Sozialheldin: „Die Inklusion hat in der Pandemie eine Rolle rückwärts gemacht“

Menschen mit Behinderungen werden während der Covid-Krise noch stärker als in der Vergangenheit benachteiligt. Sie fühlen sich vergessen.

Anne Gersdorff arbeitet im Verein Sozialhelden in Berlin. Für sie und viele weitere Menschen mit Behinderung ist das Coronavirus eine große Gefahr.
Anne Gersdorff arbeitet im Verein Sozialhelden in Berlin. Für sie und viele weitere Menschen mit Behinderung ist das Coronavirus eine große Gefahr.Volkmar Otto

Berlin-Anne Gersdorff führt normalerweise ein inklusives Leben. Sie besucht Konzerte, geht oft ins Kino und reist gerne. Jetzt aber, in der Corona-Krise, fühlt sie sich vergessen, unsichtbar – so wie zahlreiche weitere Menschen mit Behinderungen. Sie werde noch stärker als in der Vergangenheit benachteiligt, sagt Gersdorff. „Die Inklusion hat in der Pandemie eine Rolle rückwärts gemacht.“

Anne Gersdorff, 35 Jahre alt, sitzt an diesem Wintertag mit Mütze und Schal in ihrem Rollstuhl. Ein Treffen ist nur draußen möglich, Gersdorff zählt zu den Risikopatienten. „Für viele behinderte Menschen ist Corona eine extreme Gefahr – das wird oft vergessen“, sagt Gersdorff. In den Medien werde vor allem über Senioren gesprochen. „Aber es geht auch um mich, um die Menschen mit Behinderungen.“ Ihre Assistenten, die sie pflegen und ihr ein selbst bestimmtes Leben ermöglichen, hätten beispielsweise keinen Anspruch auf Schnelltests, berichtet sie. Auch einen Corona-Zuschlag erhielten sie nicht. „Die Situation der behinderten Menschen und des Assistenzpersonals wird einfach nicht mitgedacht“, sagt Gersdorff.

Anne Gersdorff arbeitet im Homeoffice, sie ist Referentin bei Sozialhelden, einem Verein, der sich für mehr Teilhabe und Barrierefreiheit einsetzt. Dort unterstützt sie Menschen und Unternehmen bei der Umsetzung von Inklusion im Bereich Arbeit. „Ich selbst habe eine Wohnung, feste Personen, die mich pflegen, und eine Arbeit – ich habe Glück“, sagt Gersdorff. Anders sehe es bei den Menschen aus, die in Wohnheimen leben und tagsüber in Behindertenwerkstätten arbeiten. Viele dieser Werkstätten seien jetzt geschlossen, in den Heimen gebe es nicht genug Personal, um die Menschen zu beschäftigen. „Ihnen fehlt ein fester Rhythmus. Sie kommen oft nicht gut mit Veränderungen klar“, sagt Gersdorff.

Sorge vor psychischen Folgen

Bewohner in Heimen verstünden oft nicht, warum sie in diesen Wochen keinen oder weniger Besuch bekommen, berichtet Barbara Eschen, Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg. Das belaste die Menschen. „Wir haben große Sorge, dass die psychischen Folgen der Pandemie zu wenig beachtet werden.“ Die behinderten Menschen erlebten während der Pandemie täglich, wie Selbstbestimmung und Teilhabe erheblich eingeschränkt würden. Trotz der komplizierten Lage brauche es mehr Anstrengungen beim Thema Inklusion.

Behinderte Menschen sollten überall dort arbeiten können, wo auch andere arbeiten – nicht nur in Werkstätten. Für dieses Ziel setzt sich Anne Gersdorff ein. Momentan ist es jedoch in die Ferne rückt. „Der Wirtschaft geht es schlecht. Viele Unternehmen werden in Zukunft noch weniger als sonst Menschen mit Behinderungen einstellen“, meint Gersdorff. Ihre Prognose bestätigen die Zahlen einer aktuellen Studie der Aktion Mensch. Demnach gibt es in diesem Jahr einen erheblichen coronabedingten Anstieg der Arbeitslosenzahlen von Menschen mit Behinderungen. Im Oktober 2020 waren in Deutschland 13 Prozent mehr Menschen mit Schwerbehinderung arbeitslos als zur selben Zeit im Vorjahr. Damit sind derzeit 173.709 Menschen mit Behinderung ohne Arbeit – der höchste Wert seit 2016.

Die aktuelle Situation für behinderte Menschen bereitet auch Ulrika Haase vom Netzwerk behinderter Frauen in Berlin große Sorgen. Haase ist sehbehindert und berät bereits seit acht Jahren behinderte Frauen in Berlin. Wie Gersdorff fordert Haase: Menschen mit Behinderungen müssen in der Krise und im Alltag mitgedacht werden.

Diskussion über Triage sei beängstigend

In diesen Wochen bekommt Ulrika Haase vermehrt Anrufe von Frauen, die sich einsam und diskriminiert fühlen. „Viele finden die Entscheidungen, die in der Pandemie getroffen werden, bedenklich“, sagt sie. Besonders erschreckend sei für viele Behinderte die Triage. Es werde zwischen lebenswerten und nicht lebenswerten Leben entschieden. „Das ist äußerst beängstigend für viele behinderte Menschen – auch für mich“, sagt Haase.

Nicht nur Erwachsene, sondern auch viele Kinder mit Behinderungen werden in der Pandemie stark benachteiligt. Der Lehrerverband Bildung und Erziehung (VBE) hat im September und Oktober 2127 Lehrerinnen und Lehrer deutschlandweit zum Thema Inklusion befragt. 74 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass die coronabedingten Einschränkungen zu einem Rückschritt bei der Inklusion geführt haben.

Andrea Häfele kann diese Einschätzung nur bestätigen. Die Mutter eines 14-jährigen Sohnes mit Downsyndrom arbeitet für den Verein Eltern beraten Eltern in Berlin, er unterstützt Eltern mit behinderten Kindern. Schon vor dem Beginn der Pandemie ging es laut Häfele mit der Inklusion in den Schulen nur schleppend voran: zu wenig Fachpersonal, keine Krankenschwestern, zu wenig Finanzierung.

Nun gebe es behinderte Kinder, die zur Risikogruppe gehören, berichtet Häfele, die seit März nicht mehr in der Schule gewesen sind. Das hat bedrückende Folgen: „Die Kinder fühlen sich vergessen.“ Und auch an die Familien werde nicht gedacht. Viele Eltern fänden überhaupt kein Gehör und machten sich Sorgen um die Zukunft. Darunter seien beispielsweise Eltern, die freiberuflich arbeiten. Sie kämpfen darum, dass die Kinder in irgendeiner Form unterrichtet werden, damit sie selbst wiederum ihrem Beruf nachgehen können. Außerdem: „Kinder brauchen Kinder“, so Häfele. Ihr eigener Sohn dürfe zwar weiter zur Förderschule gehen. Generell aber gelte: „Die Inklusion geht seit Jahren viel zu langsam voran. Die Pandemie verlangsamt den Prozess nur noch mehr – das bereitet uns Eltern große Sorgen.“