„Shalom Rollberg“ – Eine Insel der Toleranz mitten in Neukölln
Das Projekt steht für Freundschaft und Respekt zwischen Juden und Migrantenkindern in einem Problemkiez in Berlin-Neukölln. Es ist ein Präventionsmodell gegen Antisemitismus, das auch andernorts Schule machen könnte.
Berlin-Neukölln-„Warum trägst du keine Kippa?“ Yonatan Weizman mag es sehr, wenn die Kids aus dem Rollberg-Kiez ihm diese Frage stellen, teils aus purer Neugierde, teils aus kindlicher Skepsis heraus, ob er wirklich ein Jude ist. Er selbst macht daraus kein Geheimnis, auch nicht aus seiner Herkunft, Israel. Das gehört schon zum Selbstverständnis von Shalom Rollberg, dem Projekt für interkulturelle Begegnung in einem sozialen Brennpunkt in Berlin-Neukölln, das ziemlich einmalig ist.

Die meisten Kinder hier kommen aus Migrantenfamilien mit arabischen oder türkischen Wurzeln. Die meisten Betreuer sind jüdische Israelis, die aus sozialem Engagement bei Shalom Rollberg mitmachen. „Wir glauben“, sagt Yonatan, ein verschmitzter Typ mit Zauselbart, der das Team der Ehrenamtlichen hauptberuflich koordiniert, „wir glauben, das Gegenteil von Hass ist, sich gegenseitig kennenzulernen.“
Ein Lerneffekt, der sich wie nebenbei einstellt, bei Spiel und Spaß. „Wir sagen nicht: Lernt mal Juden kennen“, erläutert der 38-Jährige das Konzept. „Wir geben Kurse in Kung Fu, Kunst, Yoga, Englisch und dazu Nachhilfe.“
Erwünschte Nebenwirkung: Man erfährt eine Menge voneinander. Zum Beispiel, wieso Yonatan, wenn er doch Jude ist, keine Kippa auf dem Kopf hat. „Schaut her“, gibt er dann den Fragestellern zurück, „manche Frauen hier tragen Kopftücher, andere nicht. Sind sie deshalb keine Musliminnen?“
Das Projekt möchte Vorurteile aufknacken
Mitunter versuchen die Kinder auch, ihn zu provozieren, geben vorgefertigte Meinungen zum Besten, die sie vermutlich daheim oder auf der Straße aufgeschnappt haben. Sätze wie „Israel existiert doch gar nicht“, oder „Du hast mein Land gestohlen“. Kann man auch darauf noch gelassen reagieren? Yonatan schon. „Belehren hilft nicht“, sagt er. Vielmehr gehe es darum, eigene Erfahrungen zu ermöglichen, um Vorurteile aufzuknacken. Von den Kids im Kiez hätten doch „kaum welche zu Hause etwas über Juden im positiven Kontext gehört“.
Schaut her, manche Frauen hier tragen Kopftücher, andere nicht. Sind sie deshalb keine Musliminnen?
Nicht von ungefähr steht die Rollbergsiedlung mit ihrem rekordträchtigen Anteil an Arbeitslosen und Ausländern im Ruf, eine No-go-Zone für Juden zu sein. Vor 1933 galt die Gegend zwischen Karl-Marx-Straße und Hermannstraße als kommunistisches Arbeiterviertel. In den sechziger Jahren wurden viele der alten heruntergekommenen Wohnblöcke durch Sozialbauten ersetzt.
Heute leben dort an die 6000 Bewohner aus über dreißig Nationen. Fast jeder zweite ist auf Hartz IV oder sonstige Hilfen zum Lebensunterhalt angewiesen. Vom hippen Charakter Neuköllns, der in den letzten Jahren auch viele Israelis angezogen hat, ist auf dem Rollberg, wo die Satellitenschüsseln aus den Balkonen sprießen und fremdsprachige Graffiti-Sprüche düstere Hauseingänge überwuchern, nichts zu spüren.
