Sebastian Czaja (FDP): Im Wahlkampf hat er fünf Kilo abgenommen
Sebastian Czaja hat mit seiner FDP drei Varianten: im Abgeordnetenhaus bleiben, mitregieren oder rausfliegen. Das sagt viel über den Zustand der Liberalen.

Die Gäste im Brauhaus Spandau haben sich heute Abend besonders aufgehübscht, als ob ein großes Ereignis bevorstünde. Inmitten des Gedränges entdeckt ein älterer Herr einen freien Platz am Stehtisch und beeilt sich, diesen zu ergattern. Er trägt seinen „allerschönsten“ grauen Janker, wie er stolz erzählt. Dazu einen Pullover, gelb natürlich, das ist die FDP-Farbe. Mit einem Gefühl der Hoffnung habe er sich ins Brauhaus Spandau begeben, sagt er.
Der Rentner ist seit 40 Jahren FDP-Mitglied und lebt in Berlin; die liberalen Ideen hat er seit mehr als 30 Jahren nicht mehr in der Regierung gesehen. Doch diesmal glaubt er, dass es die Partei schaffen kann. „Wenn wir Glück haben, kommt sie in die Landesregierung und die Grünen und Linken sind weg vom Fenster“, sagt er und haut auf den Tisch, auf dem ein Humpen Bier steht. Dazu gibt es Schinken, fettreichen Käse, in feine Streifen geschnittene Radieschen und Brezeln. Der Mann greift beherzt zu. Dann allerdings kommt der Hoffnungsträger, und er stellt seinen Teller zur Seite, um zu klatschen. Es ist kurzzeitig so laut im Saal wie bei einem Rockkonzert.
Der Hoffnungsträger – das ist Sebastian Czaja. Für Berlins FDP-Spitzenkandidaten ist es der zehnte Termin an diesem Tag. Seit Wochen ist er auf dem Sprung, hetzt im straffen Anzug und mit perfekt sitzendem Kurzhaarschnitt von einem Termin zum nächsten. Zwischendurch isst er im Auto Obst oder Müsli to go. Er habe fünf Kilo abgenommen, sagt er. „Das ist bei jeder Wahl so“, sagt er und zupft sich sein Jackett zurecht. Er entspricht dem Bild, das viele von ihm haben, wirkt jung, dynamisch und kämpferisch. Alles andere wird zur Nebensache.
An diesem Tag ist er in Neukölln unterwegs gewesen, eine Nachlese wegen der Silvester-Krawalle. Er hat eine Schule besucht und die Polizei. An seiner Seite: der Autor und Psychologe Ahmad Mansour, den Czaja für den Wahlkampf gewinnen konnte. Später hat noch die Fraktion getagt. Jetzt das Brauhaus.
Czaja strahlt noch immer eine beeindruckende Energie aus, als er um 19.30 Uhr den Saal betritt, die Hände schüttelt, die ihm entgegengestreckt werden, und den erfahrenen Polithasen Wolfgang Kubicki wie einen alten Kumpel begrüßt. Der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, der für diesen Abend die Bundesprominenz ist, ist schon länger da und hat bereits gemütlich ein Bier getrunken. Kubicki wirkt deutlich ausgeruhter als der Wahlkämpfer Czaja.

Der Druck ist da, das kann der Spitzenkandidat nicht leugnen. Sebastian Czaja hat mit seiner FDP drei Varianten: im Abgeordnetenhaus bleiben, vielleicht sogar mitregieren oder rausfliegen. Alles ist möglich. Czaja hat, seitdem die erste Wahl 2021 im Chaos versunken ist, die Fährte aufgenommen. Wie ein Raubtier.
Für ihn und seine FDP kann die Nachwahl noch einmal mehr die Chance sein. Seit Wochen wittert Czaja, dass seine Partei – nach Jahrzehnten auf der Oppositionsbank oder dem Gar-nicht-vertreten-Sein im Abgeordnetenhaus – mal wieder mitregieren könnte. Das gelänge, wenn die Liberalen acht bis neun Prozent holten. Sie müssten sich ein wenig verbessern, bei der vergangenen Abgeordnetenhauswahl landeten sie bei 7,1 Prozent. Den Umfragen nach liegen sie derzeit bei sechs bis sieben Prozent.
Und dann ist da noch dieses Schreckensszenario, das die FDP in der gesamten Republik seit anderthalb Jahren verfolgt: dass die Berliner Liberalen bei der Nachwahl so sehr verlieren, dass sie unter der Fünf-Prozent-Hürde liegen. Auch möglich. Seit die Bundes-Liberalen in der Ampel mitregieren, verlieren sie bei Landtagswahlen an Zuspruch. 2022 war ein besonders mieses Jahr. Die Partei verlor bei den Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. In Kiel und Düsseldorf ging die Regierungsbeteiligung verloren. Im Saarland legten die Liberalen zwar zu, verpassten aber den Einzug in den Landtag. Die Ampel in Berlin vermochte der FDP im vergangenen Jahr offenbar keinen Rückenwind zu geben. Im Gegenteil, so scheint es.
