Spiking im Nachtleben: Die neue Gefahr für Frauen

In Berlin ist eine Musikerin im Berghain offenbar Opfer einer Spiking-Attacke geworden. Das Problem kennt man besonders in Großbritannien. Ein Archiv-Text.

Endlich kann man in Großbritanniens Clubs wieder feiern. Doch Frauen fühlen sich zunehmend unsicher.
Endlich kann man in Großbritanniens Clubs wieder feiern. Doch Frauen fühlen sich zunehmend unsicher.Imago

London/Berlin-Die Aussagen der Frauen sind erschreckend. Und sie verstören, weil sie einen Alptraum schildern: Unbemerkt wird man dort außer Gefecht gesetzt, wo man eigentlich nur mal ausgelassen feiern will. Sogenannte K.o.-Tropfen oder andere Drogen machen das Opfer willenlos und lassen es zur leichten Beute der Täter werden.

In Berlin ist es im Mai zu einem Spiking-Vorfall im Techno-Club Berghain gekommen. Das ist zumindest die Vermutung einer Musikerin, die während einer Clubnacht ohnmächtig geworden ist. Alison Lewis hat den Ablauf mit der Berliner Zeitung geteilt. Im November 2021 hat unsere Redaktion über Spiking-Vorfälle in London berichtet. Aus gegebenem Anlass stellen wir den Text nochmals zur Verfügung.

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In Großbritannien spricht man von „Spiking“, wenn Betäubungsmittel in den Drink gemischt werden. Derzeit sorgt eine neue Form, das sogenannte Needle Spiking für Verunsicherung, bei denen den Opfern sedierende Substanzen mit einem Nadelstich in den Körper injiziert werden. Das Nachtleben, das nach langen Corona-Monaten gerade erst wieder an Fahrt aufgenommen hat, steht dabei im Fokus der Täter. Die britische Polizei registrierte im September und Oktober landesweit 198 Vorfälle mit Getränken und 56 Berichte über Spiking durch Injektionen. Zu den Übergriffen kam es sowohl in Clubs als auch bei privaten Feiern, die Opfer waren vor allem junge Frauen.

Die Berichte häuften sich besonders in Nottinghamshire, wo die Polizei in weniger als einem Monat 15 verschiedene Vorfälle untersuchte, in denen junge Frauen und Männer mit „etwas Scharfem“ gestochen wurden. An den Wochenenden werden in der Grafschaft im mittleren England inzwischen Kontrollen durchgeführt. 

Gewalt gegen Frauen: In Großbritannien formiert sich immer stärker werdender Protest.
Gewalt gegen Frauen: In Großbritannien formiert sich immer stärker werdender Protest.AFP/Tolga Akmen

„Wir wollen in einer sicheren Umgebung ausgehen“

Die Britinnen, ohnehin aufgeschreckt durch die grausamen Morde an den Londonerinnen Sarah Everard und Sabina Nessa, setzen sich zur Wehr. Sie starten Kampagnen, Demonstrationen und Petitionen. Und sie schildern ihre Erlebnisse: Mia Davson, Studentin an der Loughborough University, berichtete der BBC von einer Feier mit ihrem Cheerleader-Team. Die 20-Jährige hatte beschlossen, nicht viel zu trinken und genoss ihren Abend, bis sie sich plötzlich unwohl fühlte. Sie wandte sich noch hilfesuchend an ihren Freund, bevor sie zusammenbrach.

„Ich war etwa eine Stunde lang außer Gefecht und gar nicht ansprechbar“, sagte Davson. Sie glaubt, dass sie ein Spiking-Opfer wurde und fühlt sich seitdem unsicher, wenn sie ausgeht. Die 19-jährige Helen Lavery erzählte dem Sender von einem Ausgehabend, an dem Mädchen ihre Arme festhielten, um nicht gestochen zu werden. Lavery und Davson engagieren sich bei der „Girls Night In“-Kampagne, die derzeit an rund 50 Orten Unterstützer hat, darunter London, Edinburgh, Leeds, Bath, Liverpool und Bristol.

Die Kampagne hat mit ihrem Vorschlag, dass Frauen zu Hause bleiben sollten, anstatt auszugehen, auch Kritik auf sich gezogen. Die Mitglieder organisieren sich über WhatsApp-Gruppen und verstehen, dass die Ermutigung von Frauen, zu Hause zu bleiben, zunächst wie ein Widerspruch erscheine. Man wolle jedoch Clubbesitzern damit signalisieren, dass sie die Sicherheit ihrer Gäste besser gewährleisten müssten. „Wir wollen wieder raus“, sagte die Studentin Ally Valero, die den Nachtleben-Boykott in Nottingham ins Leben rief. „Aber wir wollen in einer sichereren Umgebung ausgehen.“

Seit vergangener Woche hat sich der öffentliche Druck auf Veranstalter und Sicherheitsbehörden nochmals erhöht. In mehr als 40 Universitätsstädten, von St. Andrews in Schottland bis Brighton an der Südküste Englands, kam es zu wütenden Demonstrationen. Die 21-jährige Lucy Nichols, die den Protest in Manchester vor mindestens 1000 jungen Menschen eröffnete, sprach von einer Notsituation und von einer regelrechten Spiking-Epidemie: „Jede einzelne Frau hier wird eine Geschichte über sie oder eine ihrer Freundinnen haben, die gespikt wurden.“

Der Ort der Demonstration ist nicht zufällig gewählt: In Manchester steht derzeit ein 29-Jähriger vor Gericht, der im September eine junge Frau mit Tropfen bewusstlos gemacht und anschließend vergewaltigt haben soll. Der Mann steht im Verdacht, seinem Opfer zunächst in einem Club etwas in den Drink gekippt und sie später auf dem Nachhauseweg angegriffen zu haben.

