Seelsorger nach Anschlag: „Jenen helfen, denen innerlich kalt ist“
Berlin - Als bei Justus Münster das Telefon klingelt, ist es gerade 21 Uhr. Es ist Montagabend, eine Stunde nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz. Am anderem Ende meldet sich die Feuerwehr – und schnell ist Münster klar: Jetzt werden er und seine Kollegen von der Berliner Notfallseelsorge gebraucht. Schnell macht sich der evangelische Pfarrer mit dem Auto auf den Weg zum Breitscheidplatz, wo zahlreiche Leichen geborgen und Dutzende Verletzte versorgt werden müssen.
Zwei Frauen werden vermisst
Das erste Opfer des Attentäters ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit Stunden tot. Es ist der polnische Trucker Lukasz U., der Stahlrohre nach Berlin bringen sollte. Er wurde nach bisherigen Erkenntnissen bereits am Nachmittag mit einer kleinkalibrigen Waffe erschossen und sein schwarzer Scania-Laster dann gekapert. Mit diesem Fahrzeug rast der Attentäter vier Stunden später in den Weihnachtsmarkt.
Acht Menschen sind sofort tot, 52 werden verletzt, 18 von ihnen lebensgefährlich und 14 schwer. Drei überleben die Nacht nicht. Bis Dienstagnachmittag können sechs Todesopfer identifiziert werden, sie alle sind Deutsche. Über das Alter der Toten wird nichts bekannt. Eine Italienerin wird derzeit vermisst.
Unter den Schwerverletzten befindet sich auch ein israelischer Staatsangehöriger. Der Mann sei im Wenckebach-Klinikum operiert und ins künstliche Koma versetzt worden, sagte eine Sprecherin der israelischen Botschaft der Berliner Zeitung.
Verletzt bei dem Anschlag wurde der Spanier Iñaki Ellakuria. „Ich hörte den Laster, wie er gegen die erste Bude stieß, ich drehte mich um und hatte ihn direkt in meinem verdammten Gesicht“, schreibt der 21-Jährige auf Twitter. Der Wirtschaftsstudent aus Bilbao war mit Freundinnen zu Besuch auf dem Markt, die Frauen überleben unverletzt. „Der Laster hat mich voll erwischt“, schreibt er. Der Lkw brach Ellakuria das linke Schien- und Wadenbein und den rechten Fuß. Auch er wird in die Wenckebach-Klinik eingeliefert. „Mir geht es gut, dank der vielen Drogen, die sie mir eingeflößt haben. Aber es war der unerträglichste Schmerz meines Lebens.“
Auch Justus Münster und seine Kollegen werden mit dem Grauen konfrontiert. Die Seelsorger – gut zu erkennen an ihren grünen Warnwesten – betreuen bis zum Dienstagmorgen gegen 5 Uhr vor Ort Betroffene: Augenzeugen, Angehörige, Mitarbeiter des Weihnachtsmarkts. Sie hören ihnen zu, geben Halt, sind einfach da. Viele Gespräche werden im benachbarten Hotel Waldorf Astoria geführt, wo ein Raum zur Verfügung steht.
Münster koordiniert die Arbeit der Seelsorger. „Wir waren mit 20 Leuten im Einsatz“, erzählt er am Dienstagvormittag. „In so einer Situation können die meisten Menschen gar nicht verstehen, was passiert ist.“ Da sei es wichtig zu signalisieren: „Ich bin für dich da.“ Die Betroffenen müssten angenommen werden in ihrer Ohnmacht und Trauer. „Es gibt ja nichts, was diese Situation wieder heil macht. Da helfen auch keine Floskeln.“ Für all das bräuchten die Seelsorger sowohl Mitgefühl als auch Empathie – und professionelle Distanz.
Landesbranddirektor Wilfried Gräfling lobt am Dienstagmittag die Zusammenarbeit der Helfer vor Ort. Die Verteilung der Verletzten auf 22 Kliniken habe sehr gut geklappt, jeder habe eine „individualmedizinische Behandlung“ bekommen können. Auch die Hilfsbereitschaft sei sehr gut gewesen. So hätten sich Ärzte, die zufällig am Breitscheidplatz waren, als Helfer angeboten.
Am Dienstagmittag kehren auch die Seelsorger noch einmal an den Anschlagsort zurück. „Die Anteilnahme im öffentlichen Raum ist erfahrungsgemäß sehr groß“, sagt Norbert Ferse, Diözesanbeauftragter für Notfallseelsorge im Erzbistum Berlin. Auch für diese Menschen, „denen innerlich kalt“ ist, wolle man da sein.
Professionelle Hilfe werden in der kommenden Zeit auch die Einsatzkräfte von Feuerwehr und Polizei benötigen – und die Seelsorger selbst. Schließlich wurden auch sie Augenzeugen. „Bei so einem Einsatz gibt es auch immer eine Nachbetreuung“, sagt Münster. „Auch Seelsorger brauchen Seelsorge.“
An der 1995 gegründeten Notfallseelsorge beteiligen sich neben Feuerwehr und Polizei die fünf Wohlfahrtsverbände und eine muslimische Seelsorge. Der bislang größte Einsatz liegt erst wenige Monate zurück: 30 Seelsorger kümmerten sich im Juli 2016 um die 300 Berliner Schüler, die in der französischen Hafenstadt Nizza waren, als sich dort ein Anschlag ereignete.
Neun Beratungsstellen
Dabei waren 86 Menschen getötet und mehr als 300 verletzt worden, unter ihnen auch zwei Schülerinnen und eine Lehrerin aus Berlin. Damals war – wie jetzt in Berlin – ein Laster in ein Straßenfest gefahren. „Unser Einsatz war damals aber ein ganz anderer“, sagt Münster. Nach Nizza hätten die Betroffenen bereits mit den Eltern reden können, „hier waren die Erlebnisse erst wenige Minuten oder Stunden alt.“ Der Berliner Krisendienst hat sich auf einen verstärkten Beratungsbedarf eingerichtet, neun Beratungsstellen stehen bereit – sowohl für telefonische als auch persönliche Kontakte.
Hilfe für Betroffene unter www.berliner-krisendienst.de