Seit 19 Jahren rätseln Brandenburger Ermittler: Wer ist die Tote aus dem Seesack
Ein Angler fand 2004 eine Tote im Brandenburger Bugsinsee. Seitdem versuchen die Fahnder, die Identität der Frau zu klären – und damit einen Mordfall.

Der Bugsinsee liegt direkt an der Autobahn A11 zwischen Berlin und Stettin, die nächste Ortschaft ist Althüttendorf im brandenburgischen Landkreis Barnim. Nur selten verirren sich Fremde dorthin. Das Gewässer, durch eine Bahnstrecke in der Mitte geteilt, ist bei Anglern beliebt; es gilt als Top-Revier. Der See gehört zum Biosphärenreservat Schorfheide.
Am 26. Juni 2004 steht ein 71 Jahre alter Hobbyfischer am Ufer des Gewässers. In der Nähe der Badestelle sieht er etwas im Wasser treiben, er zieht es ans Ufer. Es ist ein Seesack, der an der Seite aufgerissen ist. Ein menschliches Bein ragt heraus. Der Angler wählt die Notrufnummer der Polizei.
An jenem Sonnabendnachmittag hat Wolfhard Trenn Bereitschaftsdienst. Er ist Ermittler der Mordkommission in Eberswalde, einer Außenstelle des Polizeipräsidiums Frankfurt (Oder). Die Leitstelle informiert ihn über den Leichenfund. Mit einem Kollegen der Kriminaltechnik fährt er gegen 15 Uhr an den See.
Als sie eintreffen, liegt der olivfarbene Seesack am Ufer. Er ist 85 Zentimeter hoch, 86 Zentimeter breit und hat einen Durchmesser von 40 Zentimetern. Mit zwei Tragegurten kann er transportiert werden. Er sieht einem Seesack der Bundeswehr ähnlich, ist aber kein Original.
Darinnen stecken die sterblichen Überreste einer bis zur Unkenntlichkeit aufgequollenen Frau. Die Tote hat keine Tasche dabei, keinen Ausweis, sie trägt auch keinen Schmuck. Die Obduktion der Leiche ergibt, dass die Frau ermordet wurde. Aufgrund der langen Liegezeit im Wasser, die Rechtsmediziner gehen von drei Wochen bis sechs Monaten aus, ist das natürliche Antlitz der Toten nicht mehr erkennbar.
Die Kriminalisten können nicht ermitteln, an welcher Stelle des Sees der Seesack mit der Toten versenkt wurde. Polizeitaucher suchen den Bereich der Badestelle ab. Sie finden einen Blechkahn und zwei Gullydeckel. Das Boot kann schon bald einer Anzeige zugeordnet werden. Es wurde gestohlen und offenbar im See versenkt. Mit der Toten hat es nichts zu tun. Bei den Gullydeckeln sind sich die Kriminalisten nicht sicher.

Die Fahnder um Wolfhard Trenn haben viele Ansätze, um herauszubekommen, wer die Tote ist. Sie kennen den Zahnstatus der Frau ebenso wie andere markante körperliche Merkmale. Trenn ist seit 1995 Mordermittler. Er ist sich sicher, die Identität der Bugsinsee-Leiche schnell ermitteln und damit den ersten Schritt zur Aufklärung des Verbrechens gehen zu können.
Doch er wird sich irren.
Fast 19 Jahre später sitzt Wolfhard Trenn in seinem Büro beim brandenburgischen Landeskriminalamt (LKA) in Eberswalde und blättert in einem Aktenordner. Er ist 55 Jahre alt und Kriminalhauptkommissar. Im Jahr 2011 war er in die damals neu eingerichtete Mordkommission für ungeklärte Altfälle beim LKA gewechselt. Den Fall der unbekannten Toten vom Bugsinsee habe er mitgenommen, sagt er.
Ungeklärte Altfälle, das sind Morde oder Fälle von vermissten Personen, die auf ein Tötungsdelikt hinweisen und bei denen die Staatsanwaltschaft die Akten schon einmal geschlossen hat und die sich die Fahnder der Altfallkommission noch einmal anschauen. Denn Mord verjährt nicht. Das Verbrechen an der Unbekannten, die tot aus dem Bugsinsee geborgen wurde, gehört dazu.
„Es ist somit ein aktuelles Ermittlungsverfahren“, sagt Trenn. Immer wieder habe es neue Ermittlungsansätze und damit neue Hoffnung bei den Fahndern gegeben, den Fall klären, den Täter überführen zu können. „Wir haben wirklich alles Mögliche getan, um die Identität der Frau zu klären“, erzählt der Kriminalist. Bisher ohne Erfolg.
Mittlerweile umfasst die Hauptakte zu dem Mordfall 13 Bände, es gibt diverse Leitzordner mit Nebenspuren und Ermittlungshinweisen. Vier Bände umfassen die Ergebnisse der Kriminaltechnik. Alles in allem gibt es zu dem Fall Tausende Blatt Papier.
Trenn kennt auch ohne die Akten die wichtigsten Details zu dem Fall. Es ist sein Fall. Er erzählt von der Obduktion der Toten, die damals sofort erfolgte. Sie ergab, dass die Frau zu Lebzeiten 1,60 bis 1,65 Meter groß war und ein Gewicht von 50 bis 60 Kilogramm besaß.

