Bunt statt grau: Magdeburg ist die Stadt des Neuen Bauens

Die Stadt an der Elbe bildet ein buntes Architektur-Panorama. Hier wurde erfunden, was in Berlin weitergeführt wurde. Teil 13 unserer Serie über die Bezirkshauptstädte der DDR.

1969 wurde die Hyparschale (vorn) als Messe- und Ausstellungszentrum nach den Plänen des Bauingenieurs Ulrich Müther errichtet. Im Hintergrund ist der berühmte Dom zu sehen.
1969 wurde die Hyparschale (vorn) als Messe- und Ausstellungszentrum nach den Plänen des Bauingenieurs Ulrich Müther errichtet. Im Hintergrund ist der berühmte Dom zu sehen.Klaus-Dietmar Gabbert/dpa

Vor 30 Jahren wollte man hier nicht unbedingt sein. Magdeburg oder Maagdeburg, wie Westler diese Stadt, die viele von ihnen höchstens vom Durchfahren kennen, nennen, war ein Sinnbild für Ödnis. Für breite Aufmarschstraßen, gesäumt von Häusern im „Zuckerbäcker-Stil“ (noch so ein Begriff, der erst nach der Wende Karriere machte), also Häusern, die – wie die Karl-Marx-Allee in Berlin – in den 1950er-Jahren in der Stalin-Zeit errichtet wurden.

Eine Schönheit ist die Stadt noch immer nicht. Kriegszerstörung und sozialistischer Wiederaufbau haben Magdeburg geprägt. Aber die Stadt ist schöner geworden. Und wer hinsieht, findet. Also schauen wir mal.

Zunächst einmal: Es gibt in Deutschland schlimmere Bahnhofsvorplätze. Wer hier früher mit dem Zug ankam, stand vor einer leeren Fläche, über die der Wind fegte. Jetzt ist der Raum mit mächtigen Bauten verdichtet. Zwischen City Carré und Landesstraßenbaubehörde verläuft der Weg zu den eigentlichen Sehenswürdigkeiten. Es geht über den Breiten Weg, dessen üppige Barockfassaden nach den schweren Bombardements im Krieg nur noch auf Schwarz-Weiß-Bildern existieren und der heute ein Beispiel für sozialistische Plattenbaukunst ist.

Drei Häuser unter einem Dach

Und vorbei an der lachsrosafarbenen „Grünen Zitadelle“, die Friedensreich Hundertwassers letztes Projekt war, hin zum Domplatz. Dort sind wir verabredet mit Carmen Niebergall. Sie ist Stadtführerin und bietet seit vielen Jahren Architektur-Spaziergänge und Fahrradtouren zum Thema an. Die heute 67-Jährige, die damals noch Carmen Stange hieß, war in den 1990er-Jahren Abgeordnete der ersten freigewählten Volkskammer, dann Staatssekretärin für Frauen- und Gleichstellungsfragen des Landes Sachsen-Anhalt und danach für die CDU Abgeordnete des Landtages. Vor 19 Jahren gründete sie ihre Agentur „tourenreich – Architektur- und Kunstreisen Mitteldeutschland“.

Carmen Niebergall ist eine wandelnde Enzyklopädie Magdeburgs. „Hier kommt die gesamte Architekturgeschichte zusammen“, sagt sie über die Häuser, die den Domplatz an seinen vier Seiten begrenzen: das weithin sichtbare Wahrzeichen, der gotische Dom, dessen Grundstein 1209 von Erzbischof Albrecht gelegt wurde. Gegenüber der Landtag. Das vom preußischen Festungsbaumeister Cornelius Walrave geschaffene barocke Ensemble aus dem 18. Jahrhundert hat ein Dach, besteht aber aus vier Häusern. Das sieht man nur, wenn man es gesagt bekommt. Von Carmen Niebergall zum Beispiel.

Carmen Niebergall führt Interessierte durch die „Stadt des Neuen Bauens“. Die von Bruno Taut entworfene Siedlung Reform erhält derzeit ihre originalen Farben zurück.
Carmen Niebergall führt Interessierte durch die „Stadt des Neuen Bauens“. Die von Bruno Taut entworfene Siedlung Reform erhält derzeit ihre originalen Farben zurück.Andreas Kopietz/Berliner Zeitung

Das Bankgebäude der Nord LB, das ebenfalls den Platz begrenzt, findet der eine oder andere schön. Die Platten aus brasilianischem Quarz an der Fassade sind blau, aber in unterschiedlichen Tönen. Ihr Changieren soll das Changieren der Sandsteine des Doms aufnehmen und das Gegensätzliche, das miteinander harmoniert, darstellen. Kann man mögen – oder auch nicht.

