Schildbürgerstreich oder Blamage? Überholverbot für die Straßenbahn

Das hat es in Berlin noch nicht gegeben. In Weißensee tritt eine einzigartige Regelung in Kraft. Ob sie den Tramverkehr der BVG behindert, wird sich zeigen.

Eine Straßenbahn der Linie M4 in der Berliner Allee. Ab Montag befährt sie wieder die alte Route.
Eine Straßenbahn der Linie M4 in der Berliner Allee. Ab Montag befährt sie wieder die alte Route.Sabine Gudath

Ein Überholverbot für Kraftfahrzeuge – das hat jeder, der im Straßenverkehr unterwegs ist, schon mal erlebt. Aber ein Überholverbot für Straßenbahnen – das ist neu. Nicht mehr lange, dann wird es in Berlin so eine Regelung geben. Schauplatz ist die Berliner Allee in Weißensee. Doch was auf den ersten Blick wie eine nette Eigentümlichkeit wirkt, hat einen ernsten Hintergrund. Personal der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) spricht von einem Schildbürgerstreich. Oder ist es eine weitere Blamage für die rot-grün-rote Koalition, die sich die Mobilitätswende auf die Fahnen geschrieben hat?

Wer häufiger auf der Berliner Allee im Nordosten der Stadt unterwegs ist, wird die Baustelle kennen. Rot-weiße Baken engen die Fahrbahnen ein, weil in der Mitte der Ausfallstraße gearbeitet wird. Die BVG lässt einen Abschnitt der dortigen Straßenbahnstrecke erneuern. Alte Gleise wurden herausgerissen, neue verlegt. Jetzt sind Bauleute dabei, Schienen zu schleifen. Noch bis Sonntagabend müssen Fahrgäste auf diesem Teil der Linien M4, 12 und 27 auf Busse umsteigen.

Es geht um die Sicherheit der Beschäftigten und Fahrgäste der BVG

Kurz bevor rechts die Buschallee abzweigt, gibt es eine Besonderheit. Denn hier spaltet sich die stadtauswärts führende Strecke in zwei Gleise auf. Links fahren die Straßenbahnen der Linien 12 und 27 geradeaus zum Pasedagplatz, vom rechten Gleis biegt die M4 in Richtung Hohenschönhausen ab. „Vorsortierung“ nennt man bei der BVG diesen Bereich, in dem die Bahnen darauf warten, dass ihnen ein Lichtsignal die Erlaubnis zum Weiterfahren gibt. Zählt man das stadteinwärts führende Gleis hinzu, liegen in diesem Bereich des Mittelstreifens insgesamt drei Gleise nebeneinander.

Die Baustelle auf der Berliner Allee. Der dreigleisige Bereich entsteht neu. Um die aktuellen Sicherheitsabstände einhalten zu können, hätte man den Mittelstreifen zulasten der Autofahrbahn verbreitern müssen.
Die Baustelle auf der Berliner Allee. Der dreigleisige Bereich entsteht neu. Um die aktuellen Sicherheitsabstände einhalten zu können, hätte man den Mittelstreifen zulasten der Autofahrbahn verbreitern müssen.Berliner Zeitung/Peter Neumann

Bislang war das für die BVG kein Problem. Die alte Gleisanlage genoss Bestandsschutz. Doch wer eine neue Trasse baut, muss sich an die aktuellen Regeln halten. Und eine dieser Vorschriften, der Paragraf 19 der Verordnung über den Bau und Betrieb der Straßenbahnen, sieht größere Sicherheitsabstände zwischen den Schienentrassen vor. Wenn in einem Notfall Bahnen geräumt werden müssen, muss es mehr Platz geben. Schließlich gehe es um die „Sicherheit aller Personale und Fahrkunden“, so die BVG.

Die Stadt hat „leider nicht den ausreichenden Querschnitt gewährleistet“

Eine Möglichkeit wäre es gewesen, den Mittelstreifen zu erweitern. Aber das hätte dazu führen können, dass die Kraftfahrzeuge Platz einbüßen. Zudem wären umfangreiche Planungen und Genehmigungsprozesse nötig geworden, hieß es bei dem Unternehmen. Schließlich handelt es sich bei der Berliner Allee, die Teil der Bundesstraße 2 ist, um eine wichtige Magistrale ins Umland. Am Ende wurde entschieden, den Mittelstreifen nicht zu verbreitern, dem Autoverkehr wird kein Platz weggenommen. Die Stadt habe „leider nicht den ausreichenden Querschnitt zugunsten einer normkonformen Dreigleisigkeit gewährleistet“: So fasst es der BVG-Straßenbahnbereich in einem Aushang zusammen.

Das hat Folgen für den Straßenbahnbetrieb, der am Montag wieder beginnt. Unter den aktuellen Bedingungen gilt vom 25. Juli an ein „Vorbeifahr- und Überholverbot für stadtauswärts fahrende Züge, welche sich in der Vorsortierung Berliner Allee/Buschallee befinden“, steht in der internen BVG-Information. „Wir bitten um strikte Einhaltung der hier getroffenen Regelung“, ist dort groß gedruckt und in roter Schrift zu lesen.

