Die Frage nach der Herkunft und ihre Folgen: „Schämen Sie sich gar nicht?“

Wie unsere Kolumnistin über ein Gespräch in der Neuköllner High-Deck-Siedlung berichtete und plötzlich in der rechten Ecke landete.

Demonstranten zeigen in Berlin eine palästinensische Flagge.
Demonstranten zeigen in Berlin eine palästinensische Flagge.JeanGeisler/imago

Ich muss nochmal über die Frage nach der Herkunft reden, über meine letzte Kolumne. Ich habe über einen Jungen aus der High-Deck-Siedlung geschrieben, der mich mit den Worten begrüßt hatte: „Ich bin Palästinenser“, obwohl er in Berlin geboren war und die deutsche Staatsbürgerschaft besaß. Ich habe geschrieben, dass ich ihn ein wenig verstehe, als Ostdeutsche. Wenn einem pausenlos gesagt wird, dass es keine Rolle spielt, woher man kommt, löst das so einen Gegenreflex aus.

Außerdem ist es wichtig, finde ich, sich seiner Wurzeln bewusst zu sein, zu wissen, wie man geprägt wurde, über Unterschiede zu sprechen. Als Beispiel nannte ich New York, die Einwandererstadt, wo mir Menschen oft erzählt haben, woher ihre Eltern oder Großeltern kamen, auch um zu beweisen, wie weit sie es in ihrer neuen Heimat gebracht hatten.

Die Nazis und die Vornamen

Ich kritisierte die CDU, die – wie einst die Nationalsozialisten – nach der Silvesternacht Menschen über ihre Namen identifizieren wollte. Die Nazis zwangen 1938 jüdische Frauen, den Vornamen „Sara“ als Zusatz zu tragen, um als Juden erkennbar zu sein, jüdische Männer mussten sich „Israel“ in den Ausweis schreiben lassen. Zum Schluss schrieb ich, wie der Junge aus der High-Deck-Siedlung mich fragte, wann die Deutschen endlich die Palästinenser unterstützen würden und nicht mehr die Juden. Das Zitat war der letzte Satz in meinem Text und stellte alles, was ich vorher über den Jungen gedacht und geschrieben hatte, auf den Kopf: Ich wollte Gemeinsamkeiten sehen, wo es keine gab.

Die meisten Leser verstanden das. Aber eine Frau schrieb mir, alle wüssten doch, dass den Arabern der Antisemitismus mit der Muttermilch eingeflößt werde. „Schämen Sie sich gar nicht? Wollen Sie sich als Antisemitin outen?“ Eine andere unterstellte mir unterschwellige Israelkritik. Auf Facebook verglich jemand die Berliner Zeitung mit dem „Stürmer“. Ich antwortete den Lesern, dass der Junge sich mit seinem Satz selbst entlarvt habe und ich nicht auf die Idee gekommen wäre, israelbezogenen Antisemitismus zu erklären, wenn er so leicht zu erkennen ist.

Es ist ein Phänomen der sozialen Medien, aber auch unserer Gesellschaft, Sätze aus dem Zusammenhang herauszureißen, den Verfasser in die linke oder rechte Ecke zu stellen, zu polarisieren: schnelle Aufregung, heftige Beschimpfung, verhärtete Fronten. Es ist besorgniserregend. Und es wird nicht besser, fürchte ich. Manchmal merke ich es an mir selbst.

Die Junge Gemeinde und die DDR

Am Sonntag schrieb mir eine alte Freundin, sie habe in meiner letzten Kolumne etwas nicht verstanden, ob ich sie mal anrufen könne, um die Sache zu klären. Ich merkte, wie mein Puls zu rasen begann. Ich dachte, es gehe wieder um den Jungen aus der High-Deck-Siedlung, und antwortete genervt, falls sie mich fragen wolle, ob ich mich dem Satz des Jungen anschließe: „Nein, natürlich nicht.“

Die Freundin schrieb zurück, freundlich, ruhig. Es gehe ihr eigentlich um etwas ganz anderes, nämlich um meinen Satz, in der DDR seien religiöse und kulturelle Unterschiede unterdrückt worden. Sie sei zu DDR-Zeiten im Kirchenchor gewesen, eingesegnet worden, Mitglied der Jungen Gemeinde gewesen, kirchlich geheiratet habe sie auch und sei damit immer ein Außenseiter gewesen. Wir meinten eigentlich beide das Gleiche. Aber erst jetzt, da wir uns darüber austauschten, verstanden wir es. Am Ende ihrer Mail schrieb die Freundin, sie habe meinen Satz, „wahrscheinlich fälschlich, persönlich genommen“.