Raus aus der Opferrolle: Wie Gera sich eine bessere Zukunft baut
Gera will eine effiziente und lebenswürdige Stadt werden: eine moderne Smart City. Dafür kann man auch mal die Verwaltung loben. Teil 3 unserer Serie über die DDR-Bezirkshauptstädte.

Die Sonne scheint und mittelscharf schmeckt der Senf, in einer Stunde kommt die Regionalbahn – schön war’s in Gera. Blöd nur, aber dafür kann die Stadt ja nichts, dass der Akku leer ist. Die Handybilder, die ich während der Stadtführung geschossen habe, kann ich mir so nicht anschauen. Nicht das Renaissancetheater oder die barocke Orangerie, nicht das Stadtschloss Osterstein, den Hofwiesenpark oder die Villa Jahr am Ufer der Weißen Elster, nicht den historischen Marktplatz, wo die ersten Biere des Tages schäumen und die Rostbratwurst auch hält, was der „Grillteufel“ verspricht: „höllisch gut“.
Und das ist jetzt sie also, die Gelegenheit, noch schnell vor der Abfahrt auszuprobieren, wie smart Gera bereits geworden ist. Deswegen bin ich ja hier. Ich wollte wissen, ob die Zukunft begonnen hat. Das digitale Zeitalter. Das große Datensammeln. Das bessere Leben in Ostthüringen. Mit ein bisschen Gratisstrom, wenn man ihn braucht.
Die DDR-Bezirkshauptstädte: Hier geht es zur interaktiven Karte!
Die drei Stadtführer hatten mir vorhin nach dem Bahnhofsempfang eine besondere Sitzbank präsentiert. Hier kann man das Handy anstöpseln und auf Stadtkosten laden. Die Bank ist nur ein Projekt, das Gera, die werdende Smart City, die mit Bundesmitteln geförderte Modelstadt, in den vergangenen vier Jahren geplant und umgesetzt hat. Effizienz und Sicherheit sind die großen Ziele, ein in allen Lebenslagen leichterer Alltag. Auch bei akuter Akkunot.
Gera will den Alltag der Menschen in allen Lebenslagen verbessern
Vorhin war die Bank noch nicht geladen, die Sonne angeblich nicht stark genug und nur ein von zwei Anschlüssen kaputt. Die Stadtführer, ähm, nun ja, sprachen vom Vorführeffekt. Leider dauert er noch an.
Mit Pinzettenfingern ziehe ich eine schwergängige Minischublade heraus, quetsche das Kabel hinein und warte. Und warte. Und quetsche noch mal nach. Und puste alles durch. Und muss letztlich doch am Bahnhof fragen, wo man hier ein Handy aufladen kann.
Beim Bäcker, sagt der Kioskverkäufer, wenn Sie sich einen Kaffee kaufen. Vor dem Bahnhof, sagt eine Frau, da steht so eine Bank. Ich: Habe es versucht, geht nicht. Sie: Tja, willkommen in Gera. Wenigstens scheine die Sonne.
Okay, bevor wir die drei Stadtführer als engagierte Mitarbeiter der Stadtverwaltung enttarnen und am Ende beim Radler besprechen, was das von ihnen verantwortete Konzept der Smart City Gera – außer vollen Handyakkus – bedeuten könnte, spulen wir erst mal zurück in der Geschichte. Weil es wichtig ist zu wissen, wo die Stadt herkommt. Und woher vielleicht die notorische Unzufriedenheit der Leute.

Auf den ersten Blick hat Gera etwas mit dem Hamburger SV und Franziska Giffey gemeinsam: Die besten, die fetten Jahre scheinen vorbei zu sein, unwiederbringlich. Andererseits ist Gera eine von diesen kleinen Großstädten oder großen Kleinstädten, die eigentlich alles haben, was es so braucht: Kultur, Natur, Freiräume, günstige Mieten. Und trotzdem fehlt immer etwas. Manchmal ist es jemand.
Menschen etwa, die all die Löcher in den Straßen und Gehwegen stopfen oder noch den Mut aufbringen, eines der leer stehenden Geschäfte in der Innenstadt zu übernehmen. Vor allem in der zu bedenklichen Wortspielen einladenden Shoppingmeile mit dem Namen „Sorge“.