Dass es den Dom noch gibt, ist eigentlich ein Wunder, denn Magdeburg wurde mehrmals zerstört. 1631 brannten Tillys Truppen die Stadt nieder, zwei Drittel der Bevölkerung kamen um. Am 16. Januar 1945 gab es den bis dahin schwersten Luftangriff durch britische Bomber. Am Ende waren 90 Prozent der Innenstadt zerstört.

Die Klosterkirche – eine der großen romanischen Kirchen in Deutschland

Der schwer beschädigte Dom blieb stehen, ebenso die nicht weit entfernte Klosterkirche aus dem 11. Jahrhundert, die heute zum Kunstmuseum der Stadt gehört. Die Kirche des Klosters Unser Lieben Frauen ist eine der großen romanischen Kirchen in Deutschland. „Das weiß man erst, seitdem bei der letzten Sanierung vor zwei Jahren die Putze untersucht wurden“, sagt die Direktorin des Kunstmuseums Magdeburg, Annegret Laabs.

Das frühgotische Kreuzrippengewölbe, das heute ihr Erscheinungsbild prägt, wurde um 1220 bis 1230 in den schon bestehenden romanischen Bau eingefügt. Die Kirche gilt als eines der besterhaltenen Baudenkmale der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum.

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Der Sandstein ist gereinigt, das 1945 zerstörte Chorgewölbe originalgetreu wiedererrichtet. Einige Steine sind mit der Patina der Jahrhunderte überzogen. „Es ist richtig, nicht alles zu neu zu machen“, sagt Annegret Laabs. „Historisches kann somit für die nächsten Generationen erkennbar bleiben.“

Max Uhlig gestaltete die Fenster der Johanneskirche

Restauriert ist auch der Kreuzgang des Klosters Unser Lieben Frauen, der jahrelang Baustelle war. Hier herrscht Stille. Die Geräusche der Stadt bleiben draußen. „Ich bin froh, dass wir der Stadt ein Stück ihrer Geschichte zurückgeben können“, sagt Annegret Laabs.

Magdeburg hat nicht nur die Klosterkirche und den weithin sichtbaren Dom, sondern auch eine Festungsanlage, die erst in den vergangenen Jahren freigelegt wurde. Wer sich die Zeit nimmt, kann bei einem Spaziergang oberhalb des Elbufers innerhalb weniger Minuten sechs Kirchen erkunden – von der Wallonerkirche, die mit dem Neubau eines Gemeindezentrums eine „Kirche in der Kirche“ enthält, bis zum Dom. Und wenn man schon unterwegs ist, sollte man sich in der Johanniskirche die Glasmalereien auf den 14 gotischen Fenstern anschauen, die von dem Dresdner Künstler Max Uhlig stammen. Sie wurden im September 2020 eingeweiht.

Dieses Haus an der Regierungsstraße ist ein Plattenbau.
Dieses Haus an der Regierungsstraße ist ein Plattenbau.Stephan Schulz/imago

Nicht schön sind die Plattenbauten in unmittelbarer Nähe der Johanniskirche. Aber sie gehören eben zur Stadtgeschichte und die Stadt weiß mit ihnen umzugehen. Bei einem der Wohnhäuser wurden mehrere Etagen abgetragen, sodass es jetzt von den goldenen Kugeln des Hundertwasser-Hauses überragt wird. Einem Wohnblock an der Regierungsstraße nahe dem Kloster ist nicht mehr anzusehen, wie hässlich er einmal war. Die Wohnungsbaugesellschaft ließ dort vor zehn Jahren wellenförmige Balkone montieren.

Zuckende Blitze auf blauem Grund in der Otto-Richter-Straße

In Magdeburg muss man nicht angestrengt suchen, um zu finden. Magdeburg verstand und versteht sich heute wieder als Reformstadt des Modernen Bauens – geprägt durch die Ideen des Bauhauses. Nach dem Ersten Weltkrieg herrschten Elend und Wohnungsnot. Oberbürgermeister Hermann Beims (1919–1931) wollte Wohnraum für alle schaffen – Wohnraum mit Anspruch auf Gesundheit, auf Wohlbefinden, auf Sonne, gute Luft und Grünanlagen. Damals entstand der Begriff „Stadt des Neuen Bauwillens“.

