Samuel Finzi: „Berlin hat Platz für alle“

Samuel Finzi mag es unkompliziert. „Zum Interview treffen wir uns doch einfach bei mir“, hat er vorgeschlagen und damit das kleine Café gemeint, das um die Ecke seines Hauses unweit des Stuttgarter Platzes liegt. Die Frau hinter der Theke winkt, als der Schauspieler durch die Tür tritt, einige Stammkunden nicken ihm freundlich zu. Er bestellt einen Kaffee mit Milch und zückt erst einmal sein Handy.

Zur Einstimmung auf das Gespräch anlässlich seines neuen Films „Das Klassentreffen 1.0“ will er erst einige alte Fotos zeigen. Er wischt über das Display und schon erscheinen zwischen den aktuellen Schnappschüssen von seiner Frau und den Kindern ein paar alte Schwarz-Weiß-Bilder. Fotos seiner Abiturklasse, aufgenommen vor 33 Jahren. Mit fast übermütiger Freunde scrollt der 52-Jährige durch die Aufnahmen, kommentiert lachend ausgelassene Kostümpartys, Ausflüge an den See und die Zeugnisübergabe. „Die Schulzeit hat mich schon sehr geprägt“, sagt er. „Wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft!“

Herr Finzi, am 20. September sind Sie in Til Schweigers „Klassentreffen 1.0 – die unglaubliche Reise der Silberrücken“ im Kino zu sehen. Da geht es um drei Männer und die skurril turbulenten Erlebnisse beim Ehemaligen-Treffen. Wie war Ihr letztes Klassentreffen?

Ich hatte mir fest vorgenommen, dass ich es zum 30-jährigen nach Sofia schaffe. Aber dann kam leider, wie immer, beruflich etwas dazwischen. Das hat mich geärgert. Rund ein Dutzend meiner ehemaligen Klassenkameraden gehören auch heute noch zu meinem engsten Freundeskreis und ich wäre zu gerne dabei gewesen.

Haben Sie viel verpasst?

Selbstverständlich! Es wurde getanzt und getrunken bis morgens um drei Uhr. Alles schön wie immer also, nur dass einige Wein bestellt haben und erst später auf Wodka umgestiegen sind.

Wo kann man besser feiern? In Sofia oder in Ihrer Wahlheimat Berlin?

Mit den richtigen Leuten kann es überall herrlich wild werden!

Kennen Sie in Berlin die richtigen Leute?

Natürlich, ich wohne schon seit mehr als 25 Jahren hier! Sonst hätte ich was falsch gemacht. Aber zu meinen engsten Freunden gehören noch viele aus meiner Abi-Clique. Da spüre ich immer noch den gleichen Geist, und ich treffe mit den Fragen, die ich an das Leben habe, auf offene Ohren.

Sie haben ziemlich bald nach der Schule und dem Studium Bulgarien verlassen und sind nach Berlin gegangen. Warum?

Ich wollte immer raus. Ich erinnere mich an eine Reise mit meinen Eltern durch Europa als ich 14 Jahre alt war. Wir hatten wenig Geld, fuhren mit dem Zug und besuchten überall Freunde und Verwandte. Serbien, Italien, Frankreich. Auf dem Rückweg, als ich die ersten grauen Häuser in Tschechien sah, wurde meine Laune immer schlechter. Diese sozialistische Tristesse! Ich wollte ausbrechen, auch weil ich das Gefühl hatte, dass mein Lebensweg in Bulgarien schon so fertig war. Meine Mutter ist Pianistin, mein Vater ein ziemlich bekannter Schauspieler. Ich bin im Milieu der Künstler groß geworden, kannte alle und hatte das Gefühl, dass da nicht mehr viel kommen konnte.

In Deutschland kannten Sie niemanden ...

Deutsche, das waren für mich damals die Touristen an der Schwarzmeerküste. Die DDR-Hippies trugen kurze Hosen und Sandalen, die Mädchen waren blond. Sie tranken Rotkäppchen-Sekt und fuhren Trabant. Wir haben uns über ihre akkurate und geordnete Art lustig gemacht. Ich sprach kein Wort Deutsch, als ein Kollege meines Vater mir einen Job in Berlin anbot. Aber darüber habe ich mir keinen Kopf gemacht sondern einfach nur gedacht: Das lernst du schon.

War der Start in Berlin dann wirklich so einfach?

