Arbeit mit „Strandortvorteil“: Wie Rostock zum Zentrum für Start-ups werden soll

Ein Netzwerk junger Unternehmer glaubt, dass der Nordosten bald zum Zentrum für Gründer wird. Teil 4 unserer Serie über die DDR-Bezirkshauptstädte.

Der Stadthafen in Rostock
Der Stadthafen in RostockZoonar/imago

Wenn Jakob Heller erzählt, warum er ein Start-up gegründet hat, beginnt er bei seiner Familie. Die Kinder hatten schon Kitaplätze, sagt er. Sie wollten in der Stadt bleiben, in der sie lebten, und in der Heller auch selbst aufgewachsen ist. Aber er wollte auch als Ingenieur weiterkommen, mit Künstlicher Intelligenz arbeiten, KI, die ihn seit langem fasziniert. Er habe Jobangebote aus anderen Städten gehabt, sagt er, es seien interessante Sachen dabei gewesen. Aber kein Angebot aus Rostock.

Seinem Zwillingsbruder und einem Kindheitsfreund sei es ähnlich gegangen. Jakob Heller arbeitete in einem Sonderforschungsbereich für die Krankheit Parkinson, sein Zwillingsbruder promovierte in Beschleunigungsphysik, der Kindheitsfreund fuhr als Ingenieur auf Containerschiffen um die Welt. Die Brüder wollten in Rostock bleiben, der Freund nach Rostock zurück. Sie hätten dann zu dritt einen Beschluss gefasst: „Wir gründen jetzt den Arbeitgeber, den wir gern hätten.“

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Es ist drei Jahre her, Heller erzählt in einem Konferenzraum am Rand der Rostocker Altstadt davon. Vom Fenster aus kann man auf die Warnow schauen, über der an diesem Morgen ein kräftiger Ostseewind bläst, an einer Wand hängt ein riesiger Bildschirm für Videokonferenzen. Jakob Heller hat es geschafft, er ist sein eigener Chef geworden, sein Start-up Deeeper Technology wertet große Mengen an Geodaten mithilfe von KI aus. Die drei Gründer haben elf Mitarbeiter eingestellt. Und nach der Arbeit kann Heller mit seinen Kindern und dem Hund im Hütter Wohld spazieren gehen, einem Naturschutzgebiet vor der Stadt, das sie lieben.

Der Konferenzraum gehört nicht zu Deeeper, das Start-up sitzt in einem Technologiezentrum mit schnellem Internet. Heller ist hergekommen, um sich mit Carolin Rödiger von Herofounders zu treffen, einem Netzwerk, das ihn unterstützt hat. Und das große Pläne für Rostock und ganz Mecklenburg-Vorpommern hat: Der Nordosten soll ein Zentrum der Start-up-Szene werden. Mit Rostock als Zentrale.

Jakob Heller
Jakob Hellerdeeeper

Dreißig neue Start-ups wollen Rödiger und ihre Kollegen in den nächsten drei Jahren gründen helfen. Zehn im Jahr. Sie nennen sich „Herofounders – The Company Building Network“. Mecklenburg-Vorpommern soll in die Top Fünf in Deutschland aufsteigen, was die Gründung von Start-ups angeht, sagt Carolin Rödiger.

„Im Moment“, fügt sie an, „sind wir auf Platz 16.“ Ganz hinten. Von dort aus, so sieht sie es, kann es ja nur nach vorn gehen.

Ihre Argumente für das Gründen im Nordosten beginnen mit dem Sommerurlaub. Mecklenburg-Vorpommern ist Deutschlands beliebtestes Urlaubsziel. „Die Leute kommen grundsätzlich sehr gern her“, sagt Rödiger. Bei Herofounders benutzen sie das Wort „Strandortvorteil“, wenn sie erklären wollen, was die Ostseeküste attraktiv für Start-ups machen könnte. 

In anderen Ländern sind Städte, die direkt am Meer liegen, längst hoch begehrt als Wohn- und Arbeitsorte. Vom Rostocker Hauptbahnhof kann man mit der S-Bahn in zwanzig Minuten nach Warnemünde fahren, für einen Feierabendspaziergang am Strand. Man kann auch einen IC nach Berlin nehmen oder einen ICE nach Hamburg, beide Städte erreicht man in knapp zwei Stunden.

Es sind aber nicht nur die Nähe zum Strand und die gute Anbindung, die Carolin Rödiger als Argumente hat. Sondern etwa auch 14 Studiengänge in Mecklenburg-Vorpommern „mit Bezug zu Künstlicher Intelligenz“. Bisher wandern noch 23 Prozent der Studienabgänger aller Fächer aus dem Nordosten ab. Auch das sei etwas, was man ändern könne.

Mecklenburg-Vorpommern ist eins der Bundesländer mit der ältesten Bevölkerung in Deutschland. 1990 war es das mit der jüngsten. Rostock, bis Ende der DDR noch Bezirksstadt, war eine junge Stadt.

