Schillerkiez in Neukölln: Zwischen Studenten und Stammkunden

Draußen auf der Schillerpromenade sitzen die Menschen beim Latte Macchiato in der ersten Frühlingssonne, genießen hinter großen Sonnenbrillen die warmen Strahlen. Hinter der Holztür der Kneipe Bechereck bekommt man davon nicht viel mit. Nur wenig Tageslicht dringt durch die Fenster, die Luft ist rauchverhangen, auf dem Tisch liegt ein Soduku-Rätsel. In der Ecke blinkt und dudelt Spielautomat „Mutti“. Es ist 13 Uhr.

„Ich nehm´ noch einen Kaffee, danach ein Bier“, sagt ein Mann mit Cap, Schnauzer und langem, geflochtenem Zopf. Ein Stammkunde.

Seit 30 Jahren gibt es die Kneipe an in der Okerstraße schon. Eine Institution. Seit neun Jahren ist die Russin Marina Kremlevskaja hier Chefin. Es ist ihre Kneipe, in die sie viel Zeit, Geld und Liebe investiert hat. „Ich habe das alles umgebaut, Wände gezogen, meine Kunst an die Wand gehängt. Das sah hier mal aus wie in einer Bahnhofshalle“, erinnert sie sich. Jetzt hängen hier bemalte Tonkrüge, die Fenster hat sie selbst mit Blumenranken bemalt, den Billardtisch mit goldenen Stuckelementen veredelt.

Galerien statt Schnapsleichen

Früher, da hatte Marina Kremlevskaja 24 Stunden am Tag geöffnet. „Wenn ich hier morgens hineinkam, lagen da noch die übrig gebliebenen Betrunkenen.“

Seitdem ist viel passiert. Der Kiez rund um die Schillerpromenade hat sich verändert. Cafés, Burger- und Naturkostläden, Galerien haben eröffnet. „Seit ein paar Jahren ist das hier keine tote Gegend mehr. Es ist ein anständiger Kiez geworden, auch viel sauberer“, sagt die zierliche Frau. Die Menschen, die schon morgens an der Ecke mit ihrem Bierflaschen standen, seien selten geworden.

Nachmittags ist das Bechereck in Hand der Stammkunden. Man duzt sich, wechselt ein paar Worte, während das Bier aus dem Zapfhahn ins Glas läuft, die Männer Münzen in den Schlitz der Spielautomaten stecken. „Ach, die Entwicklung, ja, man muss eben mit dem Schlitten mitfahren“, sagt der Mann mit dem langen Zopf und trinkt einen Schluck von seinem Kaffee. Er geht raus, möchte dazu nicht mehr sagen.

„Ich empfinde die Entwicklung hier im Kiez als positiv, das sehen aber die meisten Stammkunden anders“, sagt die 42-Jährige, während sie sich eine Zigarette ansteckt. Doch Marina Kremlevskaja hat sich dieser Veränderung im Kiez angepasst: Sonntags schaltet sie den Beamer an und zeigt Tatort auf einer Leinwand im Billardzimmer, einen Tischkicker hat sie sich angeschafft, regelmäßig beschallt ein DJ die Gäste mit Elektromusik, abends mixt die Barfrau mit den kurzen blonden Haaren Moscole Mule mit Gurkendeko.

„Ich mag die jungen Leute. Die sind immer alle so freundlich.“ Spätestens ab 22 Uhr gehört der Laden ihnen, dann ist es hier rappelvoll.

Über der Kneipe gibt es inzwischen nur noch WGs. Die Familien sind schon lange ausgezogen. „Kein Wunder, die Preise können sich nur noch Wohngemeinschaften leisten. Für 120 Quadratmeter zahlen die jetzt 1 500 Euro. Früher waren es 750 Euro“, erzählt Kremlevskaja.