Im Gegenteil! Ich konnte zwar meine Texte auswendig, aber ansonsten habe ich nichts verstanden. Ich war wie gelähmt. Ich kannte die Codes der Kommunikation nicht.

Die Codes? Was heißt das? Haben Sie ein Beispiel?

Um eine Sprache zu entschlüsseln muss man mehr als nur die Wörter kennen. Wenn ich verzweifelt war, streichelten mir meine deutschen Kollegen tröstend über den Rücken und sagten: „Das wird schon.“ Dieses seltsame Tätscheln hat mich völlig irritiert. Wollen die mich veralbern? Denken sie, ich bin doof? In Bulgarien würde das nie jemand machen, da nimmt man einen Freund in den Arm, um ihn zu trösten. Fest und herzlich. Oder man macht einen Witz, um den Traurigen aufzuheitern. Nach zwei Monaten wollte ich schon aufgeben und in den Zug steigen.

Aber dann?

… ist über Nacht der Knoten geplatzt. Da ging's. Um länger bleiben zu können, habe ich mich an der Uni eingeschrieben. So war ich krankenversichert, hatte eine Monatskarte und konnte über die Heinzelmännchen, die studentische Jobvermittlung, etwas Geld dazu verdienen. Tagsüber habe ich geprobt und abends in einer Pommesbude die Teller gewaschen. Ich mochte das nicht, fand es ganz fruchtbar, diese abgefressenen Teller anzufassen. Aber ich musste ja Geld verdienen. Die Uni habe ich nie betreten. Ich wusste nicht mal wo meine Fakultät war.

Wie viel von der Leichtigkeit von damals haben Sie sich erhalten?

Ich mache immer noch große Sprünge und denke, dass man sich die Überraschungen, die das Leben bereithält, nicht entgehen lassen sollte. Wenn etwas schief geht, pflegt mein Vater zu sagen: „Je schlimmer desto besser.“ Von ihm habe ich die Überzeugung, dass am Ende alles gut wird und ich auch negative Erfahrungen für mich positiv nutzen kann. Das Leben ist ein Spiel, das Schlimmste was passieren kann ist, dass ich sterbe.

Das ist doch dramatisch.

Aber es passiert eh irgendwann. Wobei ich zugebe, dass ich im Moment skeptisch bin. Ich sehe nichts Gutes um mich herum, sehe wie wir daran arbeiten, dass diese wunderbare Welt zugrunde geht. Ich habe lange gebraucht. um zu akzeptieren, dass es einfach dumme Menschen gibt. Früher glaubte ich, dass es unterschiedliche Logiken gibt. Aber irgendwann habe ich erkannt, dass es einfach Dinge gibt, die DUMM sind, die einfach nicht gehen. Nicht nur nach meinen, sondern nach allgemeinen Kriterien. Dass Trump illegale Einwanderer mit Tieren vergleicht zum Beispiel ist dumm. Oder dass Seehofer sich freut, wenn an seinem 69. Geburtstag 69 Asylsuchende abgeschoben werden.

Sind Sie vielleicht strenger bei der Beurteilung anderer geworden?

Ich glaube, die Dummheit dehnt sich aus. Sie wird gesellschaftlich toleriert, und es wird ständig von allen Seiten schamlos Propaganda betrieben. In der Gegenwart neigen Menschen dazu, wahnsinnig schnell eine Meinung zu entwickeln, und sie werden unglaublich moralisch. Aber mutige und konsequente Haltungen zu entwickeln, zu halten und argumentativ zu vertreten, das wird immer weniger.

Wie reagieren Sie auf Dummheit?

Ich ziehe mich zurück. Ich bin nicht in sozialen Netzwerken unterwegs, wo jeder seine Meinung ungefragt kundtut. Ganz oft denke ich dann: „Was kümmert mich, was du denkst!“ Wenn man auf jeden Unfug reagiert, beißt man sich die Zähne aus! Und man kann ja auch niemanden verprügeln.

1989, zur Wendezeit, waren Sie in Berlin und haben mit demonstriert, 2013 haben Sie in Bulgarien gegen die Regierung Orescharski protestiert ...

… und es hat sich in Bulgarien nichts geändert. Da habe ich die Hoffnung verloren, dass es eine echte Revolution geben könnte. Die Sache ist gelaufen. Wir sind versklavt vom System und leben unter der Diktatur des Geldes. Wir Menschen sind schwache Gestalten.