Tipps zur stadt
Magdeburg
Die Stadt hat eine 1200-jährige Geschichte vorzuweisen, wie etwa den Dom als erste gotische Kathedrale Deutschlands. Das Kunstmuseum der Stadt bietet in neuen Räumen eine internationale Sammlung: www.kunstmuseum-magdeburg.de. 2023 wird zum 1050. Mal der Todestag Ottos des Großen begangen. Dazu gibt es viele Veranstaltungen: www.deskaisersletztereise.de. Architektur-Führungen gibt es unter www.tourenreich.de

Beims machte 1921 Bruno Taut, einen Avantgardisten der Bauhaus-Bewegung, zum Stadtbaurat. Dieser erarbeitete einen Generalsiedlungsplan. Und prägte zusammen mit Carl Krayl das Stadtbild. In seinem „Aufruf zum farbigen Bauen“, der von anderen Fachleuten unterschrieben wurde, heißt es: „Wir unterzeichneten bekennen uns zur farbigen Architektur. Wir wollen keine farblosen Häuser mehr bauen und erbaut sehen und wollen durch dieses geschlossene Bekenntnis dem Bauherrn, dem Siedler, wieder Mut zur Farbenfreude am Innern und Äußeren des Hauses geben“, heißt es da. Farbe sei nicht teuer wie Dekoration mit Gesimsen und Plastiken. Farbe sei Lebensfreude. Etwa 50 Hausbesitzer folgten dem Aufruf und machten mit. Immer mehr Fassaden wurden bunt.

Vieles wurde durch die Weltkriegsbomben zerstört, etwa die farbig bemalten Häuser am Breiten Weg. Wie verrückt bunt die Häuser waren, das kann man heute wieder an den Fassaden in der Otto-Richter-Straße sehen, wo Carl Krayl unter anderem mit zuckenden Blitzen auf blauem Grund die „Blitzfassade“ schuf. Dies ist einer der vielen Orte, zu denen die Stadtführerin Carmen Niebergall die Interessierten auf ihren Fahrrad-Touren führt. „Viele Menschen wissen hier gar nicht, in welchem historischen Ambiente sie wohnen“, sagt sie. Die schrille Farbenpracht endet an der nächsten Kreuzung beziehungsweise im Jahr 1933, als es den Nationalsozialisten zu bunt wurde.

Reform – Vorläufer der Gartenstadt Falkenberg und der Hufeisensiedlung

Zu Bruno Tauts Prinzipien des Siedlungsbaus zählten einfache Gestaltung, intensive Farbgebung und klar gegliederte Anlagen. Der Mensch sollte im Mittelpunkt stehen. Entsprechend bunt ist es in der Gartenstadt-Siedlung Reform, die im Südwesten von Magdeburg ab 1911 als eines der ersten Siedlungsprojekte Tauts entstand. Carl Krayl sorgte wieder für Farbe und wohnte auch hier.

Taut verwirklicht nach seiner Zeit als Stadtbaudirektor ähnliche Ideen später in Berlin, etwa in der Gartenstadt Falkenberg in Altglienicke oder der Hufeisensiedlung in Britz. Seit Jahren werden die Genossenschaftshäuser der Gartenstadt Reform nach strengen Denkmalschutz-Vorgaben wieder hergerichtet.

In den 1920er-Jahren entstanden in Magdeburg sechs Siedlungen mit insgesamt 10.000 Wohnungen. Die Tourist-Information der Stadt am Breiten Weg 22 bietet zur Magdeburger Moderne eine Broschüre mit Empfehlungen für fünf verschiedene Routen an – Busrundfahrten, Fahrradtouren und Architekturspaziergänge. Und auch eine Wohnungsbesichtigung. Diese ist möglich in der Hermann-Beims-Siedlung im Westen der Stadt. Die Anlage an der Großen Diesdorfer Straße entstand zwischen 1924 und 1932 im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus.

Die Klosterkirche ist komplett restauriert.
Die Klosterkirche ist komplett restauriert.Andreas Kopietz/Berliner Zeitung

Die Siedlung mit 2000 Wohnungen zu günstigen Preisen war die größte Siedlung Magdeburgs in den 1920er-Jahren und wurde unter anderem von Johannes Göderitz entworfen, der nach dem Weggang von Bruno Taut 1924 die Verantwortung für die städtische Hochbauverwaltung übernahm. Die drei- bis viergeschossigen Bauten mit Flachdächern wurden als rechtwinklige Wohnhöfe angeordnet, die auf begrünte Innenhöfe und Vorgärten führen. „Dieser Siedlungsbau ist für Magdeburg absolut wertvoll und sehenswert“, sagt Carmen Niebergall.