Die Unbekannte hatte 30 bis 35 Zentimeter lange braune Haare, die sie rot getönt trug. Eine etwa acht Zentimeter lange Narbe am rechten Oberarm zeugte von einer Wunde, die medizinisch versorgt worden sein muss. „Dafür sprechen die Sekundärstiche, die Wunde wurde genäht“, sagt Trenn. Das Opfer hatte keine erkennbare Pockenimpfung, keine Narbe einer Blinddarmoperation, jedoch Ohrlöcher.
Trenn erzählt, dass es den Kollegen der Kriminaltechnik sogar gelungen sei, die aufgeweichten Papillarleisten des Opfers zu rekonstruieren, sodass von jedem Finger ein Abdruck genommen werden konnte. „Damit habe wir im Fingerabdruckidentifizierungssystem nach Übereinstimmungen gesucht. Das hat aber auch nichts gebracht“, sagt der Kriminalist. Ebenso gab es keinen Treffer in der DNA-Datenbank.
Vielleicht würde es gelingen, die Tote über die Kleidung zu identifizieren – so die Hoffnung der Mordermittler. Die Frau hatte eine dunkelblaue Jeans der Marke Bulani getragen. Die Gesäßtaschen waren aus grauem Cordstoff. An jedem Hosenbein befand sich ein zwölf Zentimeter langer Schlitz, der ebenfalls mit grauem Cordstoff umsäumt war.
„Made in China“, war als Herkunftsland am Hosenbund zu erkennen und die Ziffern 31/27 für die Größe. Das entsprach einer Konfektionsgröße von 36/38. „Bulani ist ein Label, das in Deutschland nicht registriert ist“, sagt Trenn.
Außerdem trug die Tote einen grauen, langärmeligen Body in Rippstruktur mit wellenförmigem Spitzenbesatz am Halsbereich und an den Armbündchen. Auf dem Wäscheschild des Bodys der Größe L stand „Martina“. „Ebenfalls ein Label, das es offiziell in Deutschland nicht gibt“, erzählt Trenn von den Recherchen.
Mehr Glück hatten die Fahnder bei der Unterwäsche, die die Tote trug. Der pinkfarbene Büstenhalter der Marke Gina Benotti und der schwarze Stringtanga waren ab dem 27. Dezember 2001 für vier Monate als Wäscheset in den 1060 Filialen von Ernsting’s family in Nord- und Ostdeutschland angeboten worden. Doch wo genau Slip und BH gekauft worden waren, blieb im Dunkeln.

Die Ermittler vertrauten nicht nur ihrem Können, sie holten sich auch externe Hilfe: Ein Gutachter bestimmte das Alter der Frau. Er bediente sich dafür der sogenannten Zahnzement-Annulation. Dabei werden Schichten des Zahnzements gezählt, die sich auf der Zahnwurzel abgesetzt haben. „Das ist ähnlich wie bei den Jahresringen von Bäumen“, erklärt der Fahnder. Durch diese Methode konnte das Alter der Toten auf 35 bis 43 Jahre eingegrenzt werden.
Auch das Gebiss ließen die Ermittler untersuchen, nicht selten werden Tote anhand des Zahnstatus identifiziert. Das Gebiss war saniert, was für einen regelmäßigen Zahnarztbesuch sprach. Interessant waren für die Fahnder die vorhandenen Amalgamfüllungen.
Es handelte sich um gamma-2-freies Amalgam, das zum Zeitpunkt des Todes der Frau schon seit einigen Jahren nicht mehr auf dem deutschen und auch nicht dem westeuropäischen Markt eingesetzt oder vertrieben wurde, allerdings noch in Osteuropa gebräuchlich war. Die Füllungen könnten auch aus DDR-Zeiten stammen. „Festgestellt wurde auch eine Zahnanomalie, die zu Lebzeiten aufgefallen sein muss“, sagt Trenn. Die Schneidezähne standen im Ober- und Unterkiefer etwas übereinander.