Dass Sie neben Ihrer vielfach ausgezeichneten Theaterarbeit bei Til Schweigers Klassentreffen 1.0 mitmachen, ist das als Zeichen persönlicher Schwäche zu werten?

Mit über 50 ist es mir besonders wichtig, mit wem ich Zeit verbringe. Til ist mein Freund, er hat das Herz am rechten Fleck. Er ist extrem akribisch und mit viel Energie bei der Sache. Gleichzeitig hat er Humor. Ich habe selten so gelacht wie bei diesem Dreh. Außerdem möchte ich lernen, wie diese Art von Mainstream funktioniert. Ich würde eher sagen, dass die Angst vor Langeweile meine Triebfeder ist, nicht das Geld.

War Ihnen Geld früher wichtiger?

Ich habe lange einen anderen Lebensstil gepflegt und deswegen ganz einfach mehr Geld gebraucht. Ich hatte zwei Wohnsitze und bin zwischen Berlin und Frankreich gependelt. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich wie eine Maschine bin und Gefahr laufe, mich selbst zu verlieren. Das war alles etwas viel.

So viel, dass Sie es nicht zum Klassentreffen geschafft haben.

Solche und andere Momente haben mir zu denken gegeben. Vorsorglich habe ich die Stopp-Taste gedrückt. Zurück auf Anfang! Meine Familie wohnt jetzt wieder in Berlin, und ich habe Zeit, die Kinder von der Schule abzuholen.

Sie haben den zweiten Haushalt aufgegeben und sogar das Auto abgeschafft. Hat die Einsicht, etwas ändern zu müssen, mit zunehmendem Alter zu tun?

Ich glaube ja. Ich fühle mich heute freier und konzentrierter. Ich brauche nicht mehr so viel Provokation von außen und habe ein anderes Selbstbewusstsein. Nicht im Sinne einer Überheblichkeit, sondern in dem Sinne, dass ich mich mehr selbst prüfe. Jetzt habe ich mich beruhigt.

Gibt es etwas, was Sie an Berlin stört?

Momentan gar nichts. Ich freue mich, wieder da zu sein und genieße jeden Tag. Berlin ist eine der Städte, die nicht so prätentiös sind, in der es Platz für alle gibt. Und auch das Auge kann in die Weite schauen, weil es hier viel Platz gibt und die Straßen so herrlich breit sind. Bevor wir nach Frankreich gezogen sind, haben wir im Prenzlauer Berg gewohnt. Da zieht mich nicht mehr viel hin. Ich mag Charlottenburg. Da gibt es auch ältere Menschen und man muss nichts präsentieren, muss nicht lautstark von einem spannenden Projekt erzählen und sich wichtig machen. Ich mag die kleinen Läden, den Supermarkt und die Ecke, die leichte Verkommenheit. Alles ist etwas abgegrenzt. Das alte West-Berlin eben. Und trotzdem ist es hier sehr lebendig.

Sie reden nicht gerne über neue Projekte? Dabei waren Sie erst vergangene Woche in Wien zur Premiere Ihres Stücks „Kommt ein Pferd in die Bar“ am Burgtheater.

Drum. Einfach machen. Wenn man zu viel über Dinge redet, dann finden sie nicht statt.

Sind Sie ein spiritueller Mensch?

Im Leben nicht, aber beruflich schon. Ich bilde mir ein, dass ich sehr viel Spirituelles auf der Bühne tue. Ich beschäftige mich da mit dem Geist, mit etwas, was im realen Leben nicht existiert. Spielen ist reine Einbildung. Da ziehe ich mein Material von überall her und tauche ab. Das ist wie Meditation. Ich denke sehr schnell, höre, nehme wie ein Computer auf. Dabei geht es bei mir nie um das Aufsagen von auswendig Gelerntem.

Wie meinen Sie das?

Für mich ist der Schlüssel für ein gutes Spiel das Zuhören. Ein Theaterstück hat, genau wie ein Musikstück, einen Rhythmus. Der Schauspieler nimmt auf und gibt wieder ab. Ich spiele keine Gefühle, sondern ich versuche, Situationen zu erzeugen, in denen Gefühle entstehen können. Was auf der Bühne passiert, lässt sich schwer beschreiben. Aber es hat etwas Heilendes. Deshalb bin ich auch der Meinung, dass Schauspieler, die viel zu tun haben, nicht zum Psychologen müssen.