Senat vernebelt Heimskandal: Berliner Behörden ignorieren Fehlunterbringung psychisch Kranker
Susanne Bertram* liegt auch heute wieder die meisten Stunden des Tages in ihrem hellbraunen Holzbett, teilnahmslos und einsam. Würde sie aus ihrem Fenster schauen, sähe sie sattgrüne Laubbäume. Aber die 44-Jährige bleibt apathisch im Bett. Denn fragwürdig hoch dosierte Medikamente stellen sie ruhig. Dabei müsste eine psychisch Kranke in ihrem Alter laut Gesetz „wiedereingegliedert“ werden, wie es in der Amtssprache heißt. Doch statt ertüchtigt und auf ein besseres Leben vorbereitet, wird sie hier, im Pflegeheim Agaplesion Bethanien in der Radelandstraße in Spandau, gepflegt.
Dabei regeln Pflege und Wiedereingliederung zwei unterschiedliche Gesetzbücher. Nicht vergleichbar – urteilt der Senat für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung. Trotzdem pflegen Susanne Bertram Hilfskräfte in einem Heim für Alte und Demente. Die Senatsverwaltung ergreift seit Jahren keinerlei Initiative, Plätze für eine „geschlossene Unterbringung“ auch in einer Einrichtung der „Wiedereingliederung“ zu schaffen. Doch Gerichte ordnen solche Unterbringungen nach Paragraf 1906, Bürgerliches Gesetzbuch, an. Dieser schwerwiegende Eingriff soll auch Susanne Bertram vor sich selbst schützen, denn es besteht die Gefahr, dass sie sich das Leben nimmt.
Aufgrund dieser mangelhaften Versorgung bleibt für Betroffene nur die Alternative, in ein anderes Bundesland zu ziehen. Oder in ein Pflegeheim gesteckt zu werden. Dieser Missstand brachte die 44-Jährige vor fünf Jahren in das Pflegeheim Agaplesion Bethanien. Friedlich zwitschern hier am Stadtrand die Vögel.
Mit Schizophrenie unter geistig Behinderten
Susanne Bertram liegt nicht nur in der falschen Einrichtung, sondern auch in der falschen Abteilung. Der Heimbetreiber brachte sie bei den geistig Behinderten unter, obwohl bei ihr laut Charité „keine Intelligenzminderung“ besteht. Doch für geistig Behinderte gibt es mehr Geld.
Eine Rechnung dokumentiert einen Zuschlag von 46 Euro täglich. Hochgerechnet würde dies bei ihr in fünf Jahren mehr als 82.000 Euro bedeuten. Dabei ist Susanne Bertram nicht geistig behindert, sie leidet an Schizophrenie.
Vor einem Monat dokumentierte die Berliner Zeitung diesen Pflegeskandal. Die Behörde müsste tätig werden. Doch auf Nachfragen, wieso der Senat den Missstand nicht behebe, wirft der Sprecher der Senatsverwaltung dem Reporter vor, er habe sich vor den Karren der Mutter spannen lassen.
Tatsächlich liegen dem Senat Dokumente vor, die belegen, dass keine geistige Behinderung besteht. Die Behörde wie auch der Psychiatriekoordinator Thomas Götz wissen, dass eine jüngere psychisch Kranke nicht in Pflegeheime gehört.
Der Behörde ist das eigene Versagen bewusst
Gerade weil dies so ist, müssen die Kranken an den Steuerungsgremien vorbeigeschleust werden, die eigentlich die Wiedereingliederung planen. Wegen dieser undurchsichtigen Strukturen kann der Senat nicht einmal mitteilen, wie viele junge psychisch Kranke auf solchen Irrfahrten in Pflegeheimen landen und vor sich hindämmern. Es sind sehr viele.
