Schulbauoffensive in Berlin vor dem Scheitern: Über 23.000 Schulplätze fehlen
Berlin - Die Berliner rot-rot-grüne Koalition ist in Aufruhr und hat Krisensitzungen einberufen. Denn laut einem Bericht der Schulverwaltung fehlen in der Hauptstadt nach jüngsten Prognosen Gebäude für rund 24.000 Schulplätze – und das schon für das Schuljahr 2021/22. Allein an Grundschulen fehlen demnach stadtweit wohl mehr als 10.000 Plätze, an Integrierten Sekundarschulen über 7.000 und an Gymnasien mehr als 6.000 Schulplätze für das übernächste Schuljahr.
„Die Zahlen sind alarmierend“, sagt Tizia Labahn, Sprecherin der Grünen-Fraktion. Von einer „sehr ernsten Situation“ spricht Stefan Zillich, haushaltspolitischer Sprecher der Linken im Abgeordnetenhaus. „Der Senat muss umgehend eine Einschätzung abgeben, wie ernst die Lage ist und wie sie zu bewältigen ist.“
Das extreme Defizit ist errechenbar aus einem 842 Seiten langen Report zur „Taskforce Schulbau“, den die Senatsverwaltung bereits Mitte Mai öffentlich gemacht hat. Die Prognosen für die benötigten Schulplätze und die erwarteten Kapazitäten werden aus den Angaben von Bezirken und Senatsverwaltungen zu Bevölkerungs- und Schülerzahl sowie den geplanten Baugenehmigungen in den Bezirken ermittelt. Der Bericht soll eigentlich halbjährlich erscheinen, kam dieses Mal aber erst mit acht Monaten Verspätung. Kritiker bemängeln Intransparenz und den komplizierten Aufbau des Berichts – wohl ein zentraler Grund, warum das ganze Ausmaß erst jetzt öffentlich wird.
Bildungsexperten schlugen schon im Mai Alarm
Bildungsexperten hatten das Konvolut bereits im Mai durchgearbeitet, die fehlenden Plätze errechnet und bei der Senatsverwaltung Alarm geschlagen: Die meisten Schulen seien schon jetzt überbelegt, es gebe keinerlei Puffer mehr. Wie die Verwaltung nun in so kurzer Zeit Tausende von neuen Schulplätzen schaffen wolle?
Zwei Krisensitzungen soll es nach Informationen der Berliner Zeitung seither gegeben haben, eine Ende Mai, eine weitere Ende Juni. Dabei versammelten sich die bildungs- und haushaltspolitischen Experten aus den drei Koalitionsfraktionen und den an der Schulbauoffensive beteiligten Senatsverwaltungen Bildung, Bauen sowie Finanzen an einem Tisch. Den Experten seien die horrenden Defizite von der Senatsverwaltung bestätigt worden, hieß es, Antworten auf Fragen nach konkreten Maßnahmen, um die Zahl der Schulplätze zu erhöhen, blieben aber bisher aus.
Sie sollten auf dem nächsten Krisentreffen geliefert werden, das für Mitte August anvisiert ist. Doch die Verzweiflung und der Ärger von so manch einem im gebeutelten Bildungs- und Schulbausystem war angesichts der bald drohenden Krise und der behäbig reagierenden Verwaltung so groß, dass man die Information noch vor dem Treffen an die Medien durchstach.
Pankow, Lichtenberg und Mitte am härtesten betroffen
Nach Berechnungen der Berliner Zeitung basierend auf dem von der Senatsverwaltung veröffentlichten Bericht weisen für das Schuljahr 2021/22 neun von zwölf Bezirken in allen drei Schultypen erhebliche Defizite aus. Bei den Grundschulen sind sie am größten in den Bezirken Pankow mit 2 635 fehlenden Schulplätzen, Lichtenberg (1 800), Mitte (1 757) und Tempelhof-Schöneberg (1 454).
Bei den Integrierten Sekundarschulen liegt Treptow-Köpenick mit 1 460 fehlenden Schulplätzen auf Platz 1, wiederum gefolgt von Mitte (1 360), Pankow (1 160) und Lichtenberg (1 140). Bei den Gymnasien liegt Pankow mit 2 125 fehlenden Schulplätzen vorn. Es gibt nur drei Bezirke, die zumindest bei einigen Schultypen eine leichte Überkapazität von einigen Dutzend bis einigen Hundert Schulplätzen ausweisen können: Neukölln, Reinickendorf und Steglitz-Zehlendorf.
Schulstadtrat: „Man hat nicht bedacht, welche Folgen Berlins Wachstum hat"
Zwei der am härtesten betroffenen Bezirke sind Pankow und Lichtenberg. Das große Defizit habe viele Gründe, sagt Wilfried Nünthel (CDU), Schulstadtrat in Lichtenberg. Eine zentrale Ursache aber sei: „Man hat sich zu lange gefreut, dass Berlin wächst – und nicht bedacht, welche Folgen das eigentlich hat.“ Und Torsten Kühne (CDU), Schulstadtrat in Pankow, sagt: „Wir hatten lange einen enormen Spardruck, da wurde gespart, bis es quietscht, wie es immer heißt. Und dieses Quietschen spüren wir jetzt.“ Die Bezirke hätten seit Jahren die nötigen Bedarfe bei der Schulverwaltung gemeldet, sagt Kühne. „Doch die Bedarfe wurden von der Verwaltung negiert oder es wurde behauptet: Das wächst sich aus.“
Beide Schulstadträte sind dankbar für die Schulbauoffensive, mit der der rot-rot-grüne Senat seit 2017 Verfahren vereinfachen und in zehn Jahren 5,5 Milliarden Euro in neue Schulen investieren will. In Pankow sollen bis 2022 vier neue Schulen entstehen, bis 2030 sogar 24. In Lichtenberg sind in den nächsten Jahren mindestens elf geplant. Doch der Bau dauert, in Berlin nach Erfahrung von Kühne immer noch gut fünf Jahre – und kann den Riesen-Bedarf bereits hin zum übernächsten Schuljahr nicht decken. In beiden Bezirken sind die Schulen überbelegt und nachverdichtet worden bis hin zum Maximum. „Wir sind am Ende angekommen, da geht nichts mehr“, sagt Nünthel.
Schulverwaltung kündigt „Sofortmaßnahmen" an
Die Senatsbildungsverwaltung teilte am Montag mit, man sei sich der Herausforderungen bewusst und plane entsprechend. „Wir nehmen die Entwicklung der Schulplätze sehr ernst“, sagte Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD), „und sorgen in Abstimmung mit den Bezirken auf verschiedenen Ebenen dafür, mehr Plätze zu schaffen.“ Es seien mehrere „Sofortmaßnahmen" in Arbeit. Dazu gehörten unter anderem eine noch höhere Belegung der Schulen, Containerbauten sowie der Umbau von ehemaligen Flüchtlingsunterkünften zu Schulen.