Manchmal fehlen auch Spielplätze oder Hausärzte. Und manchmal ist es nur das Licht in den Buswartehäuschen, weil die Stadt den auslaufenden Betreibervertrag nicht rechtzeitig verlängert hat. Dass man das als Energiesparmaßnahme verkaufen wollte, kam nicht gut an in der diesmal zu Recht nölenden Stadtgesellschaft. Im regelmäßigen „Heimatcheck“ der Ostthüringer Zeitung landet Gera regelmäßig auf dem letzten Platz, wenn es um Straßensicherheit oder Familienfreundlichkeit geht. Landesweit.
2014 war Gera pleite, das gab es noch nie in Deutschland
Zum Sparen ist Gera tatsächlich verdammt, nachdem der Schuldenberg vor ein paar Jahren die Höhe von 230 Millionen Euro erreicht hatte und die Stadt ihre Betriebe in die Insolvenz schicken musste, darunter den Nahverkehr und die Müllabfuhr. Das hatte es davor noch nie gegeben in Deutschland. Gab es seitdem auch nie wieder.
Wäre es da nicht smart in Zukunft, wenn etwa die Glascontainer erst dann geleert werden, wenn sie voll sind? Könnten Sensoren, die in Echtzeit den Füllstand messen, nicht beim Benzinsparen helfen?
Man muss den Menschen im entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über die Menschen zu wissen.
Vor mehr als einhundert Jahren, da war Gera noch die zweitreichste Stadt Deutschlands. Die Textilindustrie machte es möglich und die vielen Villen im Stadtbild zeugen bis heute davon. Hier gründete Oscar Tietz 1882 ein Geschäft, aus dem die Kaufhauskette Hertie hervorgehen sollte. Ein Jahr zuvor kam der berühmteste Künstlersohn der Stadt zur Welt, Otto Dix, ein Realist in Bild und Wort: „Man muss den Menschen im entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über die Menschen zu wissen.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis zur Wende wurde um Gera herum ein strahlender Schatz aus der Tiefe gehoben. Das Bergbauunternehmen Wismut war einer der größten Uranproduzenten der Welt, ein Staat im Staate, ein begehrter Arbeitgeber. Die anfänglich zwangsverpflichteten, später in der gesamten DDR angeworbenen Kumpel mussten kürzer auf Autos und Farbfernsehgeräte warten. Für sie gab es immer das Markenwaschmittel Spee und sechs bis acht Liter Schnaps im Monat, im Volksmund „Wismutfusel“ oder „Kumpeltod“ genannt. Die anderen tödlichen Risiken: Staublunge, Lungenkrebs.

Nicht die bürgerliche Universitätsstadt Jena, sondern der Industriestandort Gera wurde Bezirkshauptstadt, bekam ein Kultur- und Kongresszentrum (Kuk), die größte Veranstaltungshalle Ostthüringens. Die Reliefwand im Foyer trägt den klingenden Titel „Lied des Lebens“. Dass das Leben auf dem zentralen Platz davor nie so tobte, wie es die sozialistischen Bauherren geplant hatten, war das eine. Das andere war der große Aufschrei, als das KuK abgerissen werden sollte. Ein seltener Nachwendemoment, in dem sich die Leute hier einig waren.
Eine smarte Stadt würde die Bürger in die Stadtplanung einbinden, oder? Man sei schon dabei, erfahre ich.
Dieser Dienst Made in Gera würde auch in Berlin gut ankommen
Als Bezirkshauptstadtbonus erhielt Gera außerdem eine Schwimmhalle am Elsterufer, darin ein 50-Meter-Becken. Und wäre nicht auch das ein Smart-City-Move, wenn man vor dem Badesachenpacken wüsste, wie viele Menschen dort gerade ihre Bahnen ziehen und vielleicht, wie viele in der Sauna schwitzen, und irgendwann auch noch, wie lange die Wartezeiten am Einlass sind? Über so einen Informationsdienst Made in Gera würden sich sogar die Berliner Clubgänger freuen, die auf Telegram darum flehen, in die elitäre Wie-lang-ist-gerade-die-Schlange-vor-dem-Berghain-Gruppe aufgenommen zu werden.
Nach der Wende begann der wirtschaftliche Abstieg, der Bedeutungsverlust. Stadt, Land, Flucht – man kennt das im Osten. Gera zog sich in eine trotzige Opferrolle zurück, Demokratieskepsis kam dazu: die da oben, wir da unten. Und oben, da war nun Erfurt, die neue Landeshauptstadt, wo der ICE hält, obwohl eine Streckenführung durch Gera mehr Sinn ergeben hätte. Selbst Jena durfte neben den vielen Hochschülern auch noch Fachhochschüler begrüßen, obwohl doch Gera eine Verjüngung der Stadtgesellschaft oder überhaupt mal eine bedeutende Ansiedlung viel nötiger gehabt hätte.
