestimmten Tag auf dem Bahnhof einzufinden hätte. Es ging nach Berlin, ganz unfreiwillig. Seinen offiziellen Status wissen wir nicht, wohl Zwangsarbeiter oder Ost-Arbeiter, jedenfalls kam er nach Köpenick zur Firma Edgar Fuhrhop Apparatebau K. G. in der Wendenschlossstraße 290, dort lernte er Dreher und musste optische Geräte für Kanonen bauen.
Josef hat mir bei unserem letzten Besuch in Tschechien ein Bild gegeben: Sein Vater mit anderen Arbeitern vor der Fabrik. Ich wollte ihm beim nächsten Besuch ein paar Fakten liefern. Dann kam Corona und wir mussten die Reise ein paar Mal verschieben. Doch nun hat es geklappt. Meine Mutter schaffte den Aufstieg auf den Berg – mit 88. Respekt. Und ich gab Josef ein paar Fotos, wie es heute in der Wendenschlossstraße aussieht.
Er gab mir neue Fotos seines Vaters und ich darf weiterrecherchieren. Vielleicht kennen ein paar Leser die Geschichte der Firma Edgar Fuhrhop und melden sich unter leser-blz@berlinerverlag.com. Denn nächstes Jahr will meine Mutter wieder auf diesen Berg und ich benötige für Josef frische Infos aus der Vergangenheit.