Der Behörde ist das eigene Versagen bewusst, wie ein Brief der Senatsverwaltung vom 2. Dezember 2014 an die Bezirksstadträte belegt. Darin beklagt der Senat, dass selbst die „Zahl der psychisch Kranken, die in Pflegeeinrichtungen leben, gestiegen ist. Darunter befinden sich vermehrt auch jüngere Menschen.“ Die Gründe sieht der Senat darin, „dass das Steuerungsgremium Psychiatrie derzeit nicht oder zu wenig in die Entscheidung für eine Betreuung in einer Pflegeeinrichtung“ eingebunden werde.
Weil dies keine richtige Behandlung ermöglicht, solle die Kostenübernahme bei Pflegeheimen alle zwei Jahre geprüft und erneut begutachtet werden. Zur „Sicherstellung einer zukünftig adäquaten Betreuung von jüngeren psychisch kranken Menschen“, wie es heißt. Mehr passierte nicht. Bezirke und Senat beließen es bei der Bekundung einer „konstruktiven Zusammenarbeit“.
„Eindeutig fehlplatziert“
Allein diese Erkenntnis wäre ein Grund, um im Fall Bertram tätig zu werden. Die bestehende Fehlbehandlung hängt mit anderen Personal- und Stellenschlüsseln zusammen. Das sieht auch Bernd Gander so. Er arbeitet seit Jahren für die Pinel Gesellschaft, eine gemeinnützige Einrichtung, die auf psychisch Kranke spezialisiert ist. Er sagt: „Die Versorgung in einer Pflegeeinrichtung ist schlechter. Psychisch Kranke sind in einer Pflegeeinrichtung eindeutig fehlplatziert.“
Ist Susanne Bertram ein Einzelfall?
„Ich habe es immer wieder erlebt, dass junge Menschen in solchen Einrichtungen landen. Menschen, die keiner haben will, oder weil die Kliniken sie dort schneller unterbringen konnten.“
Wieso ist die Behandlung schlechter?
„Die Grundpflege erledigen Hilfskräfte und die Behandlungspflege examinierte Pflegekräfte. Das meiste ist Grundpflege. Die wissen über psychische Erkrankungen nicht sehr viel. Schizophrene brauchen nicht primär Pflege, sondern ganz andere Unterstützung.“
Pflegepersonal zu wenig geschult
So steht es auch im letzten Bericht der Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie in Berlin. Dort wird bemängelt, „dass Pflegeheime oder -dienste nicht im Umgang mit Menschen mit psychiatrischen Diagnosen qualifiziert“ seien und entsprechendes Fachwissen beim Pflegepersonal fehle. Pfleger und Pflegerinnen seien nur im Umgang mit Demenz, aber nicht mit Schizophrenie geschult.
Wer Susanne Bertram auf ihrer Station im Pflegeheim Agaplesion besucht, sieht schwerst geistig Behinderte im Gang und sehr alte Menschen, die von Pflegern versorgt werden müssen. Hier sind einfache Dinge gefragt wie etwa Hilfen bei der Toilette. Kann in diesem Umfeld eine Besserung gelingen? Der Pressesprecher des Senats schreibt: „Anders als von ihrer Mutter geschildert, hat sich der Allgemeinzustand der Patientin, seit sie in der Einrichtung lebt, sehr wohl stabilisiert.“
Bertrams Zustand wurde im Heim immer schlechter
Warum sollte die Mutter lügen? Und warum sollte die ehemalige Psychiaterin etwas erfinden? Auch sie bestätigt den seelischen und körperlichen Verfall. Der Senat hält vermutlich auch die Entwicklungsberichte für gefälscht. Sie bestätigen, dass Susanne Bertram früher gerne Ausflüge unternahm und nicht hoffnungslos apathisch im Bett lag. Selbst das Pflegeheim bestätigt indirekt die Verschlechterung.