Vielleicht kennt man Gera wegen der Bundesgartenschau 2007, einem sehr gelungenen Infrastrukturprojekt – aber sonst? Im Bewerbungsprozess um die Kulturhauptstadt Europas war die Stadt früh raus. 2025 gucken dann alle nach Chemnitz.

Als neulich ein Berliner Rechtsanwalt Millionär werden wollte, stellte ihm Günther Jauch erst mal die 32.000-Euro-Frage: „Drei der fünf einwohnerreichsten Städte welchen Bundeslandes enden auf a?“ Nun kann man darüber streiten, ob das Restdeutschland ignorierende Berlin oder ein mangelndes Ostinteresse der Justiz daran schuld waren, dass der Mann zwar Brandenburg ausschließen konnte, aber Thüringen, aber Gera? Was ist das? Wo liegt das? Wofür steht dieses Gera, das sich selbst die alle Realitäten verkennenden Titel „Einkaufsstadt“ und „Hochschulstadt“ gegeben hat und von einheimischen Neonazis als „Miteinanderstadt“ missbraucht wird? Auch die gehören zu Gera.
Als im vergangenen Oktober die zentralen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Erfurt stattfanden, wünschte sich die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas „weniger Wut und mehr Respekt, weniger Rechthaberei und mehr Neugier, weniger Vorurteile und mehr Empathie“. Bei der Gegenveranstaltung in Gera sagte ein Faschist: „Erfurt, das ist heute Phrasendrescherei und geheuchelter Patriotismus, Gera, das ist heute Klartext und ehrliche Vaterlandsliebe.“ Sagte Björn Höcke.
Der AfD-Landeschef kommt gern nach Gera, wo seine Partei die Unzufriedenheit der Menschen in Wahlsiege ummünzt und mit Abstand die stärkste Fraktion im Stadtrat stellt. Nur seine, die Thüringer AfD, stuft der Verfassungsschutz als erwiesen extremistisch ein.
„Ziel muss es sein, eine neue Zufriedenheit herzustellen“
„Gera gefällt mir“, stand trotzdem mal in der NIG, der von Flüchtlingen gemachten Zeitung Neu in Gera. Warum? „Weil sie eine ruhige, kleine Stadt ist. Kein Stau, kein Stress und es gibt viele Wohnungen. Mir ist aufgefallen, dass man in Gera wenige Geschäfte für Kleidung findet und am Abend sieht man keine Menschen mehr im Zentrum.“
An diesem Vormittag ist der Marktplatz gut gefüllt, beim „Grillteufel“ brutzeln die Würste, und jetzt, nach der Stadtführung, ist es auch egal, dass der bestellte Cappuccino fälschlicherweise als Radler auf dem Tisch landet. Rico Trost, der das Amt für zentrale Steuerung leitet, sagt über das Konzept Smart City: „Das ist die Chance, die wir haben.“ Und: „Viele kleine Bausteine bewirken eine Veränderung.“ Andreas Beer und Claudia Missling, die im Smart City Büro arbeiten, nicken. Sie ergänzt: „Ziel muss es sein, eine neue Zufriedenheit herzustellen.“
Smarte Handyladebänke, smarte Glascontainer, smarte Messungen von Feinstaub in der Luft, Wassermengen im Fluss, Besuchern im Park und im Schwimmbad – das alles gibt es bereits. Jeder kann die Werte online einsehen.
Auf nach Mytopia
Und es gibt noch ein innovatives Theaterprojekt, an dem das Publikum über eine App, Liveveranstaltungen und Social Media beteiligt werden soll. Im Juni ist Premiere. Ich müsse wiederkommen, es lohne sich. Aus der Mitte der Stadtgesellschaft soll dann ein fiktives Mytopia entstehen, in einem fiktiven Jahr 2121.
In dieser Zukunft wird es ein Wahrzeichen der Stadt wohl nicht mehr geben, eine über 500 Jahre alte Eiche. Der Baum steckt in der sogenannten Resignationsphase, er stirbt, nur noch ein paar Jahrzehnte hat er vor sich. Aber hey, was wäre das Leben ohne Hoffnung. Was eine Stadt ohne Menschen, die nicht aufgeben wollen. Und weil man das so selten macht: Prost auf die Stadtverwaltung.