Caroline Rödiger
Caroline Rödigerherofounders

In der DDR war sie gewachsen und gewachsen, vor allem, nachdem sie 1952 Bezirksstadt geworden war. Der Ostseebezirk, der von hier aus verwaltet wurde, erstreckte sich über die gesamte Küste der DDR. In der Stadt Rostock zogen das Dieselmotorenwerk, das Fischkombinat, der neue Überseehafen, in einem Sumpfgebiet errichtet, junge Leute an. In neun neuen Großsiedlungen entstanden mehr als 50.000 Wohnungen für die neuen Rostocker und ihre Kinder, dazu Kindergärten, Schulen, Kaufhallen. 1971 hatte Rostock mehr als 200.000 Einwohner, mehr als doppelt so viele wie nach Ende des Zweiten Weltkriegs, 1988 waren es schon 254.000.

Dann fiel die Mauer, verschwanden die Werke, die Werften entließen massenhaft Arbeiter. Mehr als 50.000 Menschen verließen Rostock, die Geburtenrate stürzte ab wie überall im Osten. 2001 fiel die Einwohnerzahl der Stadt unter 200.000. 

Es dauerte, bis sich die Stadt erholte, aber inzwischen leben wieder etwa 208.000 Menschen in Rostock. Es gibt eine neue Wohnungsbauoffensive, die Stadt soll innen und außen wachsen, wie die Ostseezeitung gerade groß berichtete. Überall wird nach Bauland gesucht, mehrere Kleingartenanlagen könnten deshalb weichen müssen. 

Rostock: toller Ort für einen Urlaub und zum Firmengründen

Carolin Rödiger glaubt, dass genau jetzt, nach der Pandemie, der Zeitpunkt gekommen sein könnte, an dem mehr Leute in Deutschland entdecken, dass Rostock und die Ostseeküste nicht nur tolle Orte für einen Urlaub sind, sondern auch zum Firmengründen. Oder erst einmal zum Arbeiten, „remote“, sagt sie. Also von einem Ort aus, der nicht das eigene Büro ist und für manche Angestellte in einer anderen Stadt liegen darf. Seit der Pandemie haben mehr Menschen diese Freiheit – oder nehmen sie sich, weil sich verschoben hat, was ihnen wichtig ist im Leben.

Einer der Herofounders hat mitten in der Pandemie einen Coworking Space auf Rügen eröffnet. Solche Orte seien „ein total unterschätztes Instrument, um Impulse in Regionen zu holen“, erklärt Carolin Rödiger. Wer einmal an der Küste gearbeitet hat, überlegt sich vielleicht etwas, um bleiben zu können.

Rödiger selbst gehört zu einer Gruppe von Menschen, bei denen es weniger Überzeugungsarbeit braucht. Zu den Rückkehrern. Nach dem Abi zog sie von Waren an der Müritz nach Stralsund, nach dem Studium nach London, vor neun Jahren kam sie nach Rostock. Sie habe nicht mehr in einer anonymen Metropole leben wollen, sondern in einer Großstadt, von der aus man schnell in der Natur ist. Und sie wollte nach Hause, zu den Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, sie vermisste die nach außen raue, nach innen herzliche Art, sagt sie. Rostock war die logische Wahl. Man sei schnell in Skandinavien, in der Stadt seien die Wege kurz. Und man könne sich an der Ostsee jederzeit den Kopf vom Wind frei pusten lassen.

Nur die Wohnungssuche sei leider inzwischen kompliziert geworden. Carolin Rödiger ist 35 und hat in Rostock eine Familie gegründet, sie würden gern umziehen. Sie suche seit Wochen, drei Zimmer, sagt sie.

Jakob Heller nickt, „aber so schlimm wie in Berlin ist es noch nicht“, sagt er. Noch macht der Wohnungsmarkt den „Strandortvorteil“ nicht zunichte. Heller hat sogar einen Düsseldorfer für sein Start-up Deeeper anwerben können. Nach Rostock ziehen, in Rostock bleiben können – im Wettkampf um Talente sei das ein gutes Argument.

Um zu erklären, was Deeeper macht, ruft er eine Art Landkarte auf seinem Rechner auf. Von oben kann man sich immer näher an ein Gebiet heranzoomen, bald tauchen zusätzliche Informationen auf, etwa darüber, ob Häuser eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach haben. 

Als Heller mit seinem Bruder und dem Freund eine Firma gründen wollte, sei ihnen nur klar gewesen, dass sie mit KI arbeiten wollten. Dann kamen sie auf die Geodaten. Wie wäre es, wenn man ganz Mecklenburg-Vorpommern von oben erfassen könnte? Genau erfassen, mit allen bekannten Daten? Inzwischen kaufen sie Luft- und Satellitenbilder aus ganz Europa, um sie auszuwerten. In einer Präzision, die bisher niemand sonst beherrsche.