Das lässt sich in einem psychiatrischen Gutachten nachlesen, das für die geschlossene Unterbringung erstellt werden muss. Im Januar 2014 teilt die stellvertretende Wohnetagenleiterin des Pflegeheims dem Gutachter mit, dass Susanne Bertram „seit August letzten Jahres keinerlei Wünsche mehr äußere, das Haus oder die Station zu verlassen ... früher sei die Situation anders gewesen, da habe sie nach draußen gedrängt“.
Je länger die Behörde Belege als Verschwörung abtut, desto drastischere Folgen hat dies für Susanne Bertram. Im März empfahlen unabhängige Fachärzte schriftlich eine „Umstellung der Medikation“, weil „die verordnete Dosierung sicherlich überdurchschnittlich hoch“ sei, so der Oberarzt. Im Heim verschreibt ein externer Psychiater die Psychopharmaka. Aus Protokollen seiner Besuche geht hervor: Manchmal fanden wochenlang keine Untersuchungen statt. Auch das weiß die Senatsverwaltung. Doch sie verlässt sich auf Aussagen des Heims und des Sozialpsychiatrischen Dienstes und verweist auf den gesetzlichen Betreuer. Jene Parteien, die gemeinsam mit dem Senat diesen Skandal verursachten.
Langeweile, Bevormundung, Gängelung
Zum Beispiel der Sozialpsychiatrische Dienst in Spandau. Er kooperiert seit Jahren mit Agaplesion. Im Juli 2014 berichtet der zuständige Facharzt von einer „Verbesserung des Gesamtzustandes“. Susanne Bertram sei „durch das Milieu der Station“ – der Abteilung für geistig Behinderte – „angekommen“, schreibt er. Dies bewirke „größere Zufriedenheit der Betroffenen und die Besserung ihres psychischen Zustandes“. Doch stimmt das? Unabhängige Ärzte berichten im April 2017: „Die Pat. selbst beklagt Langeweile und fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten im Pflegeheim einerseits und eine Bevormundung und Gängelung andererseits.“
Der Berufsbetreuer, auf den der Senat verweist, ist mehrfach telefonisch nicht zu erreichen. Ein Bürokollege richtet aus, der Betreuer werde sich ohnehin nicht äußern. Ein Anwalt von Luise Bertram*, der Mutter der Patientin, teilt mit, der Betreuer habe wegen dieser Recherchen mit juristischen Konsequenzen gedroht.
Der Sozialpsychiatrische Dienst, das Gesundheitsamt Spandau, der Senat, der Berufsbetreuer und Agaplesion berauben Susanne Bertram ihrer Chance zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft.
So zynisch es klingen mag: Das Heim hat kein Interesse an einer Veränderung. Denn Agaplesion verdient an Menschen wie Susanne Bertram monatlich bis zu 4000 Euro.
Für Berufsbetreuer ist das ebenfalls oft ein reines Geschäft. Manche verwalten das Leben von 140 Menschen. Eine kriminologische Studie der Deutschen Hochschule der Polizei von 2014 analysiert die teils kriminellen Strukturen dieser Branche.
Enge Beziehungen
Und auch Behörden und Träger verbindet eine ungute Nähe. Das zeigt sich zum Beispiel an der „Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft Spandau“. Sie übernimmt im Bezirk „Koordinations- und Planungsaufgaben und die Fachberatung der politischen Gremien“. Sie ist von den zuständigen Behörden „bei der Wahrnehmung des Sicherstellungsauftrages zu hören“. Laut Geschäftsordnung berät sie den Bezirksrat und den Psychiatriekoordinator bei der Bedarfsplanung. Und bei der „Verteilung der finanziellen Ressourcen“. Ganz oben auf der Liste der Teilnehmer steht: „Agaplesion Bethanien Diakonie, Haus Radeland“.
Die engen Verbindungen mögen fachlich begründet sein, doch Agaplesion ist kein gemeinnütziger Verein, der sich dem Guten verschrieben hat, sondern nach eigenen Angaben der größte christliche Gesundheitskonzern in Deutschland. Könnte in der Baubranche Hochtief über die „Verteilung der finanziellen Ressourcen“ des Staates mitreden, wäre dies eine Geschichte wert.
