SPD-Fraktionsklausur: Die Rollenverteilung zwischen Michael Müller und Raed Saleh ist nach wie vor ungeklärt
Der große schwarze Aktenkoffer, den Michael Müller in den schmucklosen Konferenzsaal trägt, sieht fast so aus wie der eines Arztes vom Bereitschaftsdienst. Drinnen sind zwar keine Medikamente, sondern nur Papiere, Akten, Tabellen, Ordner. Aber der Zweck ist ähnlich, schließlich will Müller, der Regierende Bürgermeister, die Hauptstadt gesünder und stärker machen, an einigen Stellen sogar überhaupt erst einmal funktionsfähig.
Am Wochenende, auf einer Klausurtagung aller Berliner SPD-Parlamentarier und ihrer fünf Senatsmitglieder in Erfurt, bemühten sich die Sozialdemokraten um einen Neustart – nach den zermürbenden Wochen der Holm-Krise, die der rot-rot-grünen Koalition einen ersten handfesten Streit bescherte. „Wir müssen jetzt endlich mal unsere Arbeit machen“, schärfte Müller daher den Genossen ein.
Ein Mann des Volkes?
Einer von ihnen dürfte dies persönlich genommen haben: Raed Saleh, der Fraktionsvorsitzende. Und so war es wohl auch gemeint. Zwischen Saleh und Müller – den beiden SPD-Spitzenkräften der Koalition – ist die Rollenverteilung sowie auch das Maß des Vertrauens füreinander nach wie vor ungeklärt. Das zeigte sich zuletzt vor zehn Tagen, als Saleh im Abgeordnetenhaus eine scharfe Rede zur Sicherheitspolitik hielt, mehr Videoüberwachung und mehr Abschiebungen forderte und davon sprach, dass straffällige Ausländer ihr „Gastrecht“ verwirkt hätten.
Die Forderungen unterschieden sich kaum von dem, was etwa die SPD-Bundesebene will. Doch für das Linksbündnis Rot-Rot-Grün war dies ein problematischer Auftritt. Saleh bekam viel Applaus von AfD und CDU – aber keinen von den Koalitionspartnern Grünen und Linken, mit denen die SPD gerade erst ein Kompromisspaket zur Sicherheit vereinbart hatte. Und statt den ohnehin schwierigen Start von Rot-Rot-Grün mit seiner Rede zu stützen oder Müller mal zu loben, schien es, als wollte Saleh sich auf Kosten des Bündnisses populistisch profilieren – als Mann des Volkes, der sagt, was die Leute denken.
Einen Streit kann gerade niemand gebrauchen
Tatsächlich ist dies ein wichtiges Thema für den 39-jährigen ehrgeizigen Fraktionschef, der vor gut zwei Jahren mithilfe der SPD-Basis Regierender Bürgermeister werden wollte und an Michael Müller scheiterte. Sein Verhältnis zur Partei hat sich seitdem geändert: In Interviews und Essays kritisiert Saleh gern, in der Pose des Visionärs, das aus seiner Sicht allzu Staatstragende der SPD, die Abgehobenheit der Funktionäre, den Kontaktverlust zu den kleinen Leuten, die zur AfD abzuwandern drohen. Der Sohn eines arabischen Gastarbeiters aus dem Westjordanland, aufgewachsen mit acht Geschwistern in kleinsten Verhältnissen in Spandau, zeigt sich als Kümmerer, Händeschüttler, Menschenfischer, als einer, der die Sorgen der Abgehängten versteht, die einen bequemen Dienstwagen nur von außen kennen. Dabei hat Saleh, der Aufsteiger, selbst einen.
Salehs Rede hatte Folgen. Nicht nur die kleineren Koalitionspartner waren verstört, warum die Nummer 1 B der Sozialdemokraten lieber die AfD begeistert als Rot-Rot-Grün. Auch die eigenen Genossen kritisierten ihn wie selten zuvor, im Parteivorstand, in der Fraktion. Saleh verteidigte sich anfangs, verwies auf positive Reaktionen „von außen“, zog das Wort vom Gastrecht dann aber zurück und beteuerte intern, eine solche Rede nicht mehr halten zu wollen. Das glauben ihm allerdings nicht alle.
In Erfurt, im zugigen Tagungssaal eines Innenstadt-Hotels, bemühten sich Müller und Saleh am Wochenende sichtbar um versöhnliche Gesten. Saleh hieß den Senatschef willkommen „in Deiner SPD-Fraktion“. Man klopfte sich auf die Schulter, plauderte, scherzte, lächelte. Jenseits von Kameras und Publikum zogen sich Müller und Saleh am Sonnabend zurück, um die kommenden Wochen zu besprechen. Denn einen lähmenden Streit der wichtigsten Partei-Protagonisten kann niemand gebrauchen.
Keine Konkurrenz für Saleh
Doch die klaren Verhältnisse der vergangenen Jahre sind vorbei. Weder die Müller-Anhänger noch die Treuen von Saleh können eine eigene Mehrheit unter den 38 Genossinnen und Genossen mobilisieren, die ihnen blind folgen würde. Einige legen besonderen Wert darauf, keiner Seite zugeschlagen zu werden. „Es ist so ganz gut ausbalanciert“, sagt ein Mitglied. Jemand anderes rechnet vor: Es gibt eine Mehrheit derer, die Müller unterstützen wollen – weil sie wollen, dass Rot-Rot-Grün funktioniert. Aber es gibt keine Mehrheit gegen Saleh. Und schon gar niemanden, der ihm ernsthafte Konkurrenz machen könnte.
Der Regierende scheint dennoch allmählich Tritt zu fassen als Chef einer komplizierten Koalition, die sich jetzt erst, vier Monate nach der Wahl, wirklich ans Arbeiten macht. Auf der Klausurtagung stellten die Senatoren ihre Pläne für Schulen, Gesundheit, Sicherheit und Finanzen vor. Müller – heftig erkältet, aber entspannt im Freizeitdress mit Jeans und Pullover – lobte erste Erfolge bei den Bürgerämtern, in der Flüchtlingsunterbringung, beim Sicherheitspaket. „Sozialdemokratie macht Arbeit“, sagte Saleh. Die SPD wolle die Führungsrolle in der Koalition übernehmen – und jetzt endlich „durchstarten“.