Sie zieht einen Schlüssel aus ihrer Tasche. Er gehört zu einer der Wohnungen im Parterre. Niemand wohnt hier, es ist eine Museumswohnung mit Kohleofen und Grammophon. Die Räume haben grüne und blaue Wände, so wie einstmals. Es gibt fließendes Wasser aus der Wand und ein WC. Das war damals alles keine Selbstverständlichkeit.

„Magdeburg steht für den Aufbruch in die Moderne“

Wer in der Reformstadt des Modernen Bauens sucht, der findet auch. Zum Beispiel im Stadtpark Rotehorn auf der Elbinsel Großer Werder. Hier entstand 1927 die von Johannes Göderitz entworfene Stadthalle. Das rote Klinkergebäude ist momentan von Baugerüsten umgeben. Wer die Kondition hat, kann die 252 Stufen des 61 Meter hohen Albinmüller-Turms ersteigen und das Stadtpanorama mit der Elbe betrachten. Das ist seit 2006, nach der Sanierung des Turms, wieder möglich. So wie die Stadthalle wurde er 1927 als Krönung des Gesamtensembles zur Deutschen Theater-Ausstellung errichtet, entworfen vom Architekten Alwin Müller, Künstlername Albinmüller. „Magdeburg steht für den Aufbruch in die Moderne“, sagt Carmen Niebergall. „Und das nicht nur damals, sondern auch heute.“

Die von Carl Krayl entworfene Fassade in der Otto-Richter-Straße wurde wieder hergestellt, wie Carmen Niebergall an einem alten Foto zeigt. Auch die Fassaden der Nachbarhäuser sind knallbunt.
Die von Carl Krayl entworfene Fassade in der Otto-Richter-Straße wurde wieder hergestellt, wie Carmen Niebergall an einem alten Foto zeigt. Auch die Fassaden der Nachbarhäuser sind knallbunt.Andreas Kopietz

Große Industrieansiedlungen brachten Magdeburg viel Reichtum – hier gab es die Krupp-Gruson-Werke, und es gibt die Gruson-Gewächshäuser, die der Industrielle und Pflanzensammler Hermann Gruson (1821–1895) als botanischen Garten errichten ließ. Die Breite Straße war eine Prachtstraße mit Gründerzeithäusern. Kaum zu glauben, wenn man die Plattenbauten hier sieht. Wie es dort einmal aussah, lässt sich noch erahnen, wenn man die Prachtbauten an der Hegelstraße und am Hasselbachplatz anschaut.

Aus den Krupp-Gruson-Werken, wo Panzer hergestellt wurden, wurde nach 1945 das Schwermaschinenbau-Kombinat „Ernst Thälmann“ mit 30.000 Beschäftigten. Wo einst Verseilmaschinen für Kabel und Kräne hergestellt wurden, ist jetzt nur noch Wüste. Auf dem riesigen Gelände im Stadtteil Buckau stehen nur noch einige Skelette der Fabrikhallen. Sie sollen in die Wohnungen integriert werden, die hier gebaut werden. Zunächst wird hier das giftkontaminierte Erdreich metertief ausgetauscht.

Der Wissenschaftshafen: Historisches Flair und moderne Infrastruktur

Seine eigentliche Funktion verloren hat auch der alte Handelshafen an der Elbe, der sich fußläufig nördlich des Stadtzentrums befindet. Hier werden jetzt Unternehmen und Wissenschaftseinrichtungen angesiedelt. Neben der Otto-von-Guericke-Universität, dem Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb- und Automatisierung, dem Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme liegt auch die Experimentelle Fabrik, entworfen von Sauerbruch und Hutton, die auch in der Wissenschaftsstadt Berlin-Adlershof ein Gebäude kreiert haben.

Der Wissenschaftshafen soll nach Darstellung der Stadtverwaltung historisches Flair verbinden mit modernster Infrastruktur. Und er soll ideale Forschungs- und Arbeitsbedingungen für Wissenschaftler, Gründer und innovative Unternehmen schaffen.

Das alles klingt nach großen Plänen. Und danach, dass man mit dem ICE nicht nur vorbeirauschen sollte.