Heimaufsicht kontrolliert Standards
Wer den Senat fragt, welche Sicherheitsstandards Pflegeheime erfüllen müssen, die in die Marktlücke der „geschlossenen Unterbringung“ schlüpfen dürfen, staunt. Nach Recherchen der Berliner Zeitung existieren überhaupt keine Kriterien, was Einrichtungen vorhalten müssen, um Menschen vor sich selbst zu schützen. Und dies beim weitreichendsten Eingriff des Staates gegenüber einem Menschen. Es würden mit den Einrichtungen „Konzepte“ erarbeitet, teilt der Sprecher erst nach mehrfacher Anfrage mit. Ansonsten existiert „keine gesonderte Vereinbarung mit Pflegeeinrichtungen für eine Unterbringung nach § 1906 BGB“.
Zuständig für eine Prüfung ist die Heimaufsicht. Sie bestätigt, dass sie Kriterien für diese Unterbringung bei ihren Besuchen auch nicht kontrolliere. Denn es gibt „keine ordnungsrechtlichen Standards für geschützte/segregative Bereiche“.
Suizidgefährdete bei offenem Fenster
Und damit hört der Sumpf nicht auf. So ordnete das Amtsgericht Spandau die „geschlossene Unterbringung“ Susanne Bertrams wegen ihrer Suizidgefährdung an. Es bestehe die Gefahr, so die Richter, „dass sie sich selbst töten oder einen erheblichen gesundheitlichen Schaden“ zufügen könnte.
Doch als der Reporter der Berliner Zeitung die Suizidgefährdete in der Einrichtung besucht, steht im Nebenzimmer das Fenster offen. Und das, obwohl sie laut Berichten eines Arztes 2016 mitteilte, sie „sei zum Fenster im 2. Stock gegangen und habe von dort aus springen wollen“.
Auf die Frage, ob es die Heimaufsicht beanstanden würde, wenn bei Agaplesion in der Radelandstraße trotz suizidgefährdeter Bewohner die Fenster offen stehen, antwortet die Behörde trocken, „dass diese Einrichtung keine Personen aufnimmt, bei denen eine akute oder noch nicht behandelte Suizidgefährdung besteht“. Susanne Bertram dürfte also hier gar nicht untergebracht sein. Das Versagen der obersten Behörde – des Senats für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung – ist komplett. Denn die Behörde weiß: Einen Suizid gab es bereits, die ehemalige Zimmernachbarin von Susanne Bertram starb. Sechs andere Suizidversuche gab es zudem in der Einrichtung.
Eine besondere Kontrolle geht von der Heimaufsicht nicht aus. Denn meistens kündigt sie ihre Besuche an. „Eine unangemeldete Prüfung bringt in der Regel sehr viel Unruhe in die Einrichtungen insbesondere für die Bewohner/innen“, teilt die Behörde mit.
Jahrelang Briefe schreiben
Auf diese angekündigten Besuche wies ein Leser hin, nachdem die Berliner Zeitung den Fall Bertram Ende Mai publik machte. Er schilderte in mehreren Gesprächen ausführlich den Fall einer Angehörigen, die mehrere Jahre im Pflegeheim Agaplesion in der Radelandstraße untergebracht war. Diese Angehörige sei durch gravierende Fehlbehandlung fast gestorben, sagt der Leser. Nur durch seine guten Kontakte zu Richtern und sein strategisches Geschick gelang es ihm, die Einrichtung zu wechseln.
Die ehemalige Erzieherin Luise Bertram kennt keine wichtigen Menschen. Sie schreibt ihnen allerdings seit Jahren erfolglos Briefe, um ihrer Tochter ein würdiges Leben und eine Zukunft zu ermöglichen.
* Die Namen sind geändert.