Berliner Skandalwahl: Corona-Regeln waren wichtiger als Wahlablauf
Berliner Staatssekretärin gibt den Wahlhelfern die Schuld am Chaos. Doch die wurden vorher vor allem in Corona-Regeln geschult, berichtet ein Polit-Profi.

Die Wahlen im September in Berlin mussten schiefgehen. Es war ein Desaster mit Ansage. Davon ist Marcus Held überzeugt, der in seinem Bezirk Steglitz-Zehlendorf eigentlich als ehrenamtlicher Wahlhelfer arbeiten wollte – und wegen der Probleme, die er ahnte, davon absah. Seine Prognose stellte sich als richtig heraus: Am 26. September 2021 ist in Berlin so viel schiefgelaufen, dass der Bundeswahlleiter eine Wiederholung der Wahl in der Hälfte der Berliner Bezirke fordert.
Marcus Held, ein 44-jähriger Jurist, saß vor der Wahl für die SPD im Bundestag. Vor seiner Zeit als Abgeordneter war er 14 Jahre Bürgermeister von Oppenheim in Rheinland-Pfalz und organisierte selbst mehrere Wahlen. In Rheinland-Pfalz ist es üblich, dass Bürgermeister die Funktion des Wahlleiters übernehmen. Held schulte nach eigener Aussage dort auch Wahlhelfer.
„In der Hälfte der Zeit ging es um Corona“
Nun wollte er seine Erfahrungen in Berlin einbringen und meldete sich als Ehrenamtlicher. Dazu war es nötig, dass er selbst an Wahlhelfer-Schulungen teilnahm. Insgesamt etwa 21.000 Menschen, die bei den Wahlen helfen wollten, wurden in den Wochen vor dem 26. September in allen Berliner Bezirken über ihre Rechte und Pflichten aufgeklärt – jedenfalls mehr oder weniger.
Nach zwei Schulungen im Gebäude der Freien Universität in Dahlem hat Marcus Held seinen Einsatz im Wahllokal frustriert wieder abgesagt.
In den Schulungen habe der Fokus vor allem auf dem Thema Pandemie gelegen, beschreibt Held. „In der Hälfte der Zeit ging es um die Corona-Regeln, wie man sich verhalten soll, wenn einer seine Maske nicht richtig trägt. Wann man die Polizei rufen soll, wenn man es mit einem Maskenverweigerer zu tun hat.“
Am Dienstag schob die Parlamentarische Staatsekretärin im Bundesbauministerium, Cansel Kiziltepe, im Tagesspiegel die Schuld an den Wahlfehlern indirekt auf die vielen ehrenamtlichen Wahlhelfer.
Frau Kiziltepe versucht allen Ernstes das Desaster der Wahl in Berlin und dessen mögliche Neuwahl auf die Wahlhelferinnen zu schieben. Wow. Ganz großes Kino. pic.twitter.com/o0wZMcmXQ5
— Clara *Optimismusbeauftragte* Nathusius (@CNathusius) May 24, 2022
„Die Wahlen werden von den Bürgerinnen in Selbstorganisation durchgeführt. Somit bilden die Wahlhelferinnen das Fundament der Organisation der politischen Beteiligung“, sagte die Vorsitzende der Berliner SPD-Landesgruppe im Deutschen Bundestag. Die „Schwierigkeiten“ bei der Wahl dürften nicht parteipolitisch instrumentalisiert werden.
„Frau Kiziltepe weiß nicht, wovon sie spricht“
„Ich würde Frau Kiziltepe gern fragen, ob sie schon mal als ehrenamtliche Helferin an einer Wahl teilgenommen hat“, sagt Marcus Held dazu. „Sie weiß offenbar überhaupt nicht, wovon sie spricht.“
Berlin hat die Ehrenamtlichen offenbar nicht ausreichend auf ihre große Aufgabe am Wahltag vorbereitet. Darauf deuten die Schilderungen von Polit-Profi Marcus Held hin. „Bei einer Schulung geht man normalerweise so einen Wahltag und die anschließende Stimmenzählung durch“, sagt er. So kennt er es aus seiner Zeit als Wahlleiter. Aber diese Dinge seien in Berlin nur „im Eiltempo durchgehechelt“ worden.
Bei Fragen – und die Leute hätten viele Fragen gehabt – sei auf das gedruckte Schulungsmaterial verwiesen worden. „Da habe ich zu meiner Frau gesagt: Das kann nur schiefgehen.“
Mit den Schulungen habe man den Leuten keinerlei Sicherheit gegeben, sagt Marcus Held. „Eigentlich merke ich schon morgens um acht, dass falsche Stimmzettel da sind. Aber das wurde nicht bemerkt – auch, weil viele sicherlich nicht wussten, welche Namen überhaupt zur Wahl standen.“

Marcus Held und seine Frau gingen am 26. September wählen und stellten sich in ihrem Wahllokal in einer Schule an. Die Schlange habe sich um den halben Schulhof gezogen, sagt er. Hier gab es – wie in so vielen Berliner Wahllokalen – zu wenige Wahlkabinen. Held ging nach vorn zum Wahlvorsteher. Ein sehr netter Mann, der das zum ersten Mal gemacht habe.
„Ich fragte ihn, ob der Hausmeister nicht noch ein paar Tische und entsprechenden Sichtschutz dafür auftreiben könne und sagte zu ihm: Ob Sie drei oder sieben Kabinen aufstellen, das ist Ihre Entscheidung als Wahlvorstand. Das wusste er gar nicht, das wurde in den Schulungen überhaupt nicht vermittelt.“
Hausmeister baute Tische zu Wahlkabinen um
Der Wahlleiter hatte offensichtlich nicht gewusst, dass Ehrenamtliche auch selbst Verantwortung übernehmen können und im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten Gestaltungsspielraum haben. Nach Helds Hinweis habe er den Hausmeister kommen lassen, der weitere Tische zu Wahlkabinen umbaute.
Um 18.45 Uhr seien zwei Wahllokale noch immer offen gewesen, erinnert sich Held. Beim Auszählen der Stimmen seien die Helfer unsicher gewesen. Sie hätten nur einen Leitfaden in der Hand gehabt und versucht, daraus zu interpretieren, wie man Stimmzettel korrekt auszählt. Dankbar hätten sie seine Hilfe angenommen, sagt er.
„Es macht mich fassungslos, wie man Ehrenamtliche so im Regen stehen lassen kann“, sagt er. „Wäre ich als Bürgermeister so mit dem Ehrenamt umgegangen, dann hätte ich meinen Hut nehmen können!“ Und er ist überzeugt: „Künftig wird es noch viel schwerer sein, für Wahlen ehrenamtliche Helfer zu bekommen.“