Es öffnen sich neue Horizonte – für alle Beteiligten
Hier hätte man am wenigsten erwartet, dass ein Projekt wie Shalom Rollberg gedeiht – und das seit nunmehr sieben Jahren. Damals, 2012, hielten es viele schon für ein Wagnis, das erstmals eine Israelin im Rahmen eines Austauschprogramms ein soziales Jahr im Stadtteilzentrum Morus 14 leisten wollte.
Dieser gemeinnützige Verein, benannt nach seiner ursprünglichen Adresse in der Morusstraße Nummer 14, kümmert sich um Schülerhilfe, Bildungsangebote für Erwachsene und nachbarschaftliche Integration. Niemand wusste, ob die Leute auch eine Israelin als Bezugsperson akzeptieren. Aber mit ihrer offenen Art fand sie schnell Zugang, vor allem zu den Frauen und Kindern. So entstand die Idee, „daraus was Größeres zu stricken“, berichtet Susanne Weiß, die Morus-Geschäftsführerin. Nicht zuletzt, um dem wachsenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen.
Das war der Beginn von Shalom Rollberg. Ein Name, der das hebräische Wort für Frieden mit einem Berliner Problemviertel verbindet. Und der für eine Initiative steht, von der beide Seiten profitieren. Den Kindern, die kostenlos gefördert werden, wie auch den derzeit 17 ehrenamtlichen Helfern, tun sich hier ungekannte Horizonte auf. „Gerade für die Israelis ist es spannend, bei uns in Kontakt mit Arabern zu kommen“, meint Weiß.
Wer am Ende erscheint, ist offen
Es ist Freitagnachmittag. Im Werkraum um die Ecke empfangen Yael, eine Israelin aus Tel Aviv, und Marco, ein Deutscher mit multireligiöser Verwandtschaft, die Rollberg-Kids, um mit ihnen zu basteln und zu malen. Yael und Marco heißen eigentlich anders, wollen aber lieber anonym bleiben.
Die Tür fliegt auf. Ein türkischstämmiges Elternpaar bringt die beiden Töchter vorbei, die neunjährige Kübra und ihre kleine Schwester Busra. „Sie wollten unbedingt kommen“, sagt der Vater lächelnd, „sie hatten letzte Woche so viel Spaß.“ Amina, ein palästinensisches Mädchen mit geflochtenem Zopf, ist schon da. Auf die anderen wird nicht länger gewartet. Eine Mitarbeiterin im Verein, „unsere Muezzina“, ruft zwar immer zwei Tage reihum in den Familien an, um an die Kurstermine zu erinnern. Aber wer am Ende erscheint, ist offen.
Los geht es mit einem Schnelldurchlauf. Jedes Kind zeichnet etwas auf die Tafel, die anderen raten, was das ist. Eine Pfütze? Nein, ein Spiegelei. Auf weniger Begeisterung stößt Marcos Vorschlag, Papierhäuschen zu falten, die aussehen wie eine Kirche, Moschee oder Synagoge.

Amina steckt lieber Styroporkugeln zu einem Schneemann zusammen, derweil Kübra mit Hingabe eine Ansichtskarte für ihren Opa malt. Da fällt ihr Blick auf den Schrank, wo sich hebräische Buchstaben aus Pappmache türmen. Ein umgekipptes Alef und ein Beth. „Kenn ich“, ruft Amina, „sind jüdische Buchstaben.“ Einen Rabbi habe sie auch schon gesehen, erzählt sie unbefangen. „So einen mit schwarzem Hut?“, fragt Yael, die Israelin. „Nein, mit weißem Schal“, klärt Amina sie auf.
Wie misst man den Erfolg des Projekts?
Inzwischen wird Shalom Rollberg als Modell gelobt, das auch andernorts Schule machen könnte. Als vorbildliches Projekt „für gelebte Vielfalt, Freundschaft und Respekt im Kiez“ zeichnete es die Nebenan.de-Stiftung in diesem Jahr mit dem dritten Platz bei der Vergabe des bundesweiten Nachbarschaftspreises aus.
Den Landessieg in Berlin hatte es schon zuvor geholt, alles in allem flossen 5000 Euro Preisgeld in die Vereinskasse. Bei der Ehrung im Festsaal Kreuzberg war auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey zugegen, die als ehemalige Bezirksbürgermeisterin von Neukölln den Einsatz von Shalom Rollberg in diesem konfliktreichen Kiez besonders schätzen dürfte.
