Schulreform in Berlin: Forscher sprechen von einer unehrlichen Bildungspolitik
Berlin - Trotz weitreichender Reformen bleiben die Berliner Schulen sozial gespalten. Dabei sollte die 2010 erfolgte Schulstrukturreform mit der Abschaffung der Hauptschule zu einer stärkeren Durchmischung der Schülerschaft und damit zu einer besseren Lernsituation führen. Das ist bisher nicht gelungen, wie die Bildungsforscher Marcel Helbig und Rita Nikolai in einer noch nicht veröffentlichten Studie detailliert belegen. „Es hat keine wirkliche Strukturreform gegeben, man hat die Schulen nur anders benannt“, fasst es Helbig, Professor für Bildung am Wissenschaftszentrum Berlin, zusammen. „Gebracht hat es also bisher kaum etwas.“
Die Forscher haben dafür exklusiv Sozialdaten von Schülern aus staatlichen und privaten Schulen ausgewertet. Eine zentrale Rolle spielt dabei der bisher geheim gehaltene Anteil der lernmittelbefreiten Schüler pro Schule – die sogenannte lmb-Quote. Anhand dieses Wertes ist zu erkennen, wie viele Schüler aus armen, auf Sozialtransfers angewiesenen Familien eine Schule besuchen. Die Verwaltung gibt die Zahlen sonst nicht raus, um ein Negativ-Ranking der Schulen zu vermeiden.
„Die alte Schulstruktur wird verdeckt im neuen Schulsystem fortgeführt“
Demnach liegt der Anteil der Schüler aus armen Familien an staatlichen Gymnasien im Schuljahr 2016/17 bei nur 17 Prozent – und das nahezu unverändert seit Jahren. „Schüler aus höheren sozialen Schichten besuchen eher ein Gymnasium“, sagt Helbig. An den staatlichen Sekundarschulen, die im Zuge der Reform aus Haupt-, Real- und Gesamtschulen entstanden, liegt der Wert hingegen bei 42 Prozent. Diese soziale Spaltung haben Bildungsforscher schon vor Jahren kritisiert, und sie sollte 2010 mit der Strukturreform eigentlich überwunden werden. Doch was Eltern, Schüler und Lehrer in den vergangenen Jahren eher gefühlt wahrgenommen haben, wird mit der Untersuchung jetzt zur statistischen Gewissheit. „Die alte Schulstruktur wird verdeckt im neuen Schulsystem fortgeführt“, so die ernüchternde Erkenntnis der Bildungsforscher.
Die Unterschiede zwischen den Sekundarschulen werden nun besonders deutlich: An Sekundarschulen mit gymnasialer Oberstufe, meist ehemalige Gesamtschulen, kommen nur 33 Prozent aller Schüler aus ärmeren Familien. Doch zwei Drittel aller Sekundarschulen haben keine eigene Oberstufe – und hier sind gut die Hälfte aller Schüler lernmittelbefreit. An den Schulen, die aus mindestens einer Hauptschule hervorgingen, liegt der Wert sogar bei 57 Prozent – schon wieder nah dran an früheren Hauptschulwerten. An einstigen Realschulen hat sich der Anteil dieser Schüler deutlich erhöht. Die Mehrzahl dieser heutigen Sekundarschulen wurden eins zu eins umgegründet.
Gegenbewegungen und Massenproteste
Die Bildungsforscher stellen in ihrer neuen Studie zudem fest, dass Eltern aus höheren sozialen Schichten bei allen schulischen Veränderungen imstande sind, ihre Interessen durchzusetzen. Oder aber es kommt zu massiven Gegenbewegungen und Massenprotesten wie bei der dann gescheiterten Schulreform in Hamburg.
Doch in Berlin bleiben offenbar genug Alternativen: Eltern können demnach in Privatschulen ausweichen oder durch die mittlerweile zahlreichen 5. Klassen an Gymnasien die normalen Aufnahmeverfahren für die weiterführenden Schulen umgehen. Selbst Gemeinschaftsschulen in besseren Quartieren geben Eltern entgegen ihrem schulpolitischen Ziel die Möglichkeit, sich der normalen Grundschule gewissermaßen zu entziehen. Auch das ein neuer Befund. Unterschiedlich ist der Anteil der armen Schüler an Gymnasien ab 7. Klasse (21 Prozent) und ab 5. Klasse (13 Prozent). Doch selbst an den staatlichen Gymnasien ab 5. Klasse lernen noch achtmal so viele lernmittelbefreite Schüler wie an den vergleichbaren Privatgymnasien, so das Ergebnis. Helbig spricht insgesamt von einer unehrlichen Bildungspolitik.
Die Studie arbeitet zudem heraus, dass die soziale Spaltung an den Grundschulen fast so weit ist wie an den weiterführenden Schulen. Zuletzt sei sie vor allem in den östlichen Bezirken weiter vorangeschritten. „Das sind schon Werte, die an US-Städte erinnern“, sagt Helbig. „Es macht sich bemerkbar, dass viele Menschen neu in Plattenbaugebiete ziehen, die auf Sozialtransfers angewiesen sind“, sagt Helbig. Bessergestellte Eltern würden dann andere Schulen auswählen oder in Privatschulen flüchten. Letztlich spiegele sich die wachsende soziale Spaltung der Stadt verstärkt in Grundschulen wider. Fraglich ist, ob sich das überhaupt noch umkehren lässt.