Für die Liberalen in Berlin hat sich aber besonders die Niederlage bei der Wahl in Bremen 2019 eingebrannt. Dort verloren die Sozialdemokraten erstmals seit Gründung des Bundeslandes ihren Status als stärkste Partei an die CDU. Es kam nicht zu einem schwarz-grünen-gelben Bündnis, das die Hochrechnungen hergegeben hätten, es kam anders. Die SPD blieb unter dem neuen Bürgermeister Andreas Bovenschulte an der Regierung, weil sie ihr Bündnis mit den Grünen um die Linkspartei erweiterte. Grund: Die Grünen wollten ein mögliches Jamaika-Bündnis mit CDU und FDP nicht.
Sebastian Czaja erwähnt Bremen oft. Er rechnet dann vor, wie es war. Weil die Bremer Variante auch in Berlin eine Option ist, obwohl die CDU derzeit in den Umfragen obenan liegt. Denn sollte die CDU stärkste Partei in Berlin werden, könnte sich dennoch erneut ein Linksbündnis bilden. Und alles bleibe mit Rot-Rot-Grün beim Alten.
Czaja hält sich Koalition offen, Jarasch aber will er nicht wählen
Seit Wochen beißt sich Sebastian Czaja mit seinen Liberalen daher an den Grünen fest, vor allem an Bettina Jarasch, der Vorsitzenden und Spitzenkandidatin der Partei. „Wir werden sie nicht zur Regierenden Bürgermeisterin wählen“, ruft Czaja am Abend im Brauhaus in sein Mikrofon, und alle klatschen. Und dann zählt er eindringlich die „Fehler“ der Verkehrssenatorin Jarasch auf. Die für Autos dichtgemachte Friedrichstraße, an der er selbst für ein Wahlkampfvideo keck eine Absperrung wegräumte und eine Anzeige der Grünen kassierte. Oder das Nein Jaraschs zur Verlängerung der A100, ihr Plan, 50 Prozent der Parkplätze in der Stadt zu reduzieren. Dass Autofahrer gegen Radfahrer oder Fußgänger ausgespielt würden. Es brodelt im Saal, die Anhänger der FDP gehen mit.
Czaja macht keinen Hehl daraus, dass er gerne mit der CDU und der SPD paktieren würde. Da gebe es inhaltlich die meisten Schnittpunkte, heißt es in der FDP. Hinzu kommt: Czaja und Berlins Regierende Franziska Giffey verstehen sich gut. „Sie haben einen ähnlichen Blick und gehen ähnlich an Sachen ran“, sagt ein FDP-Mitglied. Es mag daran liegen, dass die beiden Politiker nur fünf Jahre trennen, Czaja ist 39, Giffey 44. Oder dass sie Ostdeutsche sind.
Bei Debatten im Abgeordnetenhaus streiten sie sich mitunter, Beobachter aber sagen, es sei eher ein Schäkern zwischen zweien, die sich mögen. Auf einer Linie sind sie auf jeden Fall, wenn es um Enteignung geht. Die wollen beide nicht.
Die Farbenspiele lassen sich aus Czajas Sicht fortsetzen: Sollte es zu einer Ampel auf Landesebene reichen, würde die FDP ebenfalls nicht nein sagen. Der Spitzenkandidat ist schwer einschätzbar, er lässt vieles offen.
Sebastian Czaja läuft sich im Brauhaus Spandau warm. Er steht unter dem gelben FDP-Plakat und spricht ins Mikrofon. Es gehe um Lösungsvorschläge und keine „Verbotskultur“, sagt er nach seiner Abrechnung mit der Grünen-Spitzenkandidatin. Sei es in der Verwaltung, die verstaubt und ineffizient sei. Die müsse endlich modernisiert werden, mit Digitalisierung und durch bessere Serviceangebote. „Hier funktioniert nichts“, ruft Czaja. Viele im Saal nicken.
Von Kubicki bekommt Czaja wenig später Schützenhilfe. Er und seine Frau hätten beim Umzug nach Berlin drei Monate lang gebraucht, den Zweitwohnsitz anzumelden. „Da muss sich endlich was ändern“, ruft Kubicki in den Saal. Einer antwortet: „Wende jetzt.“ Der Rentner im Janker am Stehtisch nickt zustimmend, sagt: „Wir haben mit dem ganzen Schlamassel nichts zu tun, wir haben seit Jahrzehnten nicht regiert.“
Auch die weiteren Themen treffen die FDP-Seele. Dass es im Verkehr zusätzliche Angebote geben müsse statt Verbote. Dass es in der Bildung nicht mehr nach Herkunft gehen dürfe, dass es Chancen für alle geben müsse. Czaja setzt auf Begriffe wie Leuchtturm- anstatt Brennpunktschulen und wirkt dabei wie ein freundlicher Good-Live-Coach. Er ist ein guter Verkäufer. „Reden kann er“, sagt der Rentner.