Wieweit das Projekt ausstrahlt, lässt sich allerdings schwerlich bemessen. Ja, Fortschritte gebe es, sagt Yonatan Weizman, „aber immer nur in kleinen Dosen“. Und er erzählt von einem 16-jährigen Mädchen, das ihn einmal so vorstellte: „Er kommt aus Israel, aber er ist okay.“ Immerhin, schloss Yonatan daraus, „sie sieht mich als Mensch“.
Die Erfahrungen sind nicht immer positiv
Mit den Erwachsenen sei es schon eine andere Geschichte. „Manchmal frage ich mich“, sinniert Yonatan beim Kaffee im Vereinsbüro, „wie viele Eltern schicken ihre Kinder nicht zu uns, weil ich Jude bin?“
Nicht, dass er Angriffe fürchte. Die habe es auch nicht gegeben, sagt Yonatan, dumme Bemerkungen allerdings schon, wie die eines Vaters libanesisch-palästinensischer Herkunft, der nach sehr netter Begrüßung fallen ließ, „du bist hoffentlich kein Jude“. Klar, so etwas trifft ihn.

Andere Erfahrungen haben ihn ermutigt. Beim Besuch eines Sommerfestes hätten sich alle rührend um seine hochschwangere Frau gesorgt, ihr Essen gebracht und sich nach ihrem Wohlergehen erkundigt. „Dass ich selber eine Familie habe, hilft“, meint Yonatan.
Seit zehn Jahren leben er und Milena, die er als polnische Touristin in Jerusalem kennengelernt hatte, nun schon in Berlin. London wäre für beide eine Alternative gewesen. Aber als vor fünf Jahren Milo, ihr erstes Kind, geboren wurde, „verstand ich“, so Yonatan, „wir bleiben hier“. Zu Shalom Rollberg führte ihn schließlich ein Aushang „Mitarbeiter gesucht“, den er bei einem Spaziergang entdeckt hatte. „Wir wollten was Positives machen, und zwar hier. Neukölln, das ist mein Kiez.“
„Mit Fremdenhass wird keiner geboren“
Ein pausbäckiger Junge mit schwarzem Haarschopf schaut auf dem Heimweg von der Schule rein. Er will wissen, ob Yonatan nach der Babypause nun wieder voll mitmacht. Und natürlich hat Yonatan ein paar extra Minuten für ihn. Er kennt den Buben noch aus dem Unterricht in der Rollberger Regenbogenschule, wo er einmal pro Woche den Viertklässlern das Judentum erklärt. Dinge wie: Woran glauben Juden? Woher kommen sie? Was sind ihre Feiertage? Auf ihrem Stundenplan steht dann „Priil“, eine Abkürzung für „Projekt Regenbogenschule für interkulturelles und interreligiöses Lernen“.
Die Klassen wechseln im Zwei-Monats-Turnus, so dass die Experten für Christentum, Islam und humanistische Weltanschauung ebenfalls drankommen. Aber die Schüler scheinen mit Yonatan, der sie auf einen Ausflug in die Synagoge mitnimmt und ihnen beibringt, ihren Namen in hebräischer Schrift zu schreiben, eine besonders gute Zeit zu haben. „War echt schön“, bestätigt der schwarzhaarige Junge und verabschiedet sich. „Bis nächste Woche dann.“
Mit den Kindern ist es einfach. „Mit Fremdenhass wird keiner geboren, den müssen sie lernen“, sagt Yonatan. Shalom Rollberg ist der Gegenentwurf: „Lasst uns miteinander leben. Fremdenhass ist schlecht für uns alle.“ Nicht, dass er sich Illusionen hingibt. Angesichts der antisemitischen Hasstiraden im Internet und dessen, was sich sonst so alles „an blöden Ideen über YouTube“ verbreite, „ist die Wirkung unserer Arbeit begrenzt“.
Seit dem Anschlag eines Rechtsradikalen auf die Synagoge in Halle im vergangenen Herbst treibt ihn noch ein anderer Gedanke um. „Ich glaube, unser Projekt wäre dringend nötig im deutschen Osten.“