Heller ist 1990 geboren, im Jahr der Wiedervereinigung. Er wuchs im Umland von Rostock auf, seine Eltern arbeiteten an der Universität. Er fühle sich der Gegend, der Natur und den Menschen verbunden, einer Mentalität, die er so beschreibt: „Wir helfen einander, arbeiten mit dem, was da ist, Bescheidenheit wird sehr großgeschrieben.“ Als viele seiner Schulfreunde nach dem Abi wegzogen, nach Berlin oder Hamburg, blieb er. Inzwischen kenne auch er viele Rückkehrer. Die Leute kämen wieder, wenn sie Kinder bekommen wollen.

Ein Konferenzraum bei projectbay
Ein Konferenzraum bei projectbayprojectbay

„Die Lebensqualität, gerade was die Natur angeht, ist super hoch“, sagt er. Am Wochenende fahre er auch mal nach Berlin, für ein Kulturprogramm. Da sei das Angebot in Rostock noch ausbaufähig, findet er. Heller kann von seinem Start-up und KI schwärmen, aber er sagt auch: „Arbeit ist nicht der Mittelpunkt des Lebens.“ Wenn er morgens ins Büro komme, wolle er, dass seine Mitarbeiter glücklich sind.

Sebastian Megow ist in den Konferenzraum mit Warnow-Blick gekommen, auf dem großen Bildschirm hat sich Hannes Trettin zugeschaltet. Megow stammt wie Carolin Rödiger aus Waren und lebt seit mehr als zwanzig Jahren in Rostock. Trettin kommt von der Insel Rügen, er hat dort die Project Bay gegründet, den Ort für gemeinsames Arbeiten am Meer. Es seien schon Leute aus mehr als 90 Nationen da gewesen, erzählt er.

Man kann dort auch übernachten, eine „Workation“ verbringen, eine Art Arbeitsurlaub für Leute, die mit Projekten beschäftigt sind, an denen sie überall weitermachen können. Außerdem gibt es einen „Makerspace“, einen Raum mit Maschinen wie 3D-Druckern für die gemeinsame Nutzung. Ein Sanitärbetrieb von der Insel könne dort zum Beispiel Ersatzteile drucken lassen, die Technik ausprobieren. Außerdem hat Trettin auf Rügen die Founders Bay gegründet, einen sogenannten Accelerator, der das Wachstum von Start-ups befördern soll und in einem Jahr bereits 15 Teams ins Programm aufgenommen hat. Trettin hat sich an diesem Tag allerdings nicht auf Rügen in die Besprechung eingewählt, sondern in Berlin.

Hannes Trettin
Hannes Trettinherofounders

Die beiden Männer gehören auch zu den Herofounders. Sie wollen erklären, warum sie glauben, dass Mecklenburg-Vorpommern doch noch ein Land der Gründer werden könnte. Und was Rostock damit zu tun hat.

Sebastian Megow sagt, die Abwanderung der Nachwendezeit habe eine Spirale in Gang gesetzt. In den Schulen sei den Jugendlichen gesagt worden, dass auch sie woanders hingehen müssen, um einen sicheren Job zu finden. Es fehlte „die Vermittlung von Mut“, es fehlten Vorbilder. Doch viele von denen, die noch vor 15 oder 20 Jahren die Heimat verlassen haben, wollten nun zurück. Die Rückkehrer, immer wieder geht es an diesem Tag um sie. Er habe das Gefühl, dass eine neue Spirale in Gang komme, eine Aufwärtsspirale. „Es hat eine starke Kraft, wenn Menschen sagen: Ich will in meiner Heimat etwas machen.“

Wie ein Stadtteil von Berlin sein könnte, nur eben am Wasser

Hannes Trettin erzählt, dass er selbst mit 15 schon von Rügen wegwollte, weil er weder in der Gastronomie noch im Tourismus arbeiten wollte. Er zog nach Süddeutschland, „dem Geld hinterher“, nun wolle er dafür sorgen, dass die nächste Generation mehr Möglichkeiten zu Hause hat. Und wenn man nicht auf Rügen bleiben könne, dann vielleicht in Rostock, das wie ein Stadtteil von Berlin sein könnte, „nur eben am Wasser“. Und wo man nicht nur von Work-Life-Balance reden, sondern wirklich ausgeglichen leben könne.

Rostock sei die eigentliche Hauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern. Die größte Stadt, mit dem bekannten Fußballverein, der größten Anziehungskraft. Eine gute Ausgangsbasis für Erfolgsgeschichten, findet Sebastian Megow. Zu DDR-Zeiten sei hier das Tor zu Welt gewesen, das müsse man sich ein Stück weit zurückholen. „Wir haben keine Werften und keine Industrie mehr, aber wir haben die Universitäten“, sagt er.

Jakob Heller von Deeeper erzählt, dass einige Leute, die er einstellen wollte, ihm mit einer neuen Begründung abgesagt hätten. Sie wollen selber etwas gründen. In Rostock.


Grafik: Mónica Rodríguez/Berliner Zeitung