Ruderalgrün auf Bauland: Ein Stück Dschungel in der Stadt

Ruderalgrün: Für viele Architekten, Investoren und auf Ordnung ausgerichtete Gärtner ist das ein Schreckenswort. Es stammt vom lateinischen „rudus“ ab, und das steht für vulgären Schutt. Ruderalgrün ist also das, was auf einem, so Wikipedia, „menschlich tiefgreifend geprägten Standort“ wächst. Zur Freude von Ökologen, Bienenfreunden und Kindern.

Viele Erwachsene reagieren aber eher erbost: Das da soll wertvolles Grün sein??? Diese Robinie, das wacklige Götterbäumchen, die Trümmerblume? Das ist doch nur Unkraut. Ein Schandfleck sei dies Grundstück dort. Wann wird denn endlich gebaut? Dabei ist hier ein Wunder zu sehen, blanker Überlebenswillen.

Spätestens Ende März, wenn das Ende der Fällzeit droht, rücken überall in Berlin die Fälltruppen an und reinigen blitzschnell mit lauten Sägen die Grundstücke. Nur weg mit Holunderbeerbaum und Ahorn, mit Hagebutten, Kräutern, Ebereschen, Pappeln, Birken und hoch wachsenden Gräsern, bevor Ökologen und Grünplaner sie zum wichtigen Teil des städtischen Lebensraums erklären. Schließlich kühlen und befeuchten sie die Stadt, bieten Raum für viele Tiere.

Noch schlimmer sind aus Sicht von Investoren wohl nur Nachbarn oder gar eigene Mieter, die mit dem Schlachtruf „Ruderalgrün“ versuchen, den Neubau zu verhindern, der aufs Spucken nah zu ihrem Küchenfenster entstehen soll.

Keine Sommerhitze stoppte Überlebensdrang der Natur

Das Resultat der Fällarbeiten ist oft sandige Wüstensauberkeit wie südlich des S-Bahnrings am Innsbrucker Platz. Oder wenigstens ein halbwegs freigefegtes Grundstück vor dem Haus, in dem wir wohnen. Aber manchmal geschieht nach der Fällaktion – nichts. Jedenfalls baulich nicht.
Das Investitionsprojekt verzögert sich, aus welchen Gründen auch immer. Und dann kommt wieder das Grün aus dem Boden. Mittlerweile wächst es dort, wo gerade erst die Baufreiheit herbeigeholzt wurde, wieder ein regelrechter Dschungel. Im Sommer konnte man dem Gesträuch wortwörtlich beim Wachsen zusehen.

Irgendwann hat eine Katze einen toten Vogel unter die dichten Blätter gezogen. Die Kinder aus der Nachbarschaft – es waren vor allem die Jungs – studierten begeistert die Arbeit der Wespen als Saubermacher der Natur an dem immer kleiner werdenden Körperchen. Eine neu entstandene Ameisenkolonie besorgte den Rest. Käfer laufen ins Grün, immer neue Gräser sind zu sehen, die ersten Brennnesseln verholzen. Und wie hat es nur die Minze hierher verschlagen, die so betörend duftet? Keine Sommerhitze stoppte den Überlebensdrang der Natur, jeder Tropfen Regen sorgte für einen neuen Wachstumsschub.

Inzwischen wuchern die Gebüsche über den kleinen Zaun. Ruderalgrün eben. Die Menschen auf dem Bürgersteig weichen aus und wundern sich: Wie schön, so ein Stück wilder Natur in der Stadt, hört man sie immer wieder sagen. Gäbe es doch nur kein Baurecht auf diesem Grundstück!