Angesichts der zunehmenden Spiking-Vorfälle in Großbritannien hat die 24-jährige Hannah Thomson aus Glasgow eine Petition gestartet. Darin fordert sie von der Regierung eine gesetzliche Vorschrift, nach der die Gäste durchsucht werden sollen, bevor sie einen Nachtclub betreten. Die Petition haben bereits mehr als 170.000 Menschen unterschrieben. „Die Resonanz ist so viel größer, als ich gedacht hätte“, sagt Thomson. Die Kontrollen könnten ihrer Meinung nach mit Metalldetektoren oder durch Abtasten durchgeführt werden. „Lieber werde ich abgetastet, als eine Nadel in den Rücken zu bekommen.“

Berlin: 279 „K.o.-Wirkstoff-Taten“ in den Jahren 2019 und 2020

Sorgen, dass man in Clubs und Bars heimlich mit Drogen sediert wird, sind seit langem ein Thema – auch in Deutschland und in Berlin. Zahlenmaterial aus der Hauptstadt ist schwer zu bekommen, aber zumindest lässt sich in der Polizeidatenbank gezielt nach Begriffen wie „Liquid Ecstasy“ (GHB), K.o.-Tropfen, Ketamin oder Rohypnol im Zusammenhang mit Strafanzeigen suchen. In der Auswertung zeigt sich, dass es in den Jahren 2012 und 2013 jeweils um die 150 Straftaten gab, bei denen die genannten Mittel zur Anwendung gekommen sind. Bis 2016 folgte ein leichter Abfall, danach stiegen die Zahlen wieder. Für das Jahr 2018 spuckte die Suche 230 Taten aus, 2019 waren es 118 und 2020 dann 161 Taten. Im ersten Quartal dieses Jahres wurden laut Polizei bereits 110 Straftaten verzeichnet.

Von den insgesamt 279 „K.o.-Wirkstoff-Taten“ der Jahre 2019 und 2020 sind laut einer Antwort der Senatsinnenverwaltung auf eine parlamentarische Anfrage 100 Taten Opferdelikte wie beispielsweise Körperverletzungen, Raubtaten sowie Sexualdelikte. Davon fanden 20 Taten in Bars und Kneipen statt und ebenso viele in Diskotheken.

Das sagen Experten aus Berlin

Fälle von Nadelinjektionen sind in der Hauptstadt indes noch nicht bekannt geworden, sagen sowohl Polizei als auch Rüdiger Schmolke von Sonar, einem Kooperationsprojekt der Berliner Präventions- und Suchthilfeprojekte. Und auch, wie oft Spiking vorkomme, wisse man nicht. „Es wird uns in unregelmäßigen Abständen immer wieder von Fällen berichtet, in denen Gäste im Berliner Clubleben plötzlich eine stark sedierende Wirkung verspürten, ohne dass sie vorher bewusst psychoaktive Substanzen eingenommen hatten.“ Ob dies tatsächlich auf Spiking zurückzuführen sei, bleibe meist unklar. Allerdings sei das Problembewusstsein in der hauptstädtischen Partyszene sehr hoch.

„Wir thematisieren die K.o.-Tropfen-Thematik regelmäßig auf unseren Schulungen für Clubbetreiber und Mitarbeiter“, sagt Schmolke. So achte das Barpersonal und die Security darauf, dass stark betäubt wirkende Personen vor Verlassen des Clubs angesprochen und zur Beziehung zu ihrer Begleitperson befragt werden. Es gebe auch immer wieder Hinweise, Drinks nicht unbeaufsichtigt herumstehen zu lassen.

Die Berliner Clubcommission sieht derzeit weniger das unbewusste Verabreichen von Substanzen als größte Herausforderung, sondern die zunehmende Popularität von GHB in bestimmten Szenen. „Wir sprechen von Clubs als Safer Spaces. Gleichzeitig beobachten wir, dass sich eine Droge verbreitet, die häufig überdosiert wird, besonders hohes Suchtpotenzial aufweist und Risiken, die von Konsumenten häufig unterschätzt werden“, heißt es in einem aktuellen Statement des Verbands. Man spreche sich daher dezidiert gegen den Konsum von GHB in Clubs und bei Veranstaltungen aus.

Dazu passt auch eine aktuelle Plakatkampagne und Social-Media-Aktion für GHB-freie Clubs, initiiert vom Suicide Club in Friedrichshain. Dort war im August eine junge Irin nach einer Clubnacht gestorben. Ursache war vermutlich GHB – eine Droge, bei der nur wenige Milliliter den Unterschied zwischen Rausch und Überdosierung ausmachen.