Vom Zuzug junger Leute profitieren auch die anderen Gewerbetreibenden rund um den Schillerkiez. „Wir hatten früher nicht an jedem Tag geöffnet“, erzählt Kirsi Hinze vom Zauberkönig in der Hermannstraße. Das Geschäft, indem man Kostüme, Masken und Zauberutensilien kaufen kann, gibt es seit 1884, seit 1952 hat es seinen Standort in Neukölln.

„Wir haben durch die Öffnung des Tempelhofer Feldes mehr Laufkundschaft, vor allem am Wochenende machen Familien nach dem Spaziergang auf dem Feld noch einen Abstecher zu uns“, sagt die 27-Jährige. „Es kommen mehr Studenten mit ihren Eltern, die bei einem Artikel, der über zehn Euro kostet, nicht gleich die Augenbrauen hochziehen“, sagt Hinze. Dass der Kiez seit einiger Zeit eine Aufwertung erfährt, ist für sie eine erwartbare Entwicklung. „Hier passiert das Gleiche, was Prenzlauer Berg oder Kreuzberg widerfahren ist. Es ist doch auch logisch, wer will nicht in einer Gegend mit so einem Feld vor der Nase leben?“

Etwa 50 Prozent Migranten

Bevor das Tempelhofer Feld im Jahr 2010 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, war das Wohngebiet östlich des etwa 300 Hektar großen Areals alles andere als attraktiv, galt lange als Problemviertel. Dabei war die Gegend zwischen Hermannstraße und Tempelhofer Feld im Arbeiterbezirk Neukölln um die Jahrhundertwende eigentlich als Zentrum für Besserverdienende geplant. Doch der Kiez mischte sich in seiner sozialen Struktur nicht wie erwartet. In den 60er Jahren kamen immer mehr Gastarbeiter nach Berlin, zogen nach Kreuzberg, Neukölln und Wedding. Ein Grund, warum auch heute der Anteil der Migranten im Quartier Schillerpromenade bei etwa 50 Prozent liegt.

Mit dem Wegzug von Industriezweigen und dem Fall der Mauer wandelte sich die Schillerpromenade immer mehr vom Arbeiter- zum Arbeitslosenbezirk. Seit 1999 arbeitet das Team des Quartiersmanagement Schillerpromenade an der Verbesserung der Lebensqualität im Kiez für die rund 20.000 Menschen. Doch noch ist in Neukölln der Anteil der Armutsgefährdeten am höchsten, auch wenn sich Gebiete wie der Schillerkiez zunehmend entwickeln.

Als Tanya Zeran vor vier Jahren in die Emser Straße in eine WG zu einer Freundin zog, sah es im Kiez noch anders aus als heute. „Nebenan war ein Puff, es wurde mit Drogen gedealt, es gab viel Armut und auch Kriminalität“, sagt die 37-Jährige, die in Hamburg aufwuchs. Lange hatte sie überlegt, ob sie nach Neukölln ziehen will. Die Freundin und die riesige Wohnung überzeugten sie schließlich. „Ich fand die Gegend immer schon authentischer als zum Beispiel Prenzlauer Berg. Außerdem brauche ich die türkischen Läden, das frische Gemüse“, sagt Tanya Zeran, die selbst türkische Wurzeln hat.

Vor einem Jahr eröffnete sie unter ihrer Wohnung das Café Loislane. Auch Tanya Zeran sagt, dass sich das Publikum im Kiez ändere, es kämen neue Leute, mehr Deutsche, die das Viertel durchmischen. „Man sieht das Wachstum, es gibt viel mehr Einzelhändler. Klar, das lukrative Geschäft haben längst die Investoren gewittert“, sagt sie.

Als Cafébesitzerin sieht sie in diesem Wandel Vorteile. Aber eben auch Nachteile. „Nach St. Pauli und Prenzlauer Berg erlebe ich zum dritten Mal eine Gentrifizierung mit“, erzählt Tanya Zeran. „Wenn es dann hier soweit ist, werde ich mich wieder verziehen.“

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