Ihre Erkenntnisse über das Gebiss der Bugsinsee-Toten veröffentlichten die Fahnder im Zahnärzteblatt in Berlin und Brandenburg. „Allerdings blieb unser Mithilfeersuchen ohne Resonanz“, so der Kriminalhauptkommissar.
Aber auch das brachte die Fahnder nicht zum Aufgeben. „Man schaut immer wieder, was noch geht“, so Trenn. Und so wandten sich die Mordermittler im Dezember 2009 an das LKA in Sachsen-Anhalt. In Magdeburg gab es eine Expertin für Gesichtsrekonstruktion. Mit ihrer Hilfe bekam die Tote ihr Aussehen zurück.
Damit begannen die Ermittler um Wolfram Trenn die Recherche im Gesichtserkennungssystem der Polizei. „Es gab ein paar Ähnlichkeitstreffer“, erzählt der Kriminalist. Aber beim anschließenden Vergleich der Fingerabdrücke und der DNA zerstob auch diese Hoffnung.
Die Tote stammt wohl aus Rumänien
Die Ermittler ließen nichts unversucht. Zweimal entschlossen sie sich, beim rechtsmedizinischen Institut in München eine Isotopenanalyse durchführen zu lassen. Bei der Untersuchung wird anhand von Knochen, Haaren, Zähnen und Fingernägeln festgestellt, wo und wie ein Mensch aufgewachsen ist und wie er sich in den letzten Jahren ernährt hat.
„Im März 2006, als die Methode noch relativ neu war, fanden die Experten heraus, dass sich die Frau im Kindes- und Jugendalter im Einflussbereich von rumänischem Umweltblei aufgehalten haben muss“, zitiert Trenn aus dem Gutachten. Sie könnte in Rumänien oder in grenznahen Gebieten des ehemaligen Jugoslawien gelebt haben.
„Mit diesem Ergebnis haben wir noch 2006 eine Öffentlichkeitsfahndung in den Balkanländern veranlasst und uns mit einem Rechtshilfeersuchen an Rumänien gewandt“, erzählt der Kriminalist. Doch es kamen keine Hinweise, die den Mordermittlern aus Brandenburg weiterhalfen. Sechs Jahre später, die Isotopenanalyse war ausgereifter geworden, wandte sich Trenn noch einmal an die Experten in München.
Wie erwartet, gab es ein genaueres Ergebnis. „Wir können sagen, dass die Frau in Rumänien, Jugoslawien oder Griechenland geboren wurde. Alles spricht zudem dafür, dass sie sich in den letzten drei Jahren ihres Lebens in Deutschland oder Italien aufgehalten hat“, sagt Trenn. Er habe den Balkankrieg im Kopf gehabt, als er nun über Interpol die DNA der Toten auch durch die Datenbank zur Identifizierung vermisster Personen aus Kriegsgebieten in Den Haag laufen ließ. Ergebnis: negativ.
Mittlerweile steht die Tote aus dem Bugsinsee weltweit in der Fahndung. „Natürlich haben wir uns Gedanken gemacht, wer die Tote gewesen sein könnte“, sagt Trenn. Er nennt eine Version: So könnte es sich bei der Unbekannten um eine illegal in Deutschland lebende ausländische Prostituierte gehandelt haben. Ermittlungen im Rotlichtmilieu ergaben, dass es offiziell keine Prostituierte aus dem Landkreis Barnim gibt, die vermisst wird. Vielleicht, sagt Trenn, sei die Frau aber auch eine Geliebte gewesen.

Hundehaare im Seesack identifiziert
Es gibt einen neuen Ermittlungsansatz in dem Fall – Tierhaare, die im Seesack gefunden wurden. Spezialisten des Bundeskriminalamtes haben sie als Hundehaare identifiziert. „Vielleicht kommen wir damit weiter“, sagt der Mordermittler, ohne weiter darauf eingehen zu wollen.
Wolfhard Trenn sagt, der Täter habe es den Ermittlern nicht leicht gemacht. „Das Medium Wasser erschwert die Identifizierung eines Toten unwahrscheinlich.“ Nun hoffen die Fahnder in Eberswalde auf einen Zeugen, der die Frau nach so vielen Jahren doch noch auf den Bildern wiedererkennt.
„Wenn wir die Identität des Opfers nicht feststellen können, haben wir so gut wie keine Chance, den Fall zu klären“, sagt der Mordermittler, bevor der die Akte, die vor ihm liegt, schließt. Trenn will diesen Fall unbedingt aufklären. Ihn bewegt vor allem eine Frage: „Warum wird diese Frau nicht vermisst? Warum fällt niemandem auf, dass sie seit 19 Jahren nicht mehr da ist?“