„Berlin sollte langsam in Schilda umbenannt werden“

Was bedeutet die Regelung konkret? Dazu ein Beispiel: Wartet eine Bahn der Linie M4 in diesem Bereich darauf, rechts abbiegen zu dürfen, darf eine Bahn der Linie 12 nicht mehr links an ihr vorbeifahren. Sie muss hinter der M4 warten – so lange, bis die andere Bahn das rechte Gleis geräumt hat. Ein spezielles Schild wird dem BVG-Personal diese „in Berlin einzigartige Begebenheit“ anzeigen, heißt es in dem Infoblatt. Es handelt sich um das Zeichen So5, ein grünes Kreuz auf einem gelben Quadrat, mit zwei schwarzen Pfeilen, die nach oben zeigen. In Berlin wird diese Kombination ein Unikum sein.

Hintereinander warten statt aneinander vorbeifahren: Wird die neue Regelung den Straßenbahnverkehr behindern? Bei der BVG hofft man, dass sich die Neuerung nicht negativ auswirkt. „Eine Anpassung des Fahrplans ist nicht vorgesehen“, teilte BVG-Sprecher Jannes Schwentu der Berliner Zeitung auf Anfrage mit. „Wir schauen uns nach der Wiederaufnahme natürlich gewissenhaft an, wie der Verkehr dort in der Praxis läuft, und werden – wenn nötig – organisatorische Maßnahmen ergreifen, damit der Fahrgastverkehr möglichst reibungslos rollt.“

Für eine bauliche Änderung sei die Zeit einfach zu knapp gewesen, bestätigte er. Doch für die Zukunft wäre dies möglich. „Eine Planung dafür wollen wir gemeinsam mit den zuständigen Senatsverwaltungen perspektivisch vorbereiten.“

In der Nahverkehrs-Fanszene reagiert man angesichts der jetzt getroffenen Entscheidung mit Kopfschütteln. „Berlin sollte langsam in Schilda umbenannt werden. Welche Verwaltung ist an dieser Posse wohl schuld?“ – dieser Kommentar erreichte die Berliner Zeitung. Ein Straßenbahnfahrer fühlt sich an einen Schildbürgerstreich erinnert.

Geht es um die Konkurrenz mit anderen Fortbewegungsarten, zieht der öffentliche Verkehr in Berlin zu oft den Kürzeren: Das ist ein Vorwurf, mit dem der Fahrgastverband IGEB Senatsverwaltung und Bezirksämter schon häufiger konfrontiert hat. Während die immer wieder angekündigte Beschleunigung des Straßenbahnverkehrs nur schleppend vorankommt, werde die Tram an immer mehr Stellen ausgebremst, so die Kritik.

Ampelschaltungen bremsen die Tram aus

Ein aktuelles Beispiel ist die Straßenbahnstrecke zwischen der Wissenschaftsstadt Adlershof und Schöneweide, die im vergangenen Herbst eröffnet wurde. Dort sind die Bahnen länger unterwegs als die Busse, die vorher dort im Einsatz waren. Grund sind neu errichtete Ampeln, die der Tram nicht den Vorrang geben. Entlang der anschließenden Trasse zum S-Bahnhof Adlershof, die seit 2011 in Betrieb ist, wurden die Ampeln so programmiert, dass der links abbiegende Autoverkehr Vorrang vor der Straßenbahn hat. Solange die Kraftfahrzeuge abbiegen dürfen, muss die Tram warten.

Auch der Linienbusverkehr ist in den vergangenen Jahren langsamer geworden. Aktuell verfolgen Beobachter die Planungen, rund um die Marheineke-Markthalle in Kreuzberg einen Fußgängerbereich einzurichten. Zudem soll das gesamte Viertel zwischen Columbiadamm und der Gneisenaustraße als Tempo-20-Bereich ausgewiesen werden – derzeit gilt Tempo 30. Beides würde die Buslinie 248 betreffen, die dort verkehrt.

Grün geleitete Verwaltung duldet Missstände in der Berliner Allee

Gudrun Holtz aus Weißensee, die sich seit Jahren mit anderen Anrainern für eine Umgestaltung der Berliner Allee engagiert, äußerte sich kritisch. „Sind denn da nur Autofans und Dilettanten am Werk? Jahrelang verhindert die Senatsverkehrsverwaltung den beschlossenen und finanzierten Umbau der Berliner Allee in ihrer gesamten Breite – unter Duldung der grünen Hausleitung und des Abgeordnetenhauses“, schrieb Holtz der Berliner Zeitung. „Ob neue Gleise in alter Lage noch Bestandsschutz haben und welche Vorschriften einzuhalten sind, sollte vor Planungsbeginn geklärt sein! Der Paragraf zum Sicherheitsabstand von Gleisen ist seit mindestens 15 Jahren unverändert.“

Ein echter Vorrang für den Nahverkehr an der Einmündung Buschallee wie im Berliner Mobilitätsgesetz gefordert und vor vielen Jahren schon mal Realität könne Abhilfe schaffen, so die Ingenieurin. „Wenn denn nicht wieder Dilettanten oder Autofans ans Werk gehen, und die Politik das duldet.“