Im Abgeordnetenhaus ist Czaja mit seiner FDP seit 2016, vorher war sie aus dem Landtag geflogen. Damals punktete die Partei mit der Offensive für den Flughafen Tegel, der sollte bleiben. Das zog, die Liberalen durften wieder mitspielen. Diesmal haben sie sich die Verwaltungsreform zu eigen gemacht. Klingt erst einmal unsexy, doch sollte diese gelingen, verspricht die FDP mehr Bürgerservice, etwa durch eine verkleinerte Behörde und das Aus für Bezirksstadträte. Da geht Czaja mit seiner Partei weiter als CDU und SPD.
Der FDP-Spitzenkandidat gilt manchen als heimlicher Oppositionsführer, so war es zu lesen. Czaja erklärt das so: „Wir haben uns 2016, als wir ins Abgeordnetenhaus eingezogen sind, vorgenommen, dass wir nicht nur meckern, sondern auch eine Lösung parat haben. Dass wir konstruktiv an die Themen herangehen.“ Und da die CDU seit Jahren ziemlich mit sich selbst beschäftigt sei, konnten die Liberalen punkten, heißt es in der Partei.
Der FDP-Spitzenkandidat wohnt im gutbürgerlichen Zehlendorf
Sebastian Czaja, der mit seiner Frau Katharina und seiner Tochter im gutbürgerlichen Zehlendorf wohnt, war selbst mal in der CDU, durchlief mehrere Stationen. Im Jahr 2005 wechselte er zur FDP. Danach ging es auf und ab: 2006 saß Sebastian Czaja im Abgeordnetenhaus. Doch die FDP erlitt mal wieder eine Schlappe, flog 2011 raus. 2016 kam sie zurück. Und mit ihr Czaja als der Retter in der Not.
Warum er damals aus der CDU austrat, alle Ämter niederlegte, bleibt eine offene Frage. Lag es an einem angeblichen parteiinternen Streit? Daran, dass Czaja in der Partei eh nichts geworden wäre, weil sein acht Jahre älterer Bruder Mario bereits in der CDU Karriere machen wollte? Dieser ist inzwischen Generalsekretär in der Bundes-CDU, weit weg von der Berliner Landespolitik. Aber irgendwie auch nicht.
Czaja lächelt Fragen wie diese weg. Er lässt sich nicht in die Karten schauen. Das macht auch die Berliner CDU mitunter nervös. Viele dort trauen ihm nicht, für sie ist die Nähe zu seinem Bruder bedrohlich.
Sebastian Czaja war sechs Jahre alt, als die Mauer fiel
Die beiden Brüder wuchsen in Berlin-Mahlsdorf auf. Die Mutter war Krankenschwester, der Vater Elektroinstallateur. Wenn es um Bildung und speziell um Aufstieg durch Bildung geht, bringt Czaja gerne seine eigene Biografie ins Spiel. Seine DDR-Herkunft, das katholische Elternhaus. Sechs Jahre war er alt, als die Mauer fiel. Das habe ihn in Aufbruchsstimmung versetzt, so erzählte er auf einem Parteitag: „Wir lebten in einem völlig neuen Land, das uns Wohlstand versprach, wenn wir uns anstrengten.“
Czaja, 1983 geboren, machte eine Lehre als Elektrotechniker und schließlich das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. „Fleiß zahlt sich aus“, sagt er oft und gerne. Den Menschen in Berlin will er ermöglichen, dass sie „Architekten ihres eigenen Lebens werden“.
Wahlkampf in Mitte: Viele sind genervt, weil sie noch mal wählen müssen
Czaja kann die Menschen in den Sälen begeistern, er schlägt sich aber auch in der Berliner Kälte gut. An einem windigen, kalten Tag steht der Liberale in Mitte an der Rosenthaler Straße. Er trägt eine Daunenjacke und verteilt FDP-Flyer. Am Wahlkampfstand gibt es warmen Kaffee und Tee, Gummibärchen und Malstifte. Es ist ein Sonnabend, doch nur wenige sind zum Shoppen unterwegs. Dafür viele Touristen, die über den zweiten Wahlkampf in Berlin lediglich aus dem Fernsehen oder über andere Kanäle gehört haben. „Und wenn wir mit Berlinern reden, sind viele genervt davon, dass sie noch einmal wählen müssen, und möchten gar nichts damit zu tun haben“, sagt ein Wahlkampfhelfer. Und dann sei ja auch noch Winter.
Czaja gibt nicht auf, spricht eine Frau an, die vorbeihetzt. Sie fragt: „Kenne ich Sie? “ Er sagt freundlich, er sei Sebastian Czaja, der FDP-Spitzenkandidat. „Ja, dann beseitigen Sie mal das Chaos in dieser Stadt. Das ist aber an alle Parteien adressiert“, sagt die Frau und geht weiter. Czaja lächelt. Seine Partei war seit 1989 nicht mehr an der